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Ueber
das metaphysische Bedürfniß des Menschen.
Den Menschen ausgenommen, wundert sich kein Wesen über sein eigenes Daseyn;
sondern ihnen Allen versteht dasselbe sich so sehr von selbst, daß sie
es nicht bemerken. Aus der Ruhe des Blickes der Thiere spricht noch die
Weisheit der Natur; weil in ihnen der Wille und der Intellekt noch nicht
weit genug auseinandergetreten sind, um bei ihrem Wiederbegegnen sich
über einander verwundern zu können. So hängt hier die ganze Erscheinung
noch fest am Stamme der Natur, dem sie entsprossen, und ist der unbewußten
Allwissenheit der großen Mutter theilhaft. — Erst nachdem das innere
Wesen der Natur (der Wille zum Leben in seiner Objektivation) sich durch
die beiden Reiche der bewußtlosen Wesen und dann durch die lange und
breite Reihe der Thiere, rüstig und wohlgemuth, gesteigert hat, gelangt
es endlich, beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, zum ersten Male
zur Besinnung: dann wundert es sich über seine eigenen Werke und frägt
sich, was es selbst sei. Seine Verwunderung ist aber um so ernstlicher,
als es hier zum ersten Male mit Bewußtseyn dem Tode gegenübersteht,
und neben der Endlichkeit alles Daseyns auch die Vergeblichkeit alles
Strebens sich ihm mehr oder minder aufdringt. Mit dieser Besinnung und
dieser Verwunderung entsteht daher das dem Menschen allein eigene Bedürfniß
einer Metaphysik: er ist sonach ein animal metaphysicum. Im Anfang seines
Bewußtseyns freilich nimmt auch er sich als Etwas, das sich von selbst
versteht. Aber dies währt nicht lange; sondern sehr früh, zugleich mit
der ersten Reflexion, tritt schon diejenige Verwunderung ein, welche dereinst
Mutter der Metaphysik werden soll. — Diesem gemäß sagt auch Aristoteles
im Eingang seiner Metaphysik: Δια γαρ το ϑαυμαξειν οί
ανϑρωποι και νυν και το πρωτον ηρξαντο
φιλοσοφειν. (Propter admirationem enim et nunc et primo inceperunt
homines philosophari.) Auch besteht die eigentliche philosophische Anlage
zunächst darin, daß man über das Gewöhnliche und Alltägliche sich
zu verwundern fähig ist, wodurch man eben veranlaßt wird, das Allgemeine
der Erscheinung zu seinem Problem zu machen; während die Forscher in
den Realwissenschaften sich nur über ausgesuchte und seltene Erscheinungen
verwundern, und ihr Problem bloß ist, diese auf bekanntere zurückzuführen.
Je niedriger ein Mensch in intellektueller Hinsicht steht, desto weniger
Räthselhaftes hat für ihn das Daseyn selbst: ihm scheint vielmehr sich
Alles, wie es ist, und daß es sei, von selbst zu verstehen. Dies beruht
darauf, daß sein Intellekt seiner ursprünglichen Bestimmung, als Medium
der Motive dem Willen dienstbar zu seyn, noch ganz treu geblieben und
deshalb mit der Welt und Natur, als integrirender Theil derselben, eng
verbunden, folglich weit entfernt davon ist, sich vom Ganzen der Dinge
gleichsam ablösend, demselben gegenüber zu treten und so einstweilen
als für sich bestehend, die Welt rein objektiv aufzufassen. Hingegen
ist die hieraus entspringende philosophische Verwunderung im Einzelnen
durch höhere Entwickelung der Intelligenz bedingt, überhaupt jedoch
nicht durch diese allein; sondern ohne Zweifel ist es das Wissen um den
Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens,
was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen
Auslegungen der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre,
würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen, warum die Welt dasei
und gerade diese Beschaffenheit habe; sondern eben auch sich Alles von
selbst verstehen. Dem entsprechend finden wir, daß das Interesse, welches
philosophische, oder auch religiöse Systeme einflößen, seinen allerstärksten
Anhaltspunkt durchaus an dem Dogma irgend einer Fortdauer nach dem Tode
hat: und wenn gleich die letzteren das Daseyn ihrer Götter zur Hauptsache
zu machen und dieses am eifrigsten zu vertheidigen scheinen; so ist dies
im Grunde doch nur, weil sie an dasselbe ihr Unsterblichkeitsdogma geknüpft
haben und es für unzertrennlich von ihm halten: nur um dieses ist es
ihnen eigentlich zu thun. Denn wenn man ihnen dasselbe anderweitig sicher
stellen könnte; so würde der lebhafte Eifer für ihre Götter alsbald
erkalten, und er würde fast gänzlicher Gleichgültigkeit Platz machen,
wenn, umgekehrt, die völlige Unmöglichkeit einer Unsterblichkeit ihnen
bewiesen wäre: denn das Interesse am Daseyn der Götter verschwände
mit der Hoffnung einer nähern Bekanntschaft mit ihnen, bis auf den Rest,
der sich an ihren möglichen Einfluß auf die Vorfälle des gegenwärtigen
Lebens knüpfen möchte. Könnte man aber gar die Fortdauer nach dem Tode,
etwan weil sie Ursprünglichkeit des Wesens voraussetzte, als unverträglich
mit dem Daseyn von Göttern nachweisen; so würden sie diese bald ihrer
eigenen Unsterblichkeit zum Opfer bringen und für den Atheismus eifern.
Auf demselben Grunde beruht es, daß die eigentlich materialistischen
Systeme, wie auch die absolut skeptischen, niemals einen allgemeinen,
oder dauernden Einfluß haben erlangen können.
Tempel und Kirchen, Pagoden und Moscheen, in allen Landen, aus allen Zeiten,
in Pracht und Größe, zeugen vom metaphysischen Bedürfniß des Menschen,
welches, stark und unvertilgbar, dem physischen auf dem Fuße folgt. Freilich
könnte wer satirisch gelaunt ist hinzufügen, daß dasselbe ein bescheidener
Bursche sei, der mit geringer Kost vorlieb nehme. An plumpen Fabeln und
abgeschmackten Mährchen läßt er sich bisweilen genügen: wenn nur früh
genug eingeprägt, sind sie ihm hinlängliche Auslegungen seines Daseyns
und Stützen seiner Moralität. Man betrachte z. B. den Koran: dieses
schlechte Buch war hinreichend, eine Weltreligion zu begründen, das metaphysische
Bedürfniß zahlloser Millionen Menschen seit 1200 Jahren zu befriedigen,
die Grundlage ihrer Moral und einer bedeutenden Verachtung des Todes zu
werden, wie auch, sie zu blutigen Kriegen und den ausgedehntesten Eroberungen
zu begeistern. Wir finden in ihm die traurigste und ärmlichste Gestalt
des Theismus. Viel mag durch die Uebersetzungen verloren gehen; aber ich
habe keinen einzigen werthvollen Gedanken darin entdecken können. Dergleichen
beweist, daß mit dem metaphysischen Bedürfniß die metaphysische Fähigkeit
nicht Hand in Hand geht. Doch will es scheinen, daß in den frühen Zeiten
der gegenwärtigen Erdoberfläche diesem anders gewesen sei und daß Die,
welche der Entstehung des Menschengeschlechts und dem Urquell der organischen
Natur bedeutend näher standen, als wir, auch noch theils größere Energie
der intuitiven Erkenntnißkräfte, theils eine richtigere Stimmung des
Geistes hatten, wodurch sie einer reineren, unmittelbaren Auffassung des
Wesens der Natur fähig und dadurch im Stande waren, dem metaphysischen
Bedürfniß auf eine würdigere Weise zu genügen: so entstanden in den
Urvätern der Brahmanen, den Rischis, die fast übermenschlichen Konceptionen,
welche später in den Upanischaden der Veden niedergelegt wurden.
Niemals hingegen hat es an Leuten gefehlt, welche auf jenes metaphysische
Bedürfniß des Menschen ihren Unterhalt zu gründen und dasselbe möglichst
auszubeuten bemüht waren; daher es unter allen Völkern Monopolisten
und Generalpächter desselben giebt: die Priester. Ihr Gewerbe mußte
ihnen jedoch überall dadurch gesichert werden, daß sie das Recht erhielten,
ihre metaphysischen Dogmen den Menschen sehr früh beizubringen, ehe noch
die Urtheilskraft aus ihrem Morgenschlummer erwacht ist, also in der ersten
Kindheit: denn da haftet jedes wohl eingeprägte Dogma, sei es auch noch
so unsinnig, auf immer. Hätten sie zu warten, bis die Urtheilskraft reif
ist; so würden ihre Privilegien nicht bestehen können.
Eine zweite, wiewohl nicht zahlreiche Klasse von Leuten, welche ihren
Unterhalt aus dem metaphysischen Bedürfniß der Menschen zieht, machen
die aus, welche von der Philosophie leben: bei den Griechen hießen sie
Sophisten, bei den Neueren Professoren der Philosophie. Aristoteles zählt
(Metaph., II. 2) den Aristipp unbedenklich den Sophisten bei: den Grund
dazu finden wir bei Diogenes Laertius (II, 65), daß nämlich er der Erste
unter den Sokratikern gewesen, der sich seine Philosophie bezahlen ließ;
weshalb auch Sokrates ihm sein Geschenk zurücksandte. Auch bei den Neueren
sind die, welche von der Philosophie leben, nicht nur, in der Regel und
mit den seltensten Ausnahmen, ganz Andere, als die, welche für die Philosophie
leben; sondern sogar sind sie sehr oft die Widersacher, die heimlichen
und unversöhnlichen Feinde dieser: denn jede ächte und bedeutende philosophische
Leistung wird auf die ihrigen zu viel Schatten werfen und überdies den
Absichten und Beschränkungen der Gilde sich nicht fügen; weshalb sie
allezeit bemüht sind, eine solche nicht aufkommen zu lassen, wozu dann,
nach Maaßgabe der jedesmaligen Zeiten und Umstände, bald Verhehlen,
Zudecken, Verschweigen, Ignoriren, Sekretiren, bald Verneinen, Verkleinern,
Tadeln, Lästern, Verdrehen, bald Denunziren und Verfolgen die üblichen
Mittel sind. Daher hat denn auch schon mancher große Kopf, unerkannt,
ungeehrt, unbelohnt, sich keuchend durchs Leben schleppen müssen, bis
endlich nach seinem Tode die Welt über ihn enttäuscht wurde, und über
sie. Inzwischen hatten sie ihren Zweck erreicht, hatten gegolten, dadurch
daß sie ihn nicht gelten ließen, und hatten mit Weib und Kind von der
Philosophie gelebt, während Jener für diese lebte. Ist er aber todt;
da kehrt die Sache sich um: die neue Generation jener stets Vorhandenen
wird nun der Erbe seiner Leistungen, schneidet sie nach ihrem Maaßstab
sich zurecht und lebt jetzt von ihm. Daß jedoch Kant zugleich von und
für die Philosophie leben konnte, beruhte auf dem seltenen Umstande,
daß, zum ersten Male wieder, seit dem Divo Antonino und Divo Juliano,
ein Philosoph auf dem Throne saß: nur unter solchen Auspicien konnte
die Kritik der reinen Vernunft das Licht erblicken. Kaum war der König
todt, so sehen wir auch schon Kanten, weil er zur Gilde gehörte, von
Furcht ergriffen, sein Meisterwerk in der zweiten Ausgabe modifiziren,
kastriren und verderben, dennoch aber bald in Gefahr kommen, seine Stelle
zu verlieren; so daß ihn Campe in Braunschweig einlud, zu ihm zu kommen,
um als das Oberhaupt seiner Familie bei ihm zu leben (Ring, Ansichten
aus Kants Leben, S. 68). Mit der Universitätsphilosophie ist es in der
Regel bloße Spiegelfechterei: der wirkliche Zweck derselben ist, den
Studenten, im tiefsten Grunde ihres Denkens, diejenige Geistesrichtung
zu geben, welche das die Professuren besetzende Ministerium seinen Absichten
angemessen hält. Daran mag dieses, im staatsmännischen Sinn, auch ganz
Recht haben: nur folgt daraus, daß solche Kathederphilosophie ein nervis
alienis mobile lignum ist und nicht für ernstliche, sondern nur für
Spaaßphilosophie gelten kann. Auch bleibt es jedenfalls billig, daß
eine solche Beaufsichtigung, oder Leitung, sich bloß auf die Kathederphilosophie
erstrecke, nicht aber auf die wirkliche, welche es ernstlich meint. Denn,
wenn irgend etwas auf der Welt wünschenswerth ist, so wünschenswerth,
daß selbst der rohe und dumpfe Haufen, in seinen besonneneren Augenblicken,
es höher schätzen würde, als Silber und Gold; so ist es, daß ein Lichtstrahl
fiele auf das Dunkel unsers Daseyns und irgend ein Aufschluß uns würde
über diese räthselhafte Existenz, an der nichts klar ist, als ihr Elend
und ihre Nichtigkeit. Dies aber wird, gesetzt es sei an sich erreichbar,
durch aufgedrungene und aufgezwungene Lösungen des Problems unmöglich
gemacht. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Das philosophische Erstaunen ist demnach im Grunde ein bestürztes
und betrübtes: die Philosophie hebt, wie die Ouvertüre zum Don Juan,
mit einem Mollakkord an. Hieraus ergiebt sich, daß sie weder Spinozismus,
noch Optimismus seyn darf. — Die so eben ausgesprochene nähere Beschaffenheit
des Erstaunens, welches zum Philosophiren treibt, entspringt offenbar
aus dem Anblick des Uebels und des Bösen in der Welt, welche, selbst
wenn sie im gerechtesten Verhältniß zu einander ständen, ja, auch noch
vom Guten weit überwogen würden, dennoch etwas sind, was ganz und gar
und überhaupt nicht seyn sollte. Weil nun aber nichts aus Nichts entstehen
kann; so müssen auch jene ihren Keim im Ursprunge, oder im Kern der Welt
selbst haben. Dies anzunehmen wird uns schwer, wenn wir auf die Größe,
Ordnung und Vollendung der physischen Welt sehen, indem wir meynen, daß
was die Macht hatte, eine solche hervorzubringen, auch wohl hätte das
Uebel und das Böse müssen vermeiden können. Am allerschwersten wird
jene Annahme (deren aufrichtigster Ausdruck Ormuzd und Ahriman ist) begreiflicherweise
dem Theismus. Daher wurde, um zuvörderst das Böse zu beseitigen, die
Freiheit des Willens erfunden: diese ist jedoch nur eine versteckte Art,
Etwas aus Nichts zu machen; indem sie ein Operari annimmt, das aus keinem
Esse hervorgienge (siehe „Die beiden Grundprobleme der Ethik“, S.
58 fg.; 2. Aufl. S. 57 fg.). Sodann das Uebel suchte man dadurch los zu
werden, daß man es der Materie, oder auch einer unvermeidlichen Nothwendigkeit
zur Last legte; wobei man ungern den Teufel zur Seite liegen ließ, der
eigentlich das rechte Expediens ad hoc ist. Zum Uebel gehört auch der
Tod: das Böse aber ist bloß das Von=sich=auf=einen=Andern=schieben des
jedesmaligen Uebels. Also, wie oben gesagt, das Böse, das Uebel und der
Tod sind es, welche das philosophische Erstaunen qualifiziren und erhöhen:
nicht bloß, daß die Welt vorhanden, sondern noch mehr, daß sie eine
so trübsälige sei, ist das punctum pruriens der Metaphysik, das Problem,
welches die Menschheit in eine Unruhe versetzt, die sich weder durch Skepticismus
noch durch Kriticismus beschwichtigen läßt. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Mit dem Naturalismus, oder der rein physikalischen Betrachtungsart,
wird man demnach nie ausreichen: sie gleicht einem Rechnungsexempel, welches
nimmermehr aufgeht. End= und anfangslose Kausalreihen, unerforschliche
Grundkräfte, unendlicher Raum, anfangslose Zeit, endlose Theilbarkeit
der Materie, und dieses Alles noch bedingt durch ein erkennendes Gehirn,
in welchem allein es dasteht, so gut wie der Traum, und ohne welches es
verschwindet, — machen das Labyrinth aus, in welchem sie uns unaufhörlich
herumführt. Die Höhe, zu welcher in unsern Zeiten die Naturwissenschaften
gestiegen sind, stellt in dieser Beziehung alle früheren Jahrhunderte
in tiefen Schatten, und ist ein Gipfel, den die Menschheit zum ersten
Mal erreicht. Allein, wie große Fortschritte auch die Physik (im weiten
Sinn der Alten verstanden) je machen möge; so wird damit noch nicht der
kleinste Schritt zur Metaphysik geschehen seyn; so wenig, wie eine Fläche,
durch noch so weit fortgesetzte Ausdehnung, je Kubikinhalt gewinnt. Denn
solche Fortschritte werden immer nur die Kenntniß der Erscheinung vervollständigen;
während die Metaphysik über die Erscheinung selbst hinausstrebt, zum
Erscheinenden. Und wenn sogar die gänzlich vollendete Erfahrung hinzukäme;
so würde dadurch in der Hauptsache nichts gebessert seyn. Ja, wenn selbst
Einer alle Planeten sämmtlicher Fixsterne durchwanderte; so hätte er
damit nach keinen Schritt in der Metaphysik gethan. Vielmehr werden die
größten Fortschritte der Physik das Bedürfniß einer Metaphysik immer
fühlbarer machen; weil eben die berichtigte, erweiterte und gründlichere
Kenntniß der Natur einerseits die bis dahin geltenden metaphysischen
Annahmen immer untergräbt und endlich umstößt, andererseits aber das
Problem der Metaphysik selbst deutlicher, richtiger und vollständiger
vorlegt, dasselbe von allem bloß Physischen reiner absondert, und eben
auch das vollständiger und genauer erkannte Wesen der einzelnen Dinge
dringender die Erklärung des Ganzen und Allgemeinen fordert, welches,
je richtiger, gründlicher und vollständiger empirisch erkannt, nur desto
räthselhafter sich darstellt. Dies Alles wird freilich der einzelne,
simple Naturforscher, in einem abgesonderten Zweige der Physik, nicht
sofort deutlich inne: vielmehr schläft er behaglich bei seiner erwählten
Magd im Hause des Odysseus, sich aller Gedanken an die Penelopeia entschlagend
(siehe Kap. 12 am Ende). Daher sehen wir heut zu Tage die Schaale der
Natur auf das genaueste durchforscht, die Intestina der Intestinalwürmer
und das Ungeziefer des Ungeziefers haarklein gekannt: kommt aber Einer,
wie z. B. ich, und redet vom Kern der Natur, so hören sie nicht hin,
denken eben es gehöre nicht zur Sache und klauben
an ihren Schaalen weiter. Jene überaus mikroskopischen und mikrologischen
Naturforscher findet man sich versucht, die Topfkucker der Natur zu nennen.
Die Leute aber, welche vermeynen, Tiegel und Retorte seien die wahre und
einzige Quelle aller Weisheit, sind in ihrer Art eben so verkehrt, wie
es weiland ihre Antipoden, die Scholastiker waren. Wie nämlich diese,
ganz und gar in ihre abstrakten Begriffe verstrickt, mit diesen sich herumschlugen,
nichts außer ihnen kennend, noch untersuchend; so sind Jene ganz in ihre
Empirie verstrickt, lassen nichts gelten, als was ihre Augen sehen, und
vermeynen damit bis auf den letzten Grund der Dinge zu reichen, nicht
ahndend, daß zwischen der Erscheinung und dem sich darin Manifestirenden,
dem Dinge an sich, eine tiefe Kluft, ein radikaler Unterschied ist, welcher
nur durch die Erkenntniß und genaue Gränzbestimmung des subjektiven
Elements der Erscheinung aufgeklärt wird, und durch die Einsicht, daß
die letzten und wichtigsten Aufschlüsse über das Wesen der Dinge allein
aus dem Selbstbewußtseyn geschöpft werden können; — ohne welches
Alles man nicht einen Schritt über das den Sinnen unmittelbar Gegebene
hinauskann, also nicht weiter gelangt, als bis zum Problem. — Jedoch
sei auch andererseits bemerkt, daß die möglichst vollständige Naturerkenntniß
die berichtigte Darlegung des Problems der Metaphysik ist; daher soll
Keiner sich an diese wagen, ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine,
doch gründliche, klare und zusammenhängende Kenntniß aller Zweige der
Naturwissenschaft sich erworben zu haben. Denn das Problem muß der Lösung
vorhergehen. Dann aber muß der Blick des Forschers sich nach innen wenden:
denn die intellektuellen und ethischen Phänomene sind wichtiger, als
die physischen, in demselben Maaße, wie z. B. der animalische Magnetismus
eine ungleich wichtigere Erscheinung, als der mineralische, ist. Die letzten
Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dieses ist ihm
am unmittelbarsten zugänglich; daher er nur hier den Schlüssel zum Räthsel
der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge an Einem Faden zu erfassen
hoffen darf. Das eigenste Gebiet der Metaphysik liegt also allerdings
in Dem, was man Geistesphilosophie genannt hat.
„Du führst die Reihen der Lebendigen vor mir vorbei, und lehrst
mich meine Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen:
— — — —
— — — —
Dann führst Du mich zur sichern Höhle, zeigst mich dann mir selbst,
und meiner eignen Brust geheime tiefe Wunder öffnen sich.“ [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Als einen großen Vorzug meiner Philosophie sehe ich es an, daß
alle ihre Wahrheiten unabhängig von einander, durch die Betrachtung der
realen Welt gefunden sind, die Einheit und Zusammenstimmung derselben
aber, um die ich unbesorgt gewesen war, sich immer nachher von selbst
eingefunden hat. Darum auch ist sie reich und hat breite Wurzeln auf dem
Boden der anschaulichen Wirklichkeit, aus welchem alle Nahrung abstrakter
Wahrheiten quillt: und darum wieder ist sie nicht langweilig; welche Eigenschaft
man sonst, nach den philosophischen Schriften der letzten fünfzig Jahre
zu urtheilen, für eine der Philosophie wesentliche halten könnte. Wenn
hingegen alle Lehren einer Philosophie bloß eine aus der andern und zuletzt
wohl gar aus einem ersten Satze abgeleitet sind; so muß sie arm und mager,
mithin auch langweilig ausfallen; da aus keinem Satze mehr folgen kann,
als was er eigentlich schon selbst besagt: zudem hängt dann Alles von
der Richtigkeit eines Satzes ab, und durch einen einzigen Fehler in der
Ableitung wäre die Wahrheit des Ganzen gefährdet. —Noch weniger Gewährleistung
geben die Systeme, welche von einer intellektualen Anschauung, d. i. einer
Art Ekstase oder Hellsehn, ausgehen: jede so gewonnene Erkenntniß muß
als subjektiv, individuell und folglich problematisch, abgewiesen werden.
Selbst wenn sie wirklich vorhanden wäre, würde sie nicht mittheilbar
seyn: denn nur die normale Gehirnerkenntniß ist mittheilbar: wenn sie
eine abstrakte ist, durch Begriffe und Worte; wenn eine bloß anschauliche,
durch Kunstwerke.
Wenn man, wie so oft geschieht, der Metaphysik vorwirft, im Laufe so vieler
Jahrhunderte, so geringe Fortschritte gemacht zu haben; so sollte man
auch berücksichtigen, daß keine andere Wissenschaft, gleich ihr, unter
fortwährendem Drucke erwachsen, keine von außen so gehemmt und gehindert
worden ist, wie sie allezeit durch die Religion jedes Landes, als welche,
überall im Besitz des Monopols metaphysischer Erkenntnisse, sie neben
sich ansieht wie ein wildes Kraut, wie einen unberechtigten Arbeiter,
wie eine Zigeunerhorde, und sie in der Regel nur unter der Bedingung tolerirt,
daß sie sich bequeme ihr zu dienen und nachzufolgen. Wo ist denn je wahre
Gedankenfreiheit gewesen? Geprahlt hat man genug damit: aber sobald sie
weiter gehen wollte, als etwan in untergeordneten Dogmen von der Landesreligion
abzuweichen, ergriff die Verkündiger der Toleranz ein heiliger Schauder
über die Vermessenheit, und es hieß: keinen Schritt weiter! — Welche
Fortschritte der Metaphysik waren unter solchem Drucke möglich? — Ja,
nicht allein auf die Mittheilung der Gedanken, sondern auf das Denken
selbst erstreckt sich jener Zwang, den die privilegirte Metaphysik ausübt,
dadurch, daß ihre Dogmen dem zarten, bildsamen, vertrauensvollen und
gedankenlosen Kindesalter, unter studirtem, feierlich ernsten Mienenspiel
so fest eingeprägt werden, daß sie, von Dem an, mit dem Gehirn verwachsen
und fast die Natur angeborener Gedanken annehmen, wofür manche Philosophen
sie daher gehalten haben, noch mehrere aber sie zu halten vorgeben. Nichts
kann jedoch der Auffassung auch nur des Problems der Metaphysik so fest
entgegenstehen, wie eine ihm vorhergängige, aufgedrungene und dem Geiste
früh eingeimpfte Lösung desselben: denn der nothwendige Ausgangspunkt
zu allem ächten Philosophiren ist die tiefe Empfindung des Sokratischen:
„Dies Eine weiß ich, daß ich nichts weiß.“ Die Alten standen auch
in dieser Rücksicht im Vortheil gegen uns; da ihre Landesreligionen zwar
die Mittheilung des Gedachten etwas beschränkten, aber die Freiheit des
Denkens selbst nicht beeinträchtigten, weil sie nicht förmlich und feierlich
den Kindern eingeprägt, wie auch überhaupt nicht so ernsthaft genommen
wurden. Daher sind die Alten noch unsere Lehrer in der Metaphysik.
Bei jenem Vorwurf der geringen Fortschritte der Metaphysik und ihres,
trotz so anhaltendem Bemühen, noch immer nicht erreichten Zieles, soll
man ferner erwägen, daß sie unterweilen immerfort den unschätzbaren
Dienst geleistet hat, den unendlichen Ansprüchen der privilegirten Metaphysik
Gränzen zu setzen und dabei zugleich doch dem, gerade durch diese als
unausbleibliche Reaktion hervorgerufenen, eigentlichen Naturalismus und
Materialismus entgegenzuarbeiten. Man bedenke, wohin es mit den Anmaaßungen
der Priesterschaft jeder Religion kommen würde, wenn der Glaube an ihre
Lehren so fest und blind wäre, wie jene eigentlich wünscht. Man sehe
dabei zurück auf alle Kriege, Unruhen, Rebellionen und Revolutionen in
Europa vom achten bis zum achtzehnten Jahrhundert: wie wenige wird man
finden, die nicht zum Kern, oder zum Vorwand, irgend eine Glaubensstreitigkeit,
also metaphysische Probleme, gehabt haben, welche der Anlaß wurden, die
Völker auf einander zu hetzen. Ist doch jenes ganze Jahrtausend ein fortwährendes
Morden, bald auf dem Schlachtfeld, bald auf dem Schafott, bald auf den
Gassen, — in metaphysischen Angelegenheiten! Ich wollte, ich hätte
ein authentisches Verzeichniß aller Verbrechen, die wirklich das Christenthum
verhindert, und aller guten Handlungen, die es wirklich erzeugt hat, um
sie auf die andere Waagschaale legen zu können.
Was endlich die Verpflichtungen der Metaphysik betrifft, so hat sie nur
eine einzige: denn es ist eine, die keine andere neben sich duldet: die
Verpflichtung wahr zu seyn. Wollte man neben dieser ihr noch andere auflegen,
wie etwan die, spiritualistisch, optimistisch, monotheistisch, ja auch
nur die, moralisch zu seyn; so kann man nicht zum voraus wissen, ob diese
nicht der Erfüllung jener ersten entgegenstände, ohne welche alle ihre
sonstigen Leistungen offenbar werthlos seyn müßten. Eine gegebene Philosophie
hat demnach keinen andern Maaßstab ihrer Schätzung, als den der Wahrheit.
— Uebrigens ist die Philosophie wesentlich Weltweisheit: ihr Problem
ist die Welt: mit dieser allein hat sie es zu thun und läßt die Götter
in Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe gelassen zu werden.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] 10) Worauf beruht die Identität der Person? — Nicht auf der Materie
des Leibes: sie ist nach wenigen Jahren eine andere. Nicht auf der Form
desselben: sie ändert sich im Ganzen und in allen Theilen; bis auf den
Ausdruck des Blickes, an welchem man daher auch nach vielen Jahren einen
Menschen noch erkennt; welches beweist, daß trotz allen Veränderungen,
die an ihm die Zeit hervorbringt, doch etwas in ihm davon völlig unberührt
bleibt: es ist eben Dieses, woran wir, auch nach dem längsten Zwischenraume,
ihn wiedererkennen und den Ehemaligen unversehrt wiederfinden; eben so
auch uns selbst: denn wenn man auch noch so alt wird; so fühlt man doch
im Innern sich ganz und gar als den selben, der man war, als man jung,
ja, als man noch ein Kind war. Dieses, was unverändert stets ganz das
Selbe bleibt und nicht mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher
nicht in der Zeit liegt. — Man nimmt an, die Identität der Person beruhe
auf der des Bewußtseyns. Versteht man aber unter dieser bloß die zusammenhängende
Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht ausreichend. Wir wissen von
unserm Lebenslauf allenfalls etwas mehr, als von einem ehemals gelesenen
Roman; dennoch nur das Allerwenigste. Die Hauptbegebenheiten, die interessanten
Scenen haben sich eingeprägt: im Uebrigen sind tausend Vorgänge vergessen,
gegen einen, der behalten worden. Je älter wir werden, desto spurloser
geht Alles vorüber. Hohes Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn,
können das Gedächtniß ganz rauben. Aber die Identität der Person ist
damit nicht verloren gegangen. Sie beruht auf dem identischen Willen und
dem unveränderlichen Charakter desselben. Er eben auch ist es, der den
Ausdruck des Blicks unveränderlich macht. Im Herzen steckt der Mensch,
nicht im Kopf. Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Außenwelt,
gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Subjekt des Erkennens, das
erkennende Ich, zu betrachten, welches am Abend ermattet, im Schlafe verschwindet,
am Morgen mit erneuerten Kräften heller strahlt. Dieses ist jedoch die
bloße Gehirnfunktion und nicht unser eigenstes Selbst. Unser wahres Selbst,
der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich
nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden
seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affekte und
Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt; nicht
mitschläft, wann jenes schläft, und eben so, wann dasselbe im Tode untergeht,
unversehrt bleibt. — Alles hingegen, was der Erkenntniß angehört,
ist der Vergessenheit ausgesetzt: selbst die Handlungen von moralischer
Bedeutsamkeit sind uns, nach Jahren, bisweilen nicht vollkommen erinnerlich,
und wir wissen nicht mehr genau und ins Einzelne, wie wir in einem kritischen
Fall gehandelt haben. Aber der Charakter selbst, von dem die Thaten bloß
Zeugniß ablegen, kann von uns nicht vergessen werden: er ist jetzt noch
ganz derselbe, wie damals. Der Wille selbst, allein und für sich, beharrt:
denn er allein ist unveränderlich, unzerstörbar, nicht alternd, nicht
physisch, sondern metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig, sondern
das Erscheinende selbst. Wie auf ihm auch die Identität des Bewußtseyns,
so weit sie geht, beruht, habe ich oben, Kapitel 15, nachgewiesen, brauche
mich also hier nicht weiter damit aufzuhalten.
11) Aristoteles sagt beiläufig, im Buch über die Vergleichung des Wünschenswerthen:
„gut leben ist besser als leben“ (βελτιον του ζην το
ευ ζην, Top. III, 2). Hieraus ließe sich,
mittelst zweimaliger Kontraposition, folgern: nicht leben ist besser als
schlecht leben. Dies ist dem Intellekt auch einleuchtend: dennoch leben
die Allermeisten sehr schlecht, lieber als gar nicht. Diese Anhänglichkeit
an das Leben kann also nicht im Objekt derselben ihren Grund haben, da
das Leben, wie im vierten Buche gezeigt worden, eigentlich ein stetes
Leiden, oder wenigstens, wie weiter unten, Kapitel 28 dargethan wird,
ein Geschäft ist, welches die Kosten nicht deckt: also kann jene Anhänglichkeit
nur im Subjekt derselben gegründet seyn. Sie ist aber nicht im Intellekt
begründet, ist keine Folge der Ueberlegung, und überhaupt keine Sache
der Wahl; sondern dies Lebenwollen ist etwas, das sich von selbst versteht:
es ist ein prius des Intellekts selbst. Wir selbst sind der Wille zum
Leben: daher müssen wir leben, gut oder schlecht. Nur daraus, daß diese
Anhänglichkeit an ein Leben, welches ihrer so wenig werth ist, ganz a
priori und nicht a posteriori ist, erklärt sich die allem Lebenden einwohnende,
überschwängliche Todesfurcht, welche Rochefoucauld mit seltener Freimüthigkeit
und Naivetät, in seiner letzten Reflexion, ausgesprochen hat, und auf
der auch die Wirksamkeit aller Trauerspiele und Heldenthaten zuletzt beruht,
als welche wegfallen würde, wenn wir das Leben nur nach seinem objektiven
Werthe schätzten. Auf diesen unaussprechlichen horror mortis gründet
sich auch der Lieblingssatz aller gewöhnlichen Köpfe, daß wer sich
das Leben nimmt verrückt seyn müsse, nicht weniger jedoch das mit einer
gewissen Bewunderung verknüpfte Erstaunen, welches diese Handlung, selbst
in denkenden Köpfen, jedes Mal hervorruft, weil dieselbe der Natur alles
Lebenden so sehr entgegenläuft, daß wir Den, welcher sie zu vollbringen
vermochte, in gewissem Sinne bewundern müssen, ja sogar eine gewisse
Beruhigung darin finden, daß, auf die schlimmsten Fälle, dieser Ausweg
wirklich offen steht, als woran wir zweifeln könnten, wenn es nicht die
Erfahrung bestätigte. Denn der Selbstmord geht von einem Beschlusse des
Intellekts aus: unser Lebenwollen aber ist ein prius des Intellekts. —
Auch diese Betrachtung also, welche Kapitel 28 ausführlich zur Sprache
kommt, bestätigt den Primat des Willens im Selbstbewußtseyn. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Das Bedürfniß des Schlafes steht demgemäß in geradem Verhältniß
zur Intensität des Gehirnlebens, also zur Klarheit des Bewußtseyns.
Solche Thiere, deren Gehirnleben schwach und dumpf ist, schlafen wenig
und leicht, z. B. Reptilien und Fische: wobei ich erinnere, daß der Winterschlaf
fast nur dem Namen nach ein Schlaf ist, nämlich nicht eine Inaktion des
Gehirns allein, sondern des ganzen Organismus, also eine Art Scheintod.
Thiere von bedeutender Intelligenz schlafen tief und lange. Auch Menschen
bedürfen um so mehr Schlaf, je entwickelter, der Quantität und Qualität
nach, und je thätiger ihr Gehirn ist. Montaigne erzählt von sich, daß
er stets ein Langschläfer gewesen, einen großen Theil seines Lebens
verschlafen habe und noch im höhern Alter acht bis neun Stunden in Einem
Zuge schlafe (Liv. III, ch. 13). Auch von Kartesius wird uns berichtet,
daß er viel geschlafen habe (Baillet, Vie de Descartes, 1693, p. 288).
Kant hatte sich zum Schlaf sieben Stunden ausgesetzt: aber damit auszukommen
wurde ihm so schwer, daß er seinem Bedienten befohlen hatte, ihn wider
Willen und ohne auf seine Gegenreden zu hören, zur bestimmten Zeit zum
Aufstehen zu zwingen (Jachmann, Immanuel Kant, S. 162). Denn je vollkommener
wach Einer ist, d h. je klärer und aufgeweckter sein Bewußtseyn, desto
größer ist für ihn die Nothwendigkeit des Schlafes, also desto tiefer
und länger schläft er. Vieles Denken, oder angestrengte Kopfarbeit wird
demnach das Bedürfniß des Schlafes vermehren. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Wäre nicht, wie die beiden vorhergehenden Kapitel darthun, der Intellekt
sekundärer Natur; so würde nicht Alles, was ohne denselben, d. h. ohne
Dazwischenkunst der Vorstellung, zu Stande kommt, wie z. B. die Zeugung,
die Entwickelung und Erhaltung des Organismus, die Heilung der Wunden,
der Ersatz oder die vikarirende Ergänzung verstümmelter Theile, die
heilbringende Krisis in Krankheiten, die Werke thierischer Kunsttriebe
und das Schaffen des Instinkts überhaupt, so unendlich besser und vollkommener
ausfallen, als Das, was mit Hülfe des Intellekts geschieht, nämlich
alle bewußten und beabsichtigten Leistungen und Werke der Menschen, als
welche, gegen jene andern gehalten, bloße Stümperei sind. Ueberhaupt
bedeutet Natur das ohne Vermittelung des Intellekts Wirkende, Treibende,
Schaffende. Daß nun eben dieses identisch sei mit Dem, was wir in uns
als Willen finden, ist das allgemeine Thema dieses zweiten Buchs, wie
auch der Abhandlung „Ueber den Willen in der Natur“. Die Möglichkeit
dieser Grunderkenntniß beruht darauf, daß dasselbe in uns unmittelbar
vom Intellekt, der hier als Selbstbewußtseyn auftritt, beleuchtet wird;
sonst wir es eben so wenig in uns, als außer uns näher kennen lernen
würden und ewig vor unerforschlichen Naturkräften stehen bleiben müßten.
Die Beihülfe des Intellekts haben wir wegzudenken, wenn wir das Wesen
des Willens an sich selbst erfassen und dadurch, so weit es möglich ist,
ins Innere der Natur dringen wollen. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Jeder Blick auf die Welt, welche zu erklären die Aufgabe des Philosophen
ist, bestätigt und bezeugt, daß Wille zum Leben, weit entfernt eine
beliebige Hypostase, oder gar ein leeres Wort zu seyn, der allein wahre
Ausdruck ihres innersten Wesens ist. Alles drängt und treibt zum Daseyn,
wo möglich zum organischen, d. i. zum Leben, und danach zur möglichsten
Steigerung desselben: an der thierischen Natur wird es dann augenscheinlich,
daß Wille zum Leben der Grundton ihres Wesens, die einzige unwandelbare
und unbedingte Eigenschaft desselben ist. Man betrachte diesen universellen
Lebensdrang, man sehe die unendliche Bereitwilligkeit, Leichtigkeit und
Ueppigkeit, mit welcher der Wille zum Leben, unter Millionen Formen, überall
und jeden Augenblick, mittelst Befruchtungen und Keimen, ja, wo diese
mangeln, mittelst generatio aequivoca, sich ungestüm ins Daseyn drängt,
jede Gelegenheit ergreifend, jeden lebensfähigen Stoff begierig an sich
reißend: und dann wieder werfe man einen Blick auf den entsetzlichen
Allarm und wilden Aufruhr desselben, wann er in irgend einer einzelnen
Erscheinung aus dem Daseyn weichen soll; zumal wo dieses bei deutlichem
Bewußtseyn eintritt. Da ist es nicht anders, als ob in dieser einzigen
Erscheinung die ganze Welt auf immer vernichtet werden sollte, und das
ganze Wesen eines so bedrohten Lebenden verwandelt sich sofort in das
verzweifelteste Sträuben und Wehren gegen den Tod. Man sehe z. B. die
unglaubliche Angst eines Menschen in Lebensgefahr, die schnelle und so
ernstliche Theilnahme jedes Zeugen derselben und den gränzenlosen Jubel
nach der Rettung. Man sehe das starre Entsetzen, mit welchem ein Todesurtheil
vernommen wird, das tiefe Grausen, mit welchem wir die Anstalten zu dessen
Vollziehung erblicken, und das herzzerreißende Mitleid, welches uns bei
dieser selbst ergreift. Da sollte man glauben, daß es sich um etwas ganz
Anderes handelte, als bloß um einige Jahre weniger einer leeren, traurigen,
durch Plagen jeder Art verbitterten und stets ungewissen Existenz; vielmehr
müßte man denken, daß Wunder was daran gelegen sei, ob Einer etliche
Jahre früher dahin gelangt, wo er, nach einer ephemeren Existenz, Billionen
Jahre zu seyn hat. — An solchen Erscheinungen also wird sichtbar, daß
ich mit Recht als das nicht weiter Erklärliche, sondern jeder Erklärung
zum Grunde zu Legende, den Willen zum Leben gesetzt habe, und daß dieser,
weit entfernt, wie das Absolutum, das Unendliche, die Idee und ähnliche
Ausdrücke mehr, ein leerer Wortschall zu seyn, das Allerrealste ist,
was wir kennen, ja, der Kern der Realität selbst.
Wenn wir nun aber, von dieser aus unserm Innern geschöpften Interpretation
einstweilen abstrahirend, uns der Natur fremd gegenüber stellen, um sie
objektiv zu erfassen; so finden wir, daß sie, von der Stufe des organischen
Lebens an, nur eine Absicht hat: die der Erhaltung aller Gattungen. Auf
diese arbeitet sie hin, durch die unermeßliche Ueberzahl von Keimen,
durch die dringende Heftigkeit des Geschlechtstriebes, durch dessen Bereitwilligkeit
sich allen Umständen und Gelegenheiten anzupassen, bis zur Bastarderzeugung,
und durch die instinktive Mutterliebe, deren Stärke so groß ist, daß
sie, in vielen Thierarten, die Selbstliebe überwiegt, so daß die Mutter
ihr Leben opfert, um das des Jungen zu retten. Das Individuum hingegen
hat für die Natur nur einen indirekten Werth, nämlich nur sofern es
das Mittel ist, die Gattung zu erhalten. Außerdem ist ihr sein Daseyn
gleichgültig, ja, sie selbst führt es dem Untergang entgegen, sobald
es aufhört zu jenem Zwecke tauglich zu seyn. Wozu das Individuum dasei,
wäre also deutlich: aber wozu die Gattung selbst? dies ist eine Frage,
auf welche die bloß objektiv betrachtete Natur die Antwort schuldig bleibt.
Denn vergeblich sucht man, bei ihrem Anblick, von diesem rastlosen Treiben,
diesem ungestümen Drängen ins Daseyn, dieser ängstlichen Sorgfalt für
die Erhaltung der Gattungen, einen Zweck zu entdecken. Die Kräfte und
die Zeit der Individuen gehen auf in der Anstrengung für ihren und ihrer
Jungen Unterhalt, und reichen nur knapp, bisweilen selbst gar nicht dazu
aus. Wenn aber auch hier und da ein Mal ein Ueberschuß von Kraft und
dadurch von Wohlbehagen — bei der einen vernünftigen Gattung, auch
wohl von Erkenntniß — bleibt; so ist dies viel zu unbedeutend, um für
den Zweck jenes ganzen Treibens der Natur gelten zu können. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Dem Leben der sehenden Thiere giebt das Bewußtseyn der anschaulichen
Welt, obwohl es bei ihnen durchaus subjektiv und auf die Einwirkung der
Motive beschränkt ist, doch einen Schein von objektivem Werth des Daseyns.
Aber der blinde Maulwurf, mit seiner so vollkommenen Organisation und
seiner rastlosen Thätigkeit, auf den Wechsel von Insektenlarven und Hungern
beschränkt, macht die Unangemessenheit der Mittel zum Zweck augenscheinlich.
— In dieser Hinsicht ist auch die Betrachtung der sich selber überlassenen
Thierwelt, in menschenleeren Ländern, besonders belehrend. Ein schönes
Bild einer solchen und der Leiden, welche ihr, ohne Zuthun des Menschen,
die Natur selbst bereitet, giebt Humboldt in seinen „Ansichten der Natur“,
zweite Auflage, S. 30 fg.: auch unterläßt er nicht, S. 44, auf das analoge
Leiden des mit sich selbst allezeit und überall entzweiten Menschengeschlechts
einen Blick zu werfen. Jedoch wird am einfachen, leicht übersehbaren
Leben der Thiere die Nichtigkeit und Vergeblichkeit des Strebens der ganzen
Erscheinung leichter faßlich. Die Mannigfaltigkeit der Organisationen,
die Künstlichkeit der Mittel, wodurch jede ihrem Element und ihrem Raube
angepaßt ist, kontrastirt hier deutlich mit dem Mangel irgend eines haltbaren
Endzweckes; statt dessen sich nur augenblickliches Behagen, flüchtiger,
durch Mangel bedingter Genuß, vieles und langes Leiden, beständiger
Kampf, bellum omnium, Jedes ein Jäger und Jedes gejagt, Gedränge, Mangel,
Noth und Angst, Geschrei und Geheul darstellt: und das geht so fort, in
secula seculorum, oder bis ein Mal wieder die Rinde des Planeten bricht.
Junghuhn erzählt, daß er auf Java ein unabsehbares Feld ganz mit Gerippen
bedeckt erblickt und für ein Schlachtfeld gehalten habe: es waren jedoch
lauter Gerippe großer, fünf Fuß langer, drei Fuß breiter und eben
so hoher Schildkröten, welche, um ihre Eier zu legen, vom Meere aus,
dieses Weges gehen und dann von wilden Hunden (Canis rutilans) angepackt
werden, die, mit vereinten Kräften sie auf den Rücken legen, ihnen den
untern Harnisch, also die kleinen Schilder des Bauches, aufreißen und
so sie lebendig verzehren. Oft aber fällt alsdann über die Hunde ein
Tiger her. Dieser ganze Jammer nun wiederholt sich tausend und aber tausend
Mal, Jahr aus Jahr ein. Dazu werden also diese Schildkröten geboren.
Für welche Verschuldung müssen sie diese Quaal leiden? Wozu die ganze
Gräuelscene? Darauf ist die alleinige Antwort: so objektivirt sich der
Wille zum Leben *).
Man betrachte ihn wohl und fasse ihn auf, in allen seinen Objektivationen:
dann wird man zum Verständniß seines Wesens und der Welt gelangen; nicht
aber wenn man allgemeine Begriffe konstruirt und daraus Kartenhäuser
baut. Die Auffassung des großen Schauspiels der Objektivation des Willens
zum Leben und der Charakteristik seines Wesens erfordert freilich etwas
genauere Betrachtung und größere Ausführlichkeit, als die Abfertigung
der Welt dadurch, daß man ihr den Titel Gott beilegt, oder, mit einer
Niaiserie, wie sie nur das Deutsche Vaterland darbietet und zu genießen
weiß, erklärt, es sei die „Idee in ihrem Andersseyn“, — woran
die Pinsel meiner Zeit zwanzig Jahre hindurch ihr unsägliches Genügen
gefunden haben. Freilich, nach dem Pantheismus oder Spinozismus, dessen
bloße Travestien jene Systeme unsers Jahrhunderts sind, haspelt das Alles
sich wirklich ohne Ende, die Ewigkeit hindurch so fort. Denn da ist die
Welt ein Gott, ens perfectissimum: d. h. es kann nichts Besseres geben,
noch gedacht werden. Also bedarf es keiner Erlösung daraus; folglich
giebt es keine. Wozu aber die ganze Tragikomödie dasei, ist nicht entfernt
abzusehen; da sie keine Zuschauer hat und die Akteurs selbst unendliche
Plage ausstehen, bei wenigem und bloß negativem Genuß.
Nehmen wir jetzt noch die Betrachtung des Menschengeschlechts hinzu; so
wird die Sache zwar komplicirter und erhält einen gewissen ernsten Anstrich:
doch bleibt der Grundcharakter unverändert. Auch hier stellt das Leben
sich keineswegs dar als ein Geschenk zum Genießen, sondern als eine Aufgabe,
ein Pensum zum Abarbeiten, und dem entsprechend sehen wir, im Großen
wie im Kleinen, allgemeine Noth, rastloses Mühen, beständiges Drängen,
endlosen Kampf, erzwungene Thätigkeit, mit äußerster Anstrengung aller
Leibes= und Geisteskräfte. Viele Millionen, zu Völkern vereinigt, streben
nach dem Gemeinwohl, jeder Einzelne seines eigenen wegen; aber viele Tausende
fallen als Opfer für dasselbe. Bald unsinniger Wahn, bald grübelnde
Politik, hetzt sie zu Kriegen auf einander: dann muß Schweiß und Blut
des großen Haufens fließen, die Einfälle Einzelner durchzusetzen, oder
ihre Fehler abzubüßen. Im Frieden ist Industrie und Handel thätig,
Erfindungen thun Wunder, Meere werden durchschifft, Leckereien aus allen
Enden der Welt zusammengeholt, die Wellen verschlingen Tausende. Alles
treibt, die Einen sinnend, die Andern handelnd, der Tumult ist unbeschreiblich.
— Aber der letzte Zweck von dem Allen, was ist er? Ephemere und geplagte
Individuen eine kurze Spanne Zeit hindurch zu erhalten, im glücklichsten
Fall mit erträglicher Noth und komparativer Schmerzlosigkeit, der aber
auch sogleich die Langeweile aufpaßt; sodann die Fortpflanzung dieses
Geschlechts und seines Treibens. — Bei diesem offenbaren Mißverhältniß
zwischen der Mühe und dem Lohn, erscheint uns, von diesem Gesichtspunkt
aus, der Wille zum Leben, objektiv genommen, als ein Thor, oder subjektiv,
als ein Wahn, von welchem alles Lebende ergriffen, mit äußerster Anstrengung
seiner Kräfte, auf etwas hinarbeitet, das keinen Werth hat. Allein bei
genauerer Betrachtung werden wir auch hier finden, daß er vielmehr ein
blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivirter Trieb ist.
*) Im Siecle, 10 Avril 1859, steht, sehr schön beschrieben, die Geschichte
eines Eichhörnchens, das von einer Schlange magisch bis in ihren Rachen
gezogen worden: ,,Un voyageur qui vient de parcourir plusieurs provinces
de l`ile de Java cite un exemple remarquable du pouvoir fascinateur des
serpens. Le voyageur dont il est question commencait à gravir le Junjind,
un des monts appelès par les Hollandais Pepergebergte. Après avoir pènètrè
dans une èpaisse forèt il apercut sur les branches d’un kijatile un
ècureuil de Java à tète blanche, folàtrant avec la gràce et l’agilitè
qui distinguent cette chermante espèce de rongeurs. Un nid sphèrique
formè de brins flexibles et de mousse, placè dans les parties les plus
èlevèes de l’arbre, à l`enfourehure de deux branches, et une cavitè
dans le trone, semblaient les points de mire de ses jeux. A peine s’en
ètait-il èloignè qu’il y revenait avec une ardeur extrème. On ètait
dans le mois de juillet, et probablement l`ècureuil avait en haut ses
petits, et dans le bas le magasin à fruits. Bientòt il fut comme saisi
d’effroi, ses mouvemens devinrent dèsordonnès, on eut dit qu’il
cherchait toujours à mettre un obstacle entre lui et certaines parties
des l’arbre: puis il se tapit et resta immobile entre deux branches.
Le voyageur eut le sentiment d’un danger pour l`innocente bète, mais
il ne pouvait deviner leqnel. Il approcha, et un examen attentif lui fit
dècouvrir dans un creux du trone une couleuvre lien, dardant ses yeux
fixes dans la direction de l’ècurenil. Notre voyageur trembla pour
le pauvre ècureuil. La couleuvre ètait si attentive à sa proie qu’elle
ne semblait nullement remarquer la prèsence d’un homme. Notre voyageur,
qui ètait armè, aurait done pu venir en aide à l`infortunè rongeur
en tuant le serpent. Mais la science l`emporta sur la pitiè, et il voulut
voir quelle issue aurait le drame. Le dènoùment fut tragique. L´ècureuil
ne tarda point à pousser un eri plaintif qui, pour tous ceux qui le connaissent,
dèuote le voisinage d`un serpent. Il avanca un peu, essaya de reculer,
revint encore en avant, tàche de retourner en arrière, mais s’approcha
toujours plus du reptile. La couleuvre, roulèe en spirale, la tète au
dessus des auneaux, et immobile comme un morceau de bois, ne le quittait
pas du regard. L´ècureuil, de branche en branche, et descendant toujours
plus bas, arriva jusqu’à la partie nue du tronc. Alors le pauvre animal
ne tenta mème plus de fuir le danger. Attirè par une puissance invincible,
et comme poussè par le vertige, il se prècipita dans la gueule du serpent,
qui s’ouvrit tout à coup dèmesurèment pour le recevoir. Autant la
couleuvre avait ètè inerte jusque là, autant elle devint active dès
qu’elle fut en possession de sa proie. Dèroulant ses anneaux et prenant
sa course de bas en haut avee une agilitè inconcevable, sa reptation
la porta en un clin d`oeil au sommet de l`arbre, où elle alla sans doute
digèrer et dormir."
An diesem Beispiel ersieht man, welcher Geist die Natur belebt, indem
er sich darin offenbart, und wie sehr wahr der oben (S. 398) angeführte
Ausspruch des Aristoteles ist. Diese Geschichte ist nicht bloß in magischer
Hinsicht wichtig, sondern auch als Argument zum Pessimismus. Daß ein
Thier vom andern überfallen und gefressen wird, ist schlimm, jedoch kann
man sich darüber beruhigen: aber daß so ein armes unschuldiges Eichhorn,
neben dem Reste mit seinen Jungen sitzend, gezwungen ist, schrittweise,
zögernd, mit sich selbst kämpfend und wehklagend dem weit offenen Rachen
der Schlange entgegenzugehen und mit Bewußtseyn sich hineinzustürzen,
— ist empörend und himmelschreiend. — Was für eine entsetzliche
Natur ist diese, der wir angehören! [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Das Sterben ist allerdings als der eigentliche Zweck des Lebens
anzusehen: im Augenblick desselben wird alles Das entschieden, was durch
den ganzen Verlauf des Lebens nur vorbereitet und eingeleitet war. Der
Tod ist das Ergebniß, das Rèsumè des Lebens, oder die zusammengezogene
Summe, welche die gesammte Belehrung, die das Leben vereinzelt und stückweise
gab, mit Einem Male ausspricht, nämlich diese, daß das ganze Streben,
dessen Erscheinung das Leben ist, ein vergebliches, eitles, sich widersprechendes
war, von welchem zurückgekommen zu seyn eine Erlösung ist. Wie die gesammte,
langsame Vegetation der Pflanze sich verhält zur Frucht, die mit Einem
Schlage jetzt hundertfach leistet, was jene allmälig und stückweise;
so verhält sich das Leben, mit seinen Hindernissen, getäuschten Hoffnungen,
vereitelten Plänen und stetem Leiden, zum Tode, der Alles, Alles, was
der Mensch gewollt hat, mit Einem Schlage zerstört und so der Belehrung,
die das Leben ihm gab, die Krone aufsetzt. — Der vollbrachte Lebenslauf,
auf welchen man sterbend zurückblickt, hat auf den ganzen, in dieser
untergehenden Individualität sich objektivirenden Willen eine Wirkung,
welche der analog ist, die ein Motiv auf das Handeln des Menschen ausübt:
er giebt nämlich demselben eine neue Richtung, welche sonach das moralische
und wesentliche Resultat des Lebens ist. Eben weil ein plötzlicher Tod
diesen Rückblick unmöglich macht, sieht die Kirche einen solchen als
ein Unglück an, um dessen Abwendung gebetet wird. Weil sowohl dieser
Rückblick, wie auch die deutliche Vorhersicht des Todes, als durch Vernunft
bedingt, nur im Menschen, nicht im Thiere, möglich ist, und deshalb auch
nur er den Becher des Todes wirklich leert, ist die Menschheit die alleinige
Stufe, auf welcher der Wille sich verneinen und vom Leben ganz abwenden
kann. Dem Willen, der sich nicht verneint, verleiht jede Geburt einen
neuen und verschiedenen Intellekt, — bis er die wahre Beschaffenheit
des Lebens erkannt hat und in Folge hievon es nicht mehr will. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der Natur der Kreis,
weil er das Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der That die allgemeinste
Form in der Natur, welche sie in Allem durchführt, vom Laufe der Gestirne
an, bis zum Tod und der Entstehung organischer Wesen, und wodurch allein
in dem rastlosen Strom der Zeit und ihres Inhalts doch ein bestehendes
Daseyn, d. i. eine Natur, möglich wird.
Wenn man im Herbst die kleine Welt der Insekten betrachtet und nun sieht,
wie das eine sich sein Bett bereitet, um zu schlafen, den langen, erstarrenden
Winterschlaf; das andere sich einspinnt, um als Puppe zu überwintern
und einst, im Frühling, verjüngt und vervollkommnet zu erwachen; endlich
die meisten, als welche ihre Ruhe in den Armen des Todes zu halten gedenken,
bloß ihrem Ei sorgfältig die geeignete Lagerstätte anpassen, um einst
aus diesem erneuet hervorzugehen; — so ist dies die große Unsterblichkeitslehre
der Natur, welche uns beibringen möchte, daß zwischen Schlaf und Tod
kein radikaler Unterschied ist, sondern der Eine so wenig wie der Andere
das Daseyn gefährdet. Die Sorgfalt, mit der das Insekt eine Zelle, oder
Grube, oder Nest bereitet, sein Ei hineinlegt, nebst Futter für die im
kommenden Frühling daraus hervorgehende Larve, und dann ruhig stirbt,
— gleicht ganz der Sorgfalt, mit der ein Mensch am Abend sein Kleid
und sein Frühstück für den kommenden Morgen bereit legt und dann ruhig
schlafen geht, und könnte im Grunde gar nicht Statt haben, wenn nicht,
an sich und seinem wahren Wesen nach, das im Herbste sterbende Insekt
mit dem im Frühling auskriechenden eben so wohl identisch wäre, wie
der sich schlafen legende Mensch mit dem aufstehenden.
Wenn wir nun, nach diesen Betrachtungen, zu uns selbst und unserm Geschlechte
zurückkehren und dann den Blick vorwärts, weit hinaus in die Zukunft
werfen, die künftigen Generationen, mit den Millionen ihrer Individuen,
in der fremden Gestalt ihrer Sitten und Trachten uns zu vergegenwärtigen
suchen, dann aber mit der Frage dazwischenfahren: Woher werden diese Alle
kommen? Wo sind sie jetzt? — Wo ist der reiche Schooß des weltenschwangeren
Nichts, der sie noch birgt, die kommenden Geschlechter? — Wäre darauf
nicht die lächelnde und wahre Antwort: Wo anders sollen sie seyn, als
dort, wo allein das Reale stets war und seyn wird, in der Gegenwart und
ihrem Inhalt, also bei Dir, dem bethörten Frager, der, in diesem Verkennen
seines eigenen Wesens, dem Blatte am Baume gleicht, welches im Herbste
welkend und im Begriff abzufallen, jammert über seinen Untergang und
sich nicht trösten lassen will durch den Hinblick auf das frische Grün,
welches im Frühling den Baum bekleiden wird, sondern klagend spricht:
„Das bin ja Ich nicht! Das sind ganz andere Blätter!“ — O thörichtes
Blatt! Wohin willst du? Und woher sollen andere kommen? Wo ist das Nichts,
dessen Schlund du fürchtest? — Erkenne doch dein eigenes Wesen, gerade
Das, was vom Durst nach Daseyn so erfüllt ist, erkenne es wieder in der
innern, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets eine und
dieselbe in allen Generationen von Blät- tern, unberührt bleibt vom
Entstehen und Vergehen. Und nun οίη περ φυλλων γενεη,
τοιηδε και ανδρων. (Qalis foliorum generatio, talis et
hominum.) [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Wir freilich kennen kein höheres Würfelspiel, als das um Tod und
Leben: jeder Entscheidung über diese sehen wir mit der äußersten Spannung,
Theilnahme und Furcht entgegen: denn es gilt, in unsern Augen, Alles in
Allem. — Hingegen die Natur, welche doch nie lügt, sondern aufrichtig
und offen ist, spricht über dieses Thema ganz anders, nämlich so, wie
Krischna im Bhagavad-Gita. Ihre Aussage ist: an Tod oder Leben des Individuums
ist gar nichts gelegen. Dieses nämlich drückt sie dadurch aus, daß
sie das Leben jedes Thieres, und auch des Menschen, den unbedeutendesten
Zufällen Preis giebt, ohne zu seiner Rettung einzutreten. — Betrachtet
das Insekt auf eurem Wege: eine kleine, unbewußte Wendung eures Fußtrittes
ist über sein Leben oder Tod entscheidend. Seht die Waldschnecke, ohne
alle Mittel zur Flucht, zur Wehr, zur Täuschung, zum Verbergen, eine
bereite Beute für Jeden. Seht den Fisch sorglos im noch offenen Netze
spielen; den Frosch durch seine Trägheit von der Flucht, die ihn retten
könnte, abgehalten; den Vogel, der den über ihm schwebenden Falken nicht
gewahr wird; die Schaafe, welche der Wolf aus dem Busch ins Auge faßt
und mustert. Diese Alle gehen, mit wenig Vorsicht ausgerüstet, arglos
unter den Gefahren umher, die jeden Augenblick ihr Daseyn bedrohen. Indem
nun also die Natur ihre so unaussprechlich künstlichen Organismen nicht
nur der Raublust des Stärkeren, sondern auch dem blindesten Zufall und
der Laune jedes Narren, und dem Muthwillen jedes Kindes, ohne Rückhalt
Preis giebt, spricht sie aus, daß die Vernichtung dieser Individuen ihr
gleichgültig sei, ihr nicht schade, gar nichts zu bedeuten habe, und
daß, in jenen Fällen, die Wirkung so wenig auf sich habe, wie die Ursache.
Sie sagt dies sehr deutlich aus, und sie lügt nie: nur kommentirt sie
ihre Aussprüche nicht; vielmehr redet sie im lakonischen Stil der Orakel.
Wenn nun die Allmutter so sorglos ihre Kinder tausend drohenden Gefahren,
ohne Obhut, entgegensendet; so kann es nur seyn, weil sie weiß, daß
wenn sie fallen, sie in ihren Schooß zurückfallen, wo sie geborgen sind,
daher ihr Fall nur ein Scherz ist. Sie hält es mit dem Menschen nicht
anders, als mit den Thieren. Ihre Aussage also erstreckt sich auch auf
diesen: Leben oder Tod des Individuums sind ihr gleichgültig. Demzufolge
sollten sie es, in gewissem Sinne, auch uns seyn: denn wir selbst sind
ja die Natur. Gewiß würden wir, wenn wir nur tief genug sähen, der
Natur beistimmen und Tod oder Leben als so gleichgültig ansehen, wie
sie. Inzwischen müssen wir, mittelst der Reflexion, jene Sorglosigkeit
und Gleichgültigkeit der Natur gegen das Leben der Individuen dahin auslegen,
daß die Zerstörung einer solchen Erscheinung das wahre und eigentliche
Wesen derselben im Mindesten nicht anficht. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Derselben entsprechend ist auch, was uns den Tod so furchtbar macht,
nicht sowohl das Ende des Lebens, da dieses Keinem als des Regrettirens
sonderlich werth erscheinen kann; als vielmehr die Zerstörung des Organismus:
eigentlich, weil dieser der als Leib sich darstellende Wille selbst ist.
Diese Zerstörung fühlen wir aber wirklich nur in den Uebeln der Krankheit,
oder des Alters: hingegen der Tod selbst besteht, für das Subjekt, bloß
in dem Augenblick, da das Bewußtseyn schwindet, indem die Thätigkeit
des Gehirns stockt. Die hierauf folgende Verbreitung der Stockung auf
alle übrigen Theile des Organismus ist eigentlich schon eine Begebenheit
nach dem Tode. Der Tod, in subjektiver Hinsicht, betrifft also allein
das Bewußtseyn. Was nun das Schwinden dieses sei, kann Jeder einigermaaßen
aus dem Einschlafen beurtheilen: noch besser aber kennt es, wer je eine
wahre Ohnmacht gehabt hat, als bei welcher der Uebergang nicht so allmälig,
noch durch Träume vermittelt ist, sondern zuerst die Sehkraft, noch bei
vollem Bewußtseyn, schwindet, und dann unmittelbar die tiefste Bewußtlosigkeit
eintritt: die Empfindung dabei, so weit sie geht, ist nichts weniger als
unangenehm, und ohne Zweifel ist, wie der Schlaf der Bruder, so die Ohnmacht
der Zwillingsbruder des Todes. Auch der gewaltsame Tod kann nicht schmerzlich
seyn; da selbst schwere Verwundungen in der Regel gar nicht gefühlt,
sondern erst eine Weile nachher, oft nur an ihren äußerlichen Zeichen
bemerkt werden: sind sie schnell tödtlich; so wird das Bewußtseyn vor
dieser Entdeckung schwinden: tödten sie später; so ist es wie bei andern
Krankheiten. Auch alle Die, welche im Wasser, oder durch Kohlendampf,
oder durch Hängen das Bewußtseyn verloren haben, sagen bekanntlich aus,
daß es ohne Pein geschehen sei. Und nun endlich gar der eigentlich naturgemäße
Tod, der durch das Alter, die Euthanasie, ist ein allmäliges Verschwinden
und Verschweben aus dem Daseyn, auf unmerkliche Weise. Nach und nach erlöschen
im Alter die Leidenschaften und Begierden, mit der Empfänglichkeit für
ihre Gegenstände; die Affekte finden keine Anregung mehr: denn die vorstellende
Kraft wird immer schwächer, ihre Bilder matter, die Eindrücke haften
nicht mehr, gehen spurlos vorüber, die Tage rollen immer schneller, die
Vorfälle verlieren ihre Bedeutsamkeit, Alles verblasst. Der Hochbetagte
wankt umher, oder ruht in einem Winkel, nur noch ein Schatten, ein Gespenst
seines ehemaligen Wesens. Was bleibt da dem Tode noch zu zerstören? Eines
Tages ist dann ein Schlummer der letzte, und seine Träume sind —
— — Es sind die, nach welchen schon Hamlet frägt, in dem berühmten
Monolog. Ich glaube, wir träumen sie eben jetzt. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Nach Allem inzwischen, was über den Tod gelehrt worden, ist nicht
zu leugnen, daß, wenigstens in Europa, die Meinung der Menschen, ja oft
sogar des selben Individuums, gar häufig von Neuem hin und her schwankt
zwischen der Auffassung des Todes als absoluter Vernichtung und der Annahme,
daß wir gleichsam mit Haut und Haar unsterblich seien. Beides ist gleich
falsch: allein wir haben nicht sowohl eine richtige Mitte zu treffen,
als vielmehr den höhern Gesichtspunkt zu gewinnen, von welchem aus solche
Ansichten von selbst wegfallen.
Ich will, bei diesen Betrachtungen, zuvörderst vom ganz empirischen Standpunkt
ausgehen. – Da liegt uns zunächst die unleugbare Thatsache vor,
daß, dem natürlichen Bewußtseyn gemäß, der Mensch nicht bloß für
seine Person den Tod mehr als alles Andere fürchtet, sondern auch über
den der Seinigen heftig weint, und zwar offenbar nicht egoistisch über
seinen eigenen Verlust, sondern aus Mitleid über das große Unglück,
das Jene betroffen; daher er auch Den, welcher in solchem Falle nicht
weint und keine Betrübniß zeigt, als hartherzig und lieblos tadelt.
Diesem geht parallel, daß die Rachsucht, in ihren höchsten Graden, den
Tod des Gegners sucht, als das größte Uebel, das sich verhängen läßt. –
Meinungen wechseln nach Zeit und Ort; aber die Stimme der Natur bleibt
sich stets und überall gleich, ist daher vor Allem zu beachten. Sie scheint
nun hier deutlich auszusagen, daß der Tod ein großes Uebel sei. In der
Sprache der Natur bedeutet Tod Vernichtung. Und daß es mit dem Tode Ernst
sei, ließe sich schon daraus abnehmen, daß es mit dem Leben, wie es
Jeder weiß, kein Spaaß ist. Wir müssen wohl nichts Besseres, als diese
Beiden, werth seyn.
In der That ist die Todesfurcht von aller Erkenntniß unabhängig: denn
das Thier hat sie, obwohl es den Tod nicht kennt. Alles, was geboren wird,
bringt sie schon mit auf die Welt. Diese Todesfurcht a priori ist
aber eben nur die Kehrseite des Willens zum Leben, welcher wir Alle ja
sind. Daher ist jedem Thiere, wie die Sorge für seine Erhaltung, so die
Furcht vor seiner Zerstörung angeboren: diese also, und nicht das bloße
Vermeiden des Schmerzes ist es, was sich in der ängstlichen Behutsamkeit
zeigt, mit der das Thier sich und noch mehr seine Brut vor Jedem, der
gefährlich werden könnte, sicher zu stellen sucht. Warum flieht das
Thier, zittert und sucht sich zu verbergen? Weil es lauter Wille zum Leben,
als solcher aber dem Tode verfallen ist und Zeit gewinnen möchte. Eben
so ist, von Natur, der Mensch. Das größte der Uebel, das Schlimmste
was überall gedroht werden kann, ist der Tod, die größte Angst Todesangst.
Nichts reißt uns so unwiderstehlich zur lebhaftesten Theilnahme hin,
wie fremde Lebensgefahr: nichts ist entsetzlicher, als eine Hinrichtung.
Die hierin hervortretende gränzenlose Anhänglichkeit an das Leben kann
nun aber nicht aus der Erkenntniß und Ueberlegung entsprungen seyn: vor
dieser erscheint sie vielmehr thöricht; da es um den objektiven Werth
des Lebens sehr mißlich steht, und wenigstens zweifelhaft bleibt, ob
dasselbe dem Nichtseyn vorzuziehen sei, ja, wenn Erfahrung und Ueberlegung
zu Worte kommen, das Nichtseyn wohl gewinnen muß. Klopfte man an die
Gräber und fragte die Todten, ob sie wieder aufstehen wollten; sie würden
mit dem Kopfe schütteln. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Der Wille zum Leben erscheint sich in endloser Gegenwart; weil diese
die Form des Lebens der Gattung ist, welche daher nicht altert, sondern
immer jung bleibt. Der Tod ist für sie, was der Schlaf für das Individuum,
oder was für das Auge das Winken ist, an dessen Abwesenheit die Indischen
Götter erkannt werden, wenn sie in Menschengestalt erscheinen. Wie durch
den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen Augenblick
zu seyn aufhört; eben so scheinbar vergeht Mensch und Thier durch den
Tod, und eben so ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Nun denke
man sich jenen Wechsel von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen,
und man hat die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden
Ideen der Wesen vor sich, fest stehend, wie der Regenbogen auf dem Wasserfall.
Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit. In Folge derselben ist, trotz
Jahrtausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts verloren gegangen,
kein Atom der Materie, noch weniger etwas von dem innern Wesen, welches
als die Natur sich darstellt. Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemuth
ausrufen: „Trotz Zeit, Tod und Verwesung, sind wir noch Alle beisammen!“
Etwan Der wäre auszunehmen, der zu diesem Spiele ein Mal aus Herzensgrunde
gesagt hätte: „Ich mag nicht mehr.“ Aber davon zu reden ist hier
noch nicht der Ort. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Ueberdies ließe sich nun aber noch in Erwägung bringen, daß die
Individualität der meisten Menschen eine so elende und nichtswürdige
ist, daß sie wahrlich nichts daran verlieren, und daß was an ihnen noch
einigen Werth haben mag, das allgemein Menschliche ist: diesem aber kann
man die Unvergänglichkeit versprechen. Ja, schon die starre Unveränderlichkeit
und wesentliche Beschränkung jeder Individualität, als solcher, müßte,
bei einer endlosen Fortdauer derselben, endlich, durch ihre Monotonie,
einen so großen Ueberdruß erzeugen, daß man, um ihrer nur entledigt
zu seyn, lieber zu Nichts würde. Unsterblichkeit der Individualität
verlangen, heißt eigentlich einen Irrthum ins Unendliche perpetuiren
wollen. Denn im Grunde ist doch jede Individualität nur ein specieller
Irrthum, Fehltritt, etwas das besser nicht wäre, ja, wovon uns zurückzubringen
der eigentliche Zweck des Lebens ist. Dies findet seine Bestätigung auch
darin, daß die allermeisten, ja, eigentlich alle Menschen so beschaffen
sind, daß sie nicht glücklich seyn könnten, in welche Welt auch immer
sie versetzt werden möchten. In dem Maaße nämlich, als eine solche
Noth und Beschwerde ausschlösse, würden sie der Langenweile anheimfallen,
und in dem Maaße, als dieser vorgebeugt wäre, würden sie in Noth, Plage
und Leiden gerathen. Zu einem glücksäligen Zustande des Menschen wäre
also keineswegs hinreichend, daß man ihn in eine „bessere Welt“ versetzte,
sondern auch noch erfordert, daß mit ihm selbst eine Grundveränderung
vorgienge, also daß er nicht mehr wäre was er ist, und dagegen würde
was er nicht ist. Dazu aber muß er zuvörderst aufhören zu seyn was
er ist: dieses Erforderniß erfüllt vorläufig der Tod, dessen moralische
Nothwendigkeit sich von diesem Gesichtspunkt aus schon absehen läßt.
In eine andere Welt versetzt werden, und sein ganzes Wesen verändern, —
ist im Grunde Eins und dasselbe. Hierauf beruht auch zuletzt jene Abhängigkeit
des Objektiven vom Subjektiven, welche der Idealismus unsers ersten Buches
darlegt: demnach liegt hier der Anknüpfungspunkt der Transscendentalphilosophie
an die Ethik. Wenn man dies berücksichtigt, wird man das Erwachen aus
dem Traume des Lebens nur dadurch möglich finden, daß mit demselben
auch sein ganzes Grundgewebe zerrinnt: dies aber ist sein Organ selbst,
der Intellekt, sammt seinen Formen, als mit welchem der Traum sich ins
Unendliche fortspinnen würde; so fest ist er mit jenem verwachsen. Das,
was ihn eigentlich träumte, ist doch noch davon verschieden und bleibt
allein übrig. Hingegen ist die Besorgniß, es möchte mit dem Tode Alles
aus seyn, Dem zu vergleichen, daß Einer im Traume dächte, es gäbe bloß
Träume, ohne einen Träumenden. — Nachdem nun aber durch den Tod
ein individuelles Bewußtseyn ein Mal geendigt hat; wäre es da auch nur
wünschenswerth, daß es wieder angefacht würde, um ins Endlose fortzubestehen?
Sein Inhalt ist, dem größten Theile nach, ja meistens durchweg, nichts
als ein Strom kleinlicher, irdischer, armsäliger Gedanken und endloser
Sorgen: laßt diese doch endlich beruhigt werden! — Mit richtigem
Sinne setzten daher die Alten auf ihre Grabsteine: securitati perpetuae; —
oder bonae quieti. Wollte man aber gar hier, wie so oft geschehen, Fortdauer
des individuellen Bewußtseyns verlangen, um eine jenseitige Belohnung
oder Bestrafung daran zu knüpfen; so würde es hiemit im Grunde nur auf
die Vereinbarkeit der Tugend mit dem Egoismus abgesehen seyn. Diese Beiden
aber werden sich nie umarmen: sie sind von Grund aus Entgegengesetzte.
Wohlbegründet hingegen ist die unmittelbare Ueberzeugung, welche der
Anblick edler Handlungen hervorruft, daß der Geist der Liebe, der Diesen
seiner Feinde schonen, Jenen des zuvor nie Gesehenen sich mit Lebensgefahr
annehmen heißt, nimmermehr verfliegen und zu Nichts werden kann. —
[...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Jedes neugeborene Wesen zwar tritt frisch und freudig in das neue
Daseyn und genießt es als ein geschenktes: aber es giebt und kann nichts
Geschenktes geben. Sein frisches Daseyn ist bezahlt durch das Alter und
den Tod eines abgelebten, welches untergegangen ist, aber den unzerstörbaren
Keim enthielt, aus dem dieses neue entstanden ist: sie sind ein Wesen.
Die Brücke zwischen Beiden nachzuweisen, wäre freilich die Lösung eines
großen Räthsels.
Die hier ausgesprochene große Wahrheit ist auch nie ganz verkannt worden,
wenn sie gleich nicht auf ihren genauen und richtigen Sinn zurückgeführt
werden konnte, als welches allein durch die Lehre vom Primat und metaphysischen
Wesen des Willens, und der sekundären, bloß organischen Natur des Intellekts
möglich wird. Wir finden nämlich die Lehre von der Metempsychose, aus
den urältesten und edelsten Zeiten des Menschengeschlechts stammend,
stets auf der Erde verbreitet, als den Glauben der großen Majorität
des Menschengeschlechts, ja, eigentlich als Lehre aller Religionen, mit
Ausnahme der jüdischen und der zwei von dieser ausgegangenen; am subtilsten
jedoch und der Wahrheit am nächsten kommend, wie schon erwähnt, im Buddhaismus.
Während demgemäß die Christen sich trösten mit dem Wiedersehen in
einer andern Welt, in welcher man sich in vollständiger Person wiederfindet
und sogleich erkennt, ist in jenen übrigen Religionen das Wiedersehen
schon jetzt im Gange, jedoch incognito: nämlich im Kreislauf der Geburten
und kraft der Metempsychose, oder Palingenesie, werden die Personen, welche
jetzt in naher Verbindung oder Berührung mit uns stehen, auch bei der
nächsten Geburt zugleich mit uns geboren, und haben die selben, oder
doch analoge Verhältnisse und Gesinnungen zu uns, wie jetzt, diese mögen
nun freundlicher, oder feindlicher Art seyn. (Man sehe z. B. Spence
Hardy's Manual of Buddhism, p. 162.) Das Wiedererkennen beschränkt
sich dabei freilich auf eine dunkle Ahndung, eine nicht zum deutlichen
Bewußtseyn zu bringende und auf eine unendliche Ferne hindeutende Erinnerung; –
mit Ausnahme jedoch des Buddha selbst, der das Vorrecht hat, seine und
der Andern frühere Geburten deutlich zu erkennen; – wie Dies in
den Jatakas beschrieben ist. Aber, in der That, wenn man, in begünstigten
Augenblicken, das Thun und Treiben der Menschen, in der Realität, rein
objektiv ins Auge faßt; so drängt sich Einem die intuitive Ueberzeugung
auf, daß es nicht nur, den (Platonischen) Ideen nach, stets das selbe
ist und bleibt, sondern auch, daß die gegenwärtige Generation, ihrem
eigentlichen Kern nach, geradezu, und substantiell identisch ist mit jeder
vor ihr dagewesenen. Es frägt sich nur, worin dieser Kern besteht: die
Antwort, welche meine Lehre darauf giebt, ist bekannt. Die erwähnte intuitive
Ueberzeugung kann man sich denken als dadurch entstehend, daß die Vervielfältigungsgläser,
Zeit und Raum, momentan eine Intermittenz ihrer Wirksamkeit erlitten. –
Hinsichtlich der Allgemeinheit des Glaubens an Metempsychose sagt Obry
in seinem vortrefflichen Buche: Du Nirvana Indien, p. 13, mit Recht:
Cette vieille croyance a fait le tour du monde, et était tellement répandue
dans la haute antiquité, qu'un docte Anglican l'avait jugée sans père,
sans mère, et sans généalogie (Ths. Burnet, dans Beausobre, Hist. du
Manichéisme, II, p. 391). Schon in den Veden, wie in
allen heiligen Büchern Indiens, gelehrt, ist bekanntlich die Metempsychose
der Kern des Brahmanismus und Buddhaismus, herrscht demnach noch jetzt
im ganzen nicht islamisirten Asien, also bei mehr als der Hälfte des
ganzen Menschengeschlechts, als die festeste Ueberzeugung und mit unglaublich
starkem praktischen Einfluß. Ebenfalls war sie der Glaube der Aegypter
(Herod., II, 123), von welchen Orpheus, Pythagoras und Plato
sie mit Begeisterung entgegennahmen: besonders aber hielten die Pythagoreer
sie fest. Daß sie auch in den Mysterien der Griechen gelehrt wurde, geht
unleugbar hervor aus Platons neuntem Buch von den Gesetzen ( p. 38
et 42, ed. Bip.). Nemesius ( De nat. hom., c. 2) sagt sogar:
Κοινη μεν οὐν παντες Έλληνες, οἱ την ψυχην
αϑανατον αποφηναμενοι, την μετεναωματωσιν
δογματιζουσι. ( Communiter igitur omnes Graeci, qui animam
immortalem statuerunt, eam de uno corpore in aliud transferri censuerunt.)
Auch die Edda, namentlich in der Voluspa, lehrt Metempsychose. Nicht weniger
war sie die Grundlage der Religion der Druiden ( Caes. de bello Gall., VI. –
A. Pictet, Le mystère des Bardes de l'ile de Bretagne, 1856). Sogar eine
Mohammedanische Sekte in Hindostan, die Bohrahs, von denen Colebrooke
in den Asiat. res., Vol. 7, p. 336 sqq. ausführlich berichtet,
glaubt an die Metempsychose und enthält demzufolge sich aller Fleischspeise.
Selbst bei Amerikanischen und Negervölkern, ja sogar bei den Australiern
finden sich Spuren davon, wie hervorgeht aus einer in der Englischen Zeitung,
the Times, vom 29. Januar 1841, gegebenen genauen Beschreibung
der wegen Brandstiftung und Mord erfolgten Hinrichtung zweier Australischer
Wilden. Daselbst nämlich heißt es: „Der jüngere von ihnen ging seinem
Schicksal mit verstocktem und entschlossenem Sinn, welcher, wie sich zeigte,
auf Rache gerichtet war, entgegen: denn aus dem einzigen verständlichen
Ausdruck, dessen er sich bediente, ging hervor, daß er wieder auferstehen
würde als ›ein weißer Kerl‹, und dies verlieh ihm die Entschlossenheit.“
Auch in einem Buche von Ungewitter, „Der Welttheil Australien“, 1853,
wird erzählt, daß die Papuas in Neuholland die Weißen für ihre eigenen,
auf die Welt zurückgekehrten Anverwandten hielten. Diesem Allen zufolge
stellt der Glaube an Metempsychose sich dar als die natürliche Ueberzeugung
des Menschen, sobald er, unbefangen, irgend nachdenkt. Er wäre demnach
wirklich Das, was Kant fälschlich von seinen drei vorgeblichen Ideen
der Vernunft behauptet, nämlich ein der menschlichen Vernunft natürliches,
aus ihren eigenen Formen hervorgehendes Philosophem; und wo er sich nicht
findet, wäre er durch positive, anderweitige Religionslehren erst verdrängt.
Auch habe ich bemerkt, daß er Jedem, der zum ersten Mal davon hört,
sogleich einleuchtet. Man sehe nur, wie ernstlich sogar Lessing ihm das
Wort redet in den letzten sieben Paragraphen seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“.
Auch Lichtenberg sagt, in seiner Selbstcharakteristik: „Ich kann den
Gedanken nicht los werden, daß ich gestorben war, ehe ich geboren wurde.“
Sogar der so übermäßig empirische Hume sagt in seiner skeptischen Abhandlung
über die Unsterblichkeit, p. 23: The metempsychosis is therefore
the only system of this kind that philosophy can hearken to *). Was diesem,
über das ganze Menschengeschlecht verbreiteten und den Weisen, wie dem
Volke einleuchtenden Glauben entgegensteht, ist das Judenthum, nebst den
aus diesem entsprossenen zwei Religionen, sofern sie eine Schöpfung des
Menschen aus Nichts lehren, an welche er dann den Glauben an eine endlose
Fortdauer a parte post zu knüpfen die harte Aufgabe hat. Ihnen freilich
ist es, mit Feuer und Schwert, gelungen, aus Europa und einem Theile Asiens
jenen tröstlichen Urglauben der Menschheit zu verdrängen: es steht noch
dahin auf wie lange. Wie schwer es jedoch gehalten hat, bezeugt die älteste
Kirchengeschichte: die meisten Ketzer, z. B. Simonisten, Basilidianer,
Valentinianer, Marcioniten, Gnostiker und Manichäer waren eben jenem
Urglauben zugethan. Die Juden selbst sind zum Theil hineingerathen, wie
Tertullian und Justinus (in seinen Dialogen) berichten. Im Talmud wird
erzählt, daß Abel's Seele in den Leib des Seth und dann in den des Moses
gewandert sei. Sogar die Bibelstelle, Matth. 16, 13 –
15, erhält einen vernünftigen Sinn nur dann, wann man sie als unter
der Voraussetzung des Dogmas der Metempsychose gesprochen versteht. Lukas
freilich, der sie (9, 18 – 20) auch hat, fügt hinzu ὁτι
πϱοφητης τις των αϱχαιων ανεστη, schiebt also
den Juden die Voraussetzung unter, daß so ein alter Prophet noch mit
Haut und Haar wieder auferstehen könne, welches, da sie doch wissen,
daß er schon 6 bis 700 Jahr im Grabe liegt, folglich längst
zerstoben ist, eine handgreifliche Absurdität wäre. Im Christenthum
ist übrigens an die Stelle der Seelenwanderung und der Abbüßung aller
in einem frühern Leben begangenen Sünden durch dieselbe die Lehre von
der Erbsünde getreten, d. h. von der Buße für die Sünde eines
andern Individuums. Beide nämlich identifiziren, und zwar mit moralischer
Tendenz, den vorhandenen Menschen mit einem früher dagewesenen: die Seelenwanderung
unmittelbar, die Erbsünde mittelbar. – [...]
*) „Die Metempsychose ist daher das einzige System dieser Art, auf welches
die Philosophie hören kann.“ – Diese posthume Abhandlung findet sich
in den Essays on suicide and the immortality of the Soul, by the late
Dav. Hume, Basil 1799, sold by James Decker. Durch diesen Baseler Nachdruck
nämlich sind jene beiden Werke eines der größten Denker und Schriftsteller
Englands vom Untergange gerettet worden, nachdem sie in ihrem Vaterlande,
in Folge der daselbst herrschenden stupiden und überaus verächtlichen
Bigotterie, durch den Einfluß einer mächtigen und frechen Pfaffenschaft
unterdrückt worden waren, zur bleibenden Schande Englands. Es sind ganz
leidenschaftslose, kalt vernünftige Untersuchungen der beiden genannten
Gegenstände.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Ohne alle Aufmunterung von außen hat die Liebe zu meiner Sache ganz allein,
meine vielen Tage hindurch, mein Streben aufrecht gehalten und mich nicht
ermüden lassen: mit Verachtung blicke ich dabei auf den lauten Ruhm des
Schlechten. Denn beim Eintritt ins Leben hatte mein Genius mir die Wahl
gestellt, entweder die Wahrheit zu erkennen, aber mit ihr Niemanden zu
gefallen; oder aber, mit den Andern das Falsche zu lehren unter Anhang
und Beifall: mir war sie nicht schwer geworden.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Kein Unterschied des Standes, des Ranges, der Geburt, ist so groß, wie
die Kluft zwischen den zahllosen Millionen, die ihren Kopf nur als einen
Diener des Bauches, d. h. als ein Werkzeug zu den Zwecken des Willens
betrachten und gebrauchen, - und den so äußerst Wenigen und Seltenen,
welche den Mut haben, zu sagen: Nein, er ist zu gut dazu: er soll bloß
zu seinen eigenen Zwecken tätig sein, also zur Auffassung des wundersamen
und bunten Schauspiels dieser Welt, um solches nachher wieder zu geben,
in dieser oder jener Art, als Bild oder als Erklärung, nach Beschaffenheit
des jedesmaligen Individui, das ihn trägt. Dies sind die wahrhaft Edeln,
die eigentliche Noblesse der Welt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das eben ist der Fluch dieser Welt der Not und des Bedürfnisses, daß
diesen alles dienen und fröhnen muß: daher eben ist sie nicht so beschaffen,
daß in ihr irgend ein edles und erhabenes Streben, wie das nach Licht
und Wahrheit ist, ungehindert gedeihen und seiner selbst wegen da sein
dürfte. Sondern selbst wenn einmal ein solches sich hat geltend machen
können und dadurch der Begriff davon eingeführt ist; so werden alsbald
die materiellen Interessen, die persönlichen Zwecke, auch seiner sich
bemächtigen, um ihr Werkzeug, oder ihre Maske daraus zu machen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das Sterben ist der Augenblick jener Befreiung von der Einseitigkeit einer
Individualität, welche nicht den innersten Kern unsers Wesens ausmacht,
vielmehr als eine Art Verirrung desselben zu denken ist: die wahre, ursprüngliche
Freiheit tritt wieder ein, in diesem Augenblick, welcher, im angegebenen
Sinn, als eine restitutio in integrum betrachtet werden kann. Der Friede
und die Beruhigung auf dem Gesichte der meisten Toten scheint daher zu
stammen. Ruhig und sanft ist, in der Regel, der Tod jedes guten Menschen:
aber willig sterben, gern sterben, freudig sterben, ist das Vorrecht des
Resignierten, dessen, der den Willen zum Leben aufgibt und verneint. Denn
nur er will wirklich und nicht bloß scheinbar sterben, folglich braucht
und verlangt er keine Fortdauer seiner Person. Das Dasein, welches wir
kennen, gibt er willig auf: was ihm statt dessen wird, ist in unsern Augen
nichts; weil unser Dasein, auf jenes bezogen, nichts ist. Der Buddhaistische
Glaube nennt jenes Nirwana, d. h. Erloschen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Eine seltsame und unwürdige Definition der Philosophie, die aber sogar
noch Kant gibt, ist diese, daß sie eine Wissenschaft aus bloßen Begriffen
wäre. Ist doch das ganze Eigentum der Begriffe nichts anderes, als was
darin niedergelegt worden, nachdem man es der anschaulichen Erkenntnis
abgeborgt und abgebettelt hatte, dieser wirklichen und unerschöpflichen
Quelle aller Einsicht. Daher läßt eine wahre Philosophie sich nicht
herausspinnen aus bloßen, abstrakten Begriffen, sondern muß gegründet
sein auf Beobachtung und Erfahrung, sowohl innere, als äußere. Auch
nicht durch Kombinationsversuche mit Begriffen, wie sie so oft, zumal
aber von den Sophisten unserer Zeit, also von Fichte und Schelling, jedoch
in größter Widerwärtigkeit von Hegel, daneben auch, in der Moral, von
Schleiermacher ausgeführt worden sind, wird je etwas Rechtes in der Philosophie
geleistet werden. Sie muß, so gut wie Kunst und Poesie, ihre Quelle in
der anschaulichen Auffassung der Welt haben: auch darf es dabei, so sehr
auch der Kopf oben zu bleiben hat, doch nicht so kaltblütig hergehn,
daß nicht am Ende der ganze Mensch, mit Herz und Kopf, zur Aktion käme
und durch und durch erschüttert würde. Philosophie ist kein Algebraexempel.
Vielmehr hat Vauvenargues recht, indem er sagt: Les grandes pensèes viennent
du coeur.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Unser Glück hängt ab von dem, was wir sind, von unserer Individualität;
während man meistens nur unser Schicksal, nur das, was wir haben, oder
was wir vorstellen, in Anschlag bringt. Das Schicksal aber kann sich bessern:
zudem wird man, bei innerem Reichtum, von ihm nicht viel verlangen: hingegen
ein Tropf bleibt ein Tropf, ein stumpfer Klotz ein stumpfer Klotz, bis
an sein Ende, und wäre er im Paradiese und von Houris umgeben.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Vergeben und vergessen heißt gemachte kostbare Erfahrungen zum Fenster
hinauswerfen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Keine Wissenschaft imponiert der Menge so sehr, wie die Astronomie. Demgemäß
thun denn auch die Astronomen, die großenteils bloße Rechenköpfe und,
wie es bei solchen die Regel ist, übrigens von untergeordneten Fähigkeiten
sind, oft sehr vornehm mit ihrer "allererhabensten Wissenschaft"
u. dgl. m. Schon Plato hat über diese Ansprüche der Astronomie gespottet
und daran erinnert, daß das Erhabene nicht gerade das heiße, was nach
oben zu liegt (De Rep. L. VII, p.156, 57. ed. Bib.). - Die fast abgöttische
Verehrung, welche, zumal in England, Newton genießt, übersteigt allen
Glauben. Noch kürzlich wurde er, in den Times, the greatest of human
beings (das größte aller menschlichen Wesen) genannt, und in einem andern
Aufsatze desselben Blattes sucht man uns dadurch wieder aufzurichten,
daß man uns versichert, er wäre doch auch nur ein Mensch gewesen! Im
Jahre 1815 ist (nach Bericht der Wochenschrift Examiner, abgedruckt im
Galignani vom 11. Januar 1853) ein Zahn Newtons für 730 Pfund Sterling
verkauft worden, an einen Lord, der ihn in einen Ring fassen ließ; welches
an den heiligen Zahn des Buddha erinnert. Diese lächerliche Veneration
des großen Rechenmeisters beruht nun darauf, daß die Leute zum Maßstabe
seines Verdienstes die Größe der Massen nehmen, deren Bewegung er auf
ihre Gesetze, und diese auf die darin wirkende Naturkraft, zurückgeführt
hat (welches letztere übrigens nicht einmal seine, sondern Robert Hookes
Entdeckung war, der er bloß, durch Berechnung, Gewißheit erteilt hat).
Denn sonst ist nicht abzusehn, warum ihm mehr Verehrung gebühre, als
jedem andern, der gegebene Wirkungen auf die Aeußerung einer bestimmten
Naturkraft zurückführt, und warum nicht z. B. Lavoisier ebenso hoch
zu schätzen sein sollte. Im Gegenteil ist die Aufgabe, aus vielerlei
zusammenwirkenden Naturkräften gegebene Erscheinungen zu erklären, und
sogar jene erst aus diesen herauszufinden, viel schwieriger, als die,
welche nur zwei und zwar so simple und einförmig wirkende Kräfte, wie
Gravitation und Trägheit, im widerstandslosen Raume, zu berücksichtigen
hat: und gerade auf dieser unvergleichlichen Einfachheit, oder Aermlichkeit,
ihres Stoffes beruht die mathematische Gewißheit, Sicherheit und Genauigkeit
der Astronomie, vermöge welcher sie die Welt dadurch in Erstaunen versetzt,
daß sie sogar noch nicht gesehene Planeten ankündigen kann; --- welches
letztere, so sehr es auch bewundert worden, beim Lichte betrachtet, doch
nur dieselbe Verstandesoperation ist, die bei jedem Bestimmen einer noch
ungesehenen Ursache aus ihrer sich kundgebenden Wirkung vollzogen wird
und in noch bewunderungswürdigerem Grade ausgeführt wurde, durch jenen
Weinkenner, der aus einem Glase Wein mit Sicherheit erkannte, es müßte
Leder im Fasse sein, welches ihm abgeleugnet wurde, bis, nach endlicher
Ausleerung desselben, sich, auf dessen Boden liegend, ein Schlüssel,
mit einem Riemchen daran, fand. Die hiebei und bei der Entdeckung des
Neptuns stattfindende Verstandesoperation ist dieselbe, und der Unterschied
liegt bloß in der Anwendung, also im Gegenstand; sie ist bloß durch
den Stoff, keineswegs durch die Form verschieden. - Daguerres Erfindung
hingegen, wenn nicht etwan, wie einige behaupten, der Zufall viel dazu
beigetragen hat, daher Arago die Theorie dazu erst hinterher ersinnen
mußte*), ist hundertmal scharfsinniger, als die so bewunderte Entdeckung
des Leverrier. - Aber, wie gesagt, auf der Größe der in Rede stehenden
Massen und den gewaltigen Entfernungen beruht die Ehrfurcht der Menge.
- Bei dieser Gelegenheit sei auch gesagt, daß manche physikalische und
chemische Entdeckungen von unberechenbarem Wert und Nutzen für das ganze
Menschengeschlecht sein können; während gar wenig Witz dazu gehörte
sie zu machen, so wenig, daß bisweilen der Zufall die Funktion desselben
allein versieht. Also ist ein weiter Unterschied zwischen dem geistigen
und dem materiellen Wert solcher Entdeckungen.
Vom Standpunkte der Philosophie aus, könnte man die Astronomen Leuten
vergleichen, welche der Ausführung einer großen Oper beiwohnten, jedoch,
ohne sich durch die Musik, oder den Inhalt des Stücks, zerstreuen zu
lassen, bloß acht gäben auf die Maschinerie der Dekorationen und auch
so glücklich wären, das Getriebe und den Zusammenhang derselben vollkommen
herauszubringen.
*) Die Erfindungen geschehn meistens durch bloßes Tappen und Probieren:
die Theorie einer jeden wird hinterher erdacht; eben wie zu einer erkannten
Wahrheit der Beweis.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn ein Mensch so wie ich geboren ist, bleibt von Außen nur dies Eine
zu wünschen, daß er soviel als möglich seine ganze Lebenszeit hindurch,
und jeden Tag und jede Stunde er selbst sein und seinem Geiste leben könne.
Aber schwer ist die Erfüllung dieser Forderung in einer Welt, wo des
Menschen Loos und Bestimmung ganz andere sind, wo zwischen Armut, die
uns alle freie Muße nimmt, und Reichtum, der auf jede Weise sie zu verderben
und uns abzuziehen trachtet, wie zwischen Scylla und Charybdis durchzusteuern
ist. Von der Natur bestimmt ist des Menschen Loos: Tages Arbeit, Nachts
Ruhe und wenig Muße, und des Menschen Glück: Weib und Kind, die sein
Trost sind im Leben und Sterben. Wo aber eine abnorme Beschaffenheit große
geistige Bedürfnisse, und mit diesen die Möglichkeit großer geistiger
Genüsse herbeigeführt, da wird freie Muße zur Hauptbedingung des Glücks,
für welche sodann dem normalen Menschenglück durch Weib und Kind willig
entsagt wird. Das Individuum dieser Art gehört einer andern Sphäre an.
Allein zur Befriedigung dieser veränderten Forderung sind äußere Umstände
der Art, wie sie schon sehr selten eintreten, die Bedingung. Hier muß
ein günstiges Schicksal walten, um einer außerordentlichen Natur außerordentliche
Umstände zu bereiten. Da tritt denn ein, was der neunzigjährige Knebel
in Erfahrung gebracht hat: daß in dem Leben der meisten Menschen sich
ein gewisser Plan findet, der durch die eigene Natur sowohl als durch
die Umstände, die sie führen, ihnen gleichsam vorgezeichnet ist; die
Zustände ihres Lebens mögen noch so abwechselnd und veränderlich sein,
es zeigt sich doch am Ende ein Ganzes, das unter sich eine gewisse Übereinstimmung
bemerken läßt. Die Hand eines bestimmten Schicksals, so verborgen sie
auch wirken mag, zeigt sich: sie mag nun durch äußere Wirkung oder innere
Regung bewegt sein; ja widersprechende Gründe bewegen sich oft in ihrer
Richtung.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Philosophie nach dem Willen der Machthaber modeln und sie zum Werkzeuge
ihrer Pläne machen, um dafür Geld und Ämter zu erlangen, - kommt mir
vor, wie wenn Einer zur Kommunion geht, um seinen Hunger und Durst zu
stillen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In einer so durchweg gemeinen Welt wird notwendig jedes Ungemeine sich
isolieren und hat es auch getan. Je mehr man sich der Gesellschaft der
Menschen entschlagen kann, desto besser befindet man sich. Wie der Hungrige
ein uneßbares oder gar giftiges Kraut stehen läßt, so muß es, wer
das Bedürfnis der Gesellschaft fühlt, mit den Menschen, wie sie sind,
machen. Ein seltenes und großes Glück ist es daher, an sich selber so
viel zu besitzen, daß man nicht durch Überdruß seiner Selbst und durch
Langeweile getrieben wird, die Gesellschaft der Menschen zu suchen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Was wir auch thun, der Anteil am Irdischen ist nicht zu vertilgen; nicht
zu töten die Sorge und die Hoffnung auf dies, auf jenes, sie regen sich
immer von neuem. Nur das muß man erzwingen, daß man keiner Sache sich
ganz hingibt, daß keine unsere Gedanken so ganz einnehme, daß wir alles
darauf beziehen. Man muß sich nicht zu gemein mit den Sorgen, den Hoffnungen,
den Betrübnissen und den Freuden machen; es gilt von ihnen, was Martial
von den Freunden sagt: mache dich mit Keinem zu vertraut; du wirst weniger
Freuden, aber auch weniger zu leiden haben. Und da wir von dem Anteil
an unserm persönlichen Ich uns nie ganz befreien können, zugleich aber
wissen, daß wir nie wahre Freuden aus ihm erhalten können, wohl aber
Störung der wahren Freude, so müssen wir suchen, es so wenig wie möglich
in die Händel der Welt zu mischen, so wenig wie möglich äußeres Leben
führen, nicht die Genüsse vermehren, sondern die Bedürfnisse verringern
zu wollen, nicht Schauspieler, sondern Zuschauer zu sein.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Auf den Namen der „Philosophie der gegenwärtigen Zeit“, welchen
man den so ergötzlichen Adepten der Hegelschen Mystifikation hat streitig
machen wollen, macht meine Lehre durchaus keinen Anspruch, aber wohl auf
den der Philosophie der kommenden Zeit, jener Zeit, die nicht mehr an
sinnleerem Wortkram, hohlen Phrasen und spielenden Parallelismen ihr Genüge
finden, sondern realen Inhalt und ernstliche Aufschlüsse von der Philosophie
verlangen, dagegen aber auch sie verschonen wird mit der ungerechten und
ungereimten Forderung, daß sie eine Paraphrase der jedesmaligen Landesreligion
sein müsse. „Denn es ist sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung
zu erwarten, und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie
notwendig ausfallen müsse.“ Kant, Krit. der rein. Vern. S. 775. 5.
Ausg. — Traurig, in einer so tief gesunkenen Zeit zu leben, daß eine
solche sich von selbst verstehende Wahrheit noch erst durch die Autorität
eines großen Mannes beglaubigt werden muß. Lächerlich aber ist es,
wenn von einer Philosophie an der Kette große Dinge erwartet werden,
und vollends belustigend zu sehen, wenn diese mit feierlichem Ernst sich
anschickt, solche zu leisten, während jeder der langen Rede kurzen Sinn
zum voraus weiß. Die Scharfsichtigeren aber wollen meistens unter dem
Mantel der Philosophie die darin verkappte Theologie erkannt haben, die
das Wort führe und den wahrheitsdurstigen Schüler auf ihre Weise belehre;
— welches denn an eine beliebte Scene des großen Dichters erinnert.
Jedoch andre, deren Blick noch tiefer eingedrungen sein will, behaupten,
daß was in jenem Mantel stecke so wenig die Theologie als die Philosophie
sei, sondern bloß ein armer Schlucker, der, indem er mit feierlichster
Miene und tiefem Ernst die hohe, hehre Wahrheit zu suchen vorgibt, in
der That nichts weiter suche, als ein Stück Brot für sich und dereinstige
junge Familie, was er freilich auf andern Wegen mit weniger Mühe und
mehr Ehre erreichen könnte, inzwischen um diesen Preis erbötig ist,
was nur verlangt wird, nötigenfalls sogar den Teufel und seine Großmutter
a priori zu deduzieren, ja, wenn es sein muß, intellektual anzuschauen;
— wo denn allerdings durch den Kontrast der Höhe des vorgeblichen,
mit der Niedrigkeit des wirklichen Zwecks die Wirkung des Hochkomischen
in seltenem Grade erreicht wird, nichtsdestoweniger aber es wünschenswert
bleibt, daß der reine, heilige Boden der Philosophie von solchen Gewerbsleuten,
wie weiland der Tempel zu Jerusalem von den Verkäufern und Wechslern
gesäubert werde. — Bis also jene bessere Zeit gekommen sein wird, mag
das philosophische Publikum seine Aufmerksamkeit und Teilnahme wie bisher
verwenden. Wie bisher werde auch fernerhin neben Kant, — diesem der
Natur nur einmal gelungenen großen Geiste, der seine eigenen Tiefen beleuchtet
hat — jedesmal und obligat, — nämlich als eben noch so einer, —
Fichte genannt; ohne daß auch nur eine Stimme dazwischen riefe: Ηραϰλήδ
ϰαί πίϑηϰος! — Wie bisher sei auch fernerhin Hegels Philosophie
des absoluten Unsinns (davon 3/4 bar und 1/4 in aberwitzigen Einfällen)
unergründlich tiefe Weisheit; ohne daß Shakespeares Wort such stuff
as madmen tongue and brain not *) zum Motto seiner Schriften vorgeschlagen
werde, und zum Vignettenemblem derselben ein Tintenfisch, der eine Wolke
von Finsternis um sich schafft, damit man nicht sehe was es sei, mit der
Umschrift mea caligine tutus. — Wie bisher endlich bringe auch ferner
jeder Tag neue Systeme, rein aus Worten und Phrasen zusammengesetzt, zum
Gebrauch der Universitäten, nebst einem gelehrten Jargon dazu, in welchem
man tagelang reden kann, ohne je etwas zu sagen, und nimmer störe diese
Freude jenes arabische Sprichwort: „Das Klappern der Mühle höre ich
wohl; aber das Mehl sehe ich nicht.“ — Denn alles dieses ist nun einmal
der Zeit angemessen und muß seinen Verlauf haben; wie denn in jeder Zeitperiode
etwas Analoges vorhanden ist, welches mit mehr oder weniger Lärm die
Zeitgenossen beschäftigt und dann so gänzlich verhallt und so spurlos
verschwindet, daß die nächste Generation nicht mehr zu sagen weiß,
was es gewesen. Die Wahrheit kann warten: denn sie hat ein langes Leben
vor sich. Das Echte und ernstlich Gemeinte geht stets langsam seinen Gang
und erreicht sein Ziel; freilich fast wie durch ein Wunder: denn bei seinem
Auftreten wird es in der Regel kalt, ja, mit Ungunst aufgenommen, ganz
aus demselben Grunde, warum auch nachher, wann es in voller Anerkennung
und bei der Nachwelt angelangt ist, die unberechenbar große Mehrzahl
der Menschen es allein auf Autorität gelten läßt, um sich nicht zu
kompromittieren, die Zahl der aufrichtigen Schätzer aber immer noch fast
so klein bleibt, wie am Anfang. Dennoch vermögen diese wenigen es in
Ansehen zu halten, weil sie selbst in Ansehen stehen. Sie reichen es nun
von Hand zu Hand, über den Köpfen der unfähigen Menge einander zu,
durch die Jahrhunderte. So schwierig ist die Existenz des besten Erbteils
der Menschheit. — Hingegen wenn die Wahrheit, um wahr zu sein, bei denen
um Erlaubnis zu bitten hätte, welchen ganz andere Dinge am Herzen liegen;
da könnte man freilich an ihrer Sache verzweifeln, da möchte oft ihr
zum Bescheide die Hexenlosung werden fair is foul, and foul is fair**).
Allein glücklicherweise ist es nicht so: sie hängt von keiner Gunst
oder Ungunst ab und hat niemanden um Erlaubnis zu bitten: sie steht auf
eigenen Füßen, die Zeit ist ihr Bundesgenosse, ihre Kraft ist unwiderstehlich,
ihr Leben unzerstörbar.
*) Solches Zeug, wie die Tollen "zungen", aber nicht "hirnen".
**) Schön ist häßlich, und häßlich ist schön.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Schon in früher Jugend habe ich an mir bemerkt, daß, während ich alle
Anderen nach äußeren Gütern streben sah, ich mich nicht darauf zu richten
hätte, weil ich einen Schatz in mir trug, der unendlich mehr Wert hatte,
als alle äußeren Güter, und daß es nur darauf ankäme, diesen Schatz
zu heben, wozu geistige Ausbildung und volle Muße, mithin Unabhängigkeit
die ersten Bedingungen waren. Das Bewußtsein hiervon, im Anfang dunkel
und dumpf, wurde mir mit jedem Jahre deutlicher, und war alle Zeit hinreichend,
mich vorsichtig und ökonomisch zu machen, nämlich meine Sorgfalt auf
die Erhaltung meiner Selbst und meiner Freiheit zu richten, nicht auf
irgend ein äußeres Gut. Der Natur und dem Rechte des Menschen entgegen
habe ich meine Kräfte dem Dienste meiner Person und der Förderung meines
Wohlseins entziehen müssen, um sie dem Dienste der Menschheit zu schenken.
Mein Intellekt hat nicht mir, sondern der Welt angehört. Die Empfindung
dieses Ausnahmezustandes und der durch ihn herbeigeführten schweren Aufgabe,
zu leben ohne meine Kräfte für mich selbst zu verwenden, hat mich stets
gedrückt und noch besorglicher und ängstlicher gemacht, als ich schon
von Natur war; aber ich habe es durchgeführt, die Aufgabe gelöst, meine
Mission vollbracht. Aus diesem Grunde bin ich auch berechtigt gewesen,
sorgfältig darauf zu wachen, daß mir die Stütze meines väterlichen
Erbteils, die mich so lange hat tragen müssen und ohne welche die Welt
nichts von mir gehabt hätte, auch im Alter bleibe. Kein Amt in der Welt,
keine Minister- oder Gouverneurstelle hätte mich entschädigen können
für meine freie Muße, wie sie mir von Haus aus oktroyiert worden war.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Mein Erbteil ist mir ein geweihter Schatz, der mir nur anvertraut ist,
um die mir von der Natur gestellte Aufgabe zu lösen, um für mich und
die Menschheit das sein zu können, wozu sie mich bestimmt hat, ein Freibrief,
ohne den ich für die Menschheit nutzlos sein und vielleicht die elendeste
Existenz haben würde, die jemals ein Mensch meiner Art gehabt hat.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wer ohne Erwerb ist, hat keine festen Wurzeln auf Erden, ein Sturm kann
ihn umwerfen - ich muß deshalb allein stehen. Das Wagnis, mit einem kleinen
Vermögen ohne Arbeit zu leben, kann nur im Cölibat durchgeführt werden.
Der Verlust der freien Verfügung über meine eigne Person ist ein weit
größeres Übel als der Vorteil, der mir aus dem Gewinn einer andern
erwachsen kann. Auch ist es schlechterdings unmöglich, daß ich mit einem
Weibe glücklich wäre, das nicht glücklich mit mir ist. Da ich nun hauptsächlich
in meiner Gedankenwelt lebe, Gesellschaft und Lustbarkeiten nicht liebe,
überdies nicht immer in guter Laune bin, so ist wenig Hoffnung vorhanden,
daß sich ein Weib mit mir glücklich fühlen wird.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Zu allen Zeiten hat es bei den gebildeten Nationen eine Art natürlicher
Mönche gegeben, Leute, die, im Bewußtsein überwiegender Geisteskräfte,
die Ausbildung und Übung derselben jedem anderen Gut vorzogen und daher
ein contemplatives, geistig tätiges Leben führten, dessen Früchte nachmals
der Menschheit zu Gute kamen. Sie entsagten demgemäß dem Reichtum, dem
Erwerb, dem irdischen Ansehn, dem Besitz eigener Familie: so bringt es
das Compensationsgesetz mit sich. Dem Range nach die vornehmste Klasse
der Menschheit, durch deren Anerkennung sich jeder selbst ehrt, entsagen
sie der gemeinen Vornehmigkeit mit einer gewissen äußern Demut, welche
der der Mönche analog ist. Die Welt ist ihr Kloster, ihre Einsiedelei.
Was Einer dem Andern sein kann, hat seine sehr engen Grenzen: am Ende
ist und bleibt doch Jeder allein. Und nun kommt es darauf an, wer allein
ist. Wenn ich ein König wäre, so würde meiner selbst wegen kein Befehl
so oft und so nachdrücklich gegeben werden als: Laßt mich allein! Meinesgleichen
sollten unter der Illusion leben, auf einem verödeten Planeten der einzige
Mensch zu sein, der nun aus der Not eine Tugend macht. Die meisten merken
auch bei der ersten Bekanntschaft mit mir, daß sie mir und ich ihnen
nichts sein kann. Im Besitz eines höheren Grads von Bewußtsein, also
eines höheren Daseins, ist, sich dem Genuß desselben rein und unverkümmert
zu erhalten, und zu diesem Zwecke nichts darüber hinaus zu prätendieren,
meine Lebensweisheit. Man hat sonach viel gewonnen, wenn man durch Alter
und Erfahrung endlich eine vue nette von der gänzlichen moralischen und
intellektuellen Erbärmlichkeit der Menschen im Allgemeinen erhalten hat,
weil man nun nicht mehr versucht wird, sich mit ihnen weiter als nötig
einzulassen, nicht mehr beständig in einem Kampf lebt, welcher dem zwischen
dem Durst und einer widerlichen Tisane gleicht, nicht mehr sich verleiten
läßt, sich selbst Illusion zu machen und die Menschen sich zu denken,
wie man sie wünscht, sondern stets vor Augen behalte, wie sie sind.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Von der Gelehrten-Republik ist oft die Rede, aber nicht von der Genialen-Republik.
In dieser geht es so zu: - ein Riese ruft dem andern zu, durch den öden
Zwischenraum der Jahrhunderte, ohne daß die Zwergenwelt, welche darunter
wegkriecht, etwas mehr vernähme als Getön, und mehr verstände, als
daß überhaupt etwas vorgeht. Und wiederum dies Gezwerge treibt da unten
unaufhörliche Possen und macht großen Lärm, schleppt sich mit dem,
was Jene haben fallen lassen, proklamiert Heroen, die selbst Zwerge sind,
u. a. m., wovon jene Riesengeister sich nicht stören lassen, sondern
ihr hohes Geistergespräch fortsetzen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Lerne die ganze Erbärmlichkeit der Menschen überhaupt, dann die deines
Zeitalters, und der deutschen Gelehrten insbesondere recht deutlich und
im Zusammenhange begreifen; dann wirst du nicht mit deinem Werke in der
Hand stehn und fragen: Ist das Menschengeschlecht verrückt oder bin ich's.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
So wenig als möglich zu wollen und so viel als möglich zu erkennen,
ist die leitende Maxime meines Lebenslaufs gewesen; denn der Wille ist
das durchweg Gemeine und Schlechte in uns: man soll ihn verbergen wie
die Genitalien, obgleich beide die Wurzel unseres Wesens sind. Mein Leben
ist ein heroisches, das nicht mit dem Philistermaß oder der Krämerelle
zu messen ist, noch überhaupt nach dem Maßstab, welcher für das der
gewöhnlichen Menschen gehört, die kein anderes Dasein haben, als das
des auf die kurze Spanne Zeit beschränkten Individuums; ich darf mich
also nicht dadurch betrüben, daß ich bedenke, wie mir abgeht, was zu
einem regelmäßigen Lebenslaufe des Individuums gehört, Amt, Haus, Hof,
Weib und Kind. Ihr Dasein geht in dergleichen auf; mein Leben aber ist
ein intellektuelles, dessen ungehinderter Fortgang und ungestörte Wirksamkeit
in den wenigen Jahren der vollen Geisteskraft und ihrer freien Anwendung
Früchte tragen muß, Jahrhunderte der Menschheit zu bereichern.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Verschwindet der an die Sprachen gebundene Geist der Alten aus dem gelehrten
Unterricht; dann wird Roheit, Platteit und Gemeinheit sich der ganzen
Literatur bemächtigen. Denn die Werke der Alten sind der Nordstern für
jedes künstlerische oder literarische Streben: geht der euch unter, so
seid ihr verloren. Schon jetzt merkt man an dem jämmerlichen und läppischen
Stil der meisten Schreiber, daß sie nie Latein geschrieben haben. Sehr
passend nennt man die Beschäftigung mit den Schriftstellern des Altertums
Humanitätsstudien: denn durch sie wird der Schüler zuvörderst wieder
ein Mensch, indem er eintritt in die Welt, die noch rein war von allen
Fratzen des Mittelalters und der Romantik, welche nachher in die europäische
Menschheit so tief eindrangen, daß auch noch jetzt jeder damit betüncht
zur Welt kommt und sie erst abzustreifen hat, um nur zuvörderst wieder
ein Mensch zu werden. Denkt nicht, daß eure moderne Weisheit jene Weihe
zum Menschen je ersetzen könne: ihr seid nicht, wie Griechen und Römer,
geborene Freie, unbefangene Söhne der Natur. Ihr seid zunächst die Söhne
und Erben des rohen Mittelalters und seines Unsinns, des schändlichen
Pfaffentrugs und des halb brutalen, halb geckenhaften Ritterwesens. Geht
es gleich mit beiden jetzt allgemach zu Ende, so könnt ihr darum doch
noch nicht auf eigenen Füßen stehen. Ohne die Schule der Alten wird
eure Literatur in gemeines Geschwätze und platte Philisterei ausarten.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Tempel und Kirchen, Pagoden und Moscheen, in allen Landen, aus allen Zeiten,
in Pracht und Größe, zeugen vom metaphysischen Bedürfnis des Menschen,
welches, stark und unvertilgbar, dem physischen auf dem Fuße folgt. Freilich
könnte, wer satirisch gelaunt ist, hinzufügen, daß dasselbe ein bescheidener
Bursche sei, der mit geringer Kost vorlieb nehme. An plumpen Fabeln und
abgeschmackten Märchen läßt er sich bisweilen genügen: wenn nur früh
genug eingeprägt, sind sie ihm hinlängliche Auslegungen seines Daseins
und Stützen seiner Moralität.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn irgend etwas auf der Welt wünschenswert ist, so wünschenswert,
daß selbst der rohe und dumpfe Haufen, in seinen besonneneren Augenblicken,
es höher schätzen würde, als Silber und Gold; so ist es, daß ein Lichtstrahl
fiele auf das Dunkel unsers Daseins und irgend ein Aufschluß uns würde
über diese Rätselhafte Existenz, an der nichts klar ist, als ihr Elend
und ihre Nichtigkeit.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Religionen sind dem Volke notwendig, und sind ihm eine unschätzbare Wohltat.
Wenn sie jedoch den Fortschritten der Menschheit in der Erkenntnis der
Wahrheit sich entgegenstellen wollen, so müssen sie mit möglichster
Schonung beiseite geschoben werden und zu verlangen, daß sogar ein großer
Geist - ein Shakespeare, ein Goethe - die Dogmen irgend einer Religion
impliciter, bona fide et sensu proprio zu seiner Überzeugung mache, ist
wie verlangen, daß ein Riese den Schuh eines Zwerges anziehe.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Eine gegebene Philosophie hat keinen anderen Maßstab ihrer Schätzung,
als den der Wahrheit - übrigens ist die Philosophie wesentlich Weltweisheit;
ihr Problem ist die Welt: mit dieser allein hat sie es zu tun und läßt
die Götter in Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe gelassen
zu werden.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Zeitdienerei läßt sich zur Not in jedem Kleide entschuldigen, in der
Kutte und dem Hermelin, nur nicht im Tribonion, dem Philosophenmantel:
denn wer diesen anlegt, hat zur Fahne der Wahrheit geschworen, und nun
ist, wo es ihren Dienst gilt, jede andere Rücksicht, auf was immer es
auch sei, schmählicher Verrat. Darum ist Sokrates dem Schierling und
Bruno dem Scheiterhaufen nicht ausgewichen. Jene aber kann man mit einem
Stück Brod seitabwärts locken. Ob sie so kurzsichtig sind, daß sie
nicht dort, schon ganz in der Nähe, die Nachwelt sehn, bei der die Geschichte
der Philosophie sitzt und unerbittlich, mit ehernem Griffel und fester
Hand, in ihr unvergängliches Buch zwei bittere Zeilen der Verdammung
schreibt? oder ficht sie das nicht an?
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Freilich, wer mit dieser nackten Schönheit, dieser lockenden Sirene,
dieser Braut ohne Aussteuer buhlt, der muß dem Glück entsagen, ein Staats-
und Katheder-Philosoph zu sein. Er wird, wenn er es hoch bringt, ein Dachkammer-Philosoph.
Allein dagegen wird er, statt eines Publikums von erwerblustigen Brotstudenten,
eines haben, das aus den seltenen, auserlesenen, denkenden Wesen besteht,
die spärlich ausgestreut unter der zahllosen Menge, einzeln im Laufe
der Zeit, fast wie ein Naturspiel erscheinen. Und aus der Ferne winkt
eine dankbare Nachwelt. Aber die müssen gar keine Ahnung davon haben,
wie schön, wie liebenswert die Wahrheit sei, welche Freude im Verfolgen
ihrer Spur, welche Wonne in ihrem Genusse liege, die sich einbilden können,
daß wer ihr Antlitz geschaut hat, sie verlassen, sie verleugnen, sie
verunstalten könnte, um jener ihren prostituierten Beifall, oder ihre
Ämter, oder ihr Geld, oder gar ihre Hofratstitel.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Viele Millionen, zu Völkern vereinigt, streben nach dem Gemeinwohl, jeder
Einzelne seines eigenen wegen; aber viele Tausende fallen als Opfer für
dasselbe. Bald unsinniger Wahn, bald grübelnde Politik, hetzt sie zu
Kriegen aufeinander: dann muß Schweiß und Blut des großen Haufens fließen,
die Einfälle Einzelner durchzusetzen, oder ihre Fehler abzubüßen. Im
Frieden ist Industrie und Handel tätig, Erfindungen tun Wunder, Meere
werden durchschifft, Leckereien aus allen Enden der Welt zusammengeholt,
die Wellen verschlingen Tausende. Alles treibt, die Einen sinnend, die
Andern handelnd, der Tumult ist unbeschreiblich. - Aber der letzte Zweck
von dem Allen, was ist er? Ephemere und geplagte Individuen eine kurze
Spanne Zeit hindurch zu erhalten, im glücklichsten Fall mit erträglicher
Not und komparativer Schmerzlosigkeit, der aber auch sogleich die Langeweile
aufpaßt; sodann die Fortpflanzung dieses Geschlechts und seines Treibens.
- Bei diesem offenbaren Mißverhältnis zwischen der Mühe und dem Lohn
erscheint uns von diesem Gesichtspunkt aus der Wille zum Leben objektiv
genommen als ein Thor, oder subjektiv als ein Wahn, von welchem alles
Lebende ergriffen, mit äußerster Anstrengung seiner Kräfte auf etwas
hinarbeitet, das keinen Wert hat. Allein bei genauerer Betrachtung werden
wir auch hier finden, daß er vielmehr ein blinder Drang, ein völlig
grundloser unmotivierter Trieb ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan
ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit
erstarrter kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug
lebende und erkennende Wesen erzeugt hat; - dies ist die empirische Wahrheit,
das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine mißliche
Lage, auf einer jener zahllosen im grenzenlosen Raum frei schwebenden
Kugeln zu stehen, ohne zu wissen woher noch wohin, und nur Eines zu sein
von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drängen, treiben, quälen,
rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser
Zeit: dabei nichts Beharrliches, als allein die Materie und die Wiederkehr
derselben, verschiedenen, organischen Formen, mittelst gewisser Wege und
Kanäle, die nun einmal da sind. Alles was empirische Wissenschaft lehren
kann, ist nur die genauere Beschaffenheit und Regel dieser Hergänge.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ganz recht! Jeder hat, unabhängig von Dem, was er wirklich und an sich
ist, eine Rolle zu spielen, die von außen das Schicksal ihm aufgelegt
hat, indem es seinen Stand, seine Erziehung und seine Verhältnisse bestimmte.
Die Nutzanwendung, die mir die nächstliegende scheint, ist, daß man
im Leben, wie auf der Bühne, den Schauspieler von seiner Rolle unterscheiden
soll; also den Menschen als solchen von dem was er vorstellt, von der
Rolle, die Stand und Verhåltnisse ihm aufgelegt haben. Wie nun oft der
schlechteste Schauspieler den König, der beste den Bettler macht; - so
kann es auch im Leben geschehn, und Roheit ist es auch hier, den Schauspieler
mit seiner Rolle zu verwechseln.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ein Bösewicht kann einen gewaltigen Intellekt haben, aber er kann ihn
nur auf das richten, was irgendwie Beziehung auf seinen Willen hat: er
kann daher ein großer Feldherr, Staatsmann usw. sein: er kann Talent
haben. Das Wort bedeutet ursprünglich Geld und bezeichnet die Fähigkeiten,
durch welche man den Beifall der Menge und folglich Geld erwirbt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Man kann überall in der Welt und in allen Verhältnissen nur durch Macht
und Gewalt etwas durchsetzen: die Gewalt aber befindet sich meistens in
schlechten Händen; weil überall die Schlechtigkeit in furchtbarer Majorität
ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es ist als ob sie daran verzweifelten, mittelst ihrer Schriften eine Spur
ihres Daseins zu hinterlassen, und daß sie daher eine solche der Sprache
eindrücken wollen, durch Verhunzung derselben. Daran arbeiten sie einmütig.
- Das Schlimmste bei der Sache ist, daß allgemach eine junge Generation
heranwächst, welche, da sie stets nur das Neueste liest, schon kein anderes
Deutsch mehr kennt, als diesen verrenkten Jargon des impotenten, nämlich
durch Hegel kastrierten Zeitalters im langen Bart, welcher, weil es nichts
Besseres zu tun weiß, sich ein Gewerbe daraus macht, die deutsche Sprache
zu demolieren.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Was die Geschichte erzählt, ist in der Tat nur der lange, schwere und
verworrene Traum der Menschheit.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Religion hat 1800 Jahre lang der Vernunft einen Maulkorb angelegt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Hauptpunkt in der Erziehung wäre, daß die Bekanntschaft mit der
Welt, deren Erlangung wir als den Zweck aller Erziehung bezeichnen können,
vom rechten Ende angefangen werde. Dies aber beruht hauptsächlich darauf,
daß in jeder Sache die Anschauung dem Begriffe vorhergehe.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Dem deutschen Volke ist sein Geteiltsein in viele Stämme, die unter eben
so vielen, wirklich regierenden Fürsten stehn, mit einem Kaiser über
Alle, der den Frieden im Innern wahrt und des Reiches Einheit nach Außen
vertritt, natürlich; weil aus seinem Charakter und seinen Verhältnissen
hervorgegangen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es ist geratener, seinen Verstand durch das, was man verschweigt, an den
Tag zu legen, als durch das, was man sagt. Ersteres ist Sache der Klugheit,
Letzteres der Eitelkeit.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Bacon`s Satz, daß aller Argwohn auf Unwissenheit beruhe, ist zu verwerfen,
vielmehr hat Chamfort recht: der Weisheit Anfang sei die Furcht vor den
Menschen, und Demosthenes, wenn er sagt: Wälle und Mauern seien eine
gute Schutzwehr, die beste aber sei die `απιστια.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
It's safer trusting fear than faith. Sei immer eingedenk, daß Du Dich
nicht in Deiner Heimat, nicht unter Wesen Deinesgleichen befindest; sondern
durch ein hartes, sonderbares und nur durch Erkenntnis zu erleichterndes
Schicksal unter denen leben mußt, die Dir fremder sind als dem Europäer
die Chinesen, unter den Vögeln, den bipedes, den hombres che no lo son.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Um die, welche es verdienen, d. h. fünf Sechstel der Menschheit nach
Verdienst verachten zu können, ist die erste Bedingung, daß man sie
nicht hasse, also muß man keinen Haß in sich aufkommen lassen; denn
was man haßt, verachtet man nicht ganz. Das sicherste Mittel hinwiederum
gegen den Menschenhaß ist eben die Menschenverachtung; aber eine recht
gründliche, das Resultat einer ganz deutlichen und klaren Einsicht in
die unglaubliche Kleinlichkeit ihrer Gesinnung, die enorme Beschränktheit
ihres Verstandes und den gränzenlosen Egoismus ihres Herzens, daraus
schreiende Ungerechtigkeit, blasser Neid und Bosheit, bisweilen bis zur
Grausamkeit hervorgehen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die meisten Menschen sind den Roßkastanien zu vergleichen, die das Aussehen
der ächten haben, aber durchaus ungenießbar sind. Sehr viele sind ein
Amalgam von Schlechtigkeit und Dummheit, die daher in ihnen schwer zu
unterscheiden sind. Der englische Ausdruck ,,a dull scoundrel" bezeichnet
sie am besten.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht,
schon genug Geschichte studiert. Denn da steht schon Alles, was die folgende
Weltgeschichte ausmacht, das Treiben, Tun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts,
wie es aus den besagten Eigenschaften und dem physischen Erdenlose hervorgeht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Um überhaupt von der wahren und sehr traurigen Beschaffenheit der Menschen,
wie sie meistens sind, das so nötige, deutliche und gründliche Verständnis
zu erlangen, ist es überaus lehrreich, das Treiben und Benehmen derselben
in der Literatur als Kommentar ihres Treibens und Benehmens im praktischen
Leben zu gebrauchen. Dies ist sehr dienlich, um weder an sich, noch an
ihnen irre zu werden. Dabei aber darf kein Zug von besonderer Niederträchtigkeit
oder Dummheit, der uns im Leben oder in der Literatur aufstößt, uns
je ein Stoff zum Verdruß und Ärger, sondern bloß zur Erkenntnis werden,
indem wir in ihm einen neuen Beitrag zur Charakteristik des Menschengeschlechts
sehn und demnach ihn uns merken. Alsdann werden wir ihn ungefähr so betrachten,
wie der Mineralog ein ihm aufgestoßenes, sehr charakteristisches Spezimen
eines Minerals. - Ausnahmen gibt es, ja, unbegreiflich große, und die
Unterschiede der Individualitäten sind enorm: aber, im ganzen genommen,
liegt, wie längst gesagt ist, die Welt im argen: die Wilden fressen einander,
und die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt.
Was sind denn die Staaten, mit aller ihrer künstlichen, nach außen und
nach innen gerichteten Maschinerie und ihren Gewaltmitteln anders, als
Vorkehrungen, der grenzenlosen Ungerechtigkeit der Menschen Schranken
zu setzen? Sehn wir nicht in der ganzen Geschichte, jeden König, sobald
er feststeht, und sein Land einiger Prosperität genießt, diese benützen,
um mit seinem Heer, wie mit einer Räuberschar, über die Nachbarstaaten
herzufallen? sind nicht fast alle Kriege im Grunde Raubzüge? Im frühen
Altertum, wie auch zum Teil im Mittelalter, wurden die Besiegten Sklaven
der Sieger, d. h. im Grunde, sie mussten für diese arbeiten: dasselbe
müssen aber die, welche Kriegskontributionen zahlen: sie geben nämlich
den Ertrag früherer Arbeit hin. "Dans toutes les guerres il ne s'agit
que de voler", (Alle Kriege sind nur Raubzüge), sagt Voltaire, und
die Deutschen sollen es sich gesagt sein lassen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der eigentliche Charakter der Nordamerikaner ist Gemeinheit; sie zeigt
sich an ihnen in allen Formen als moralische, Intellektuelle, ästhetische
und gesellige Gemeinheit, und nicht bloß im Privatleben, sondern auch
im öffentlichen. Sie verlässt den Yankee nicht, stelle er sich wie er
will. Der Grund mag teils in der republikanischen Verfassung liegen, teils
darin, dass ihre Abstammung zum Teil von einer Strafkolonie, zum Teil
von Denen ist, die in Europa mancherlei zu fürchten hatten, - teils im
Klima.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[…] Eine Staatsverfassung, in welcher bloß das abstrakte Recht sich
verkörperte, wäre eine vortreffliche Sache für andere Wesen, als die
Menschen sind: weil nämlich die große Mehrzahl derselben höchst egoistisch,
ungerecht, rücksichtslos, lügenhaft, mitunter sogar boshaft und dabei
mit sehr dürftiger Intelligenz ausgestattet ist, so erwächst hieraus
die Nothwendigkeit einer in Einem Menschen koncentrirten, selbst über
dem Gesetz und dem Recht stehenden, völlig unverantwortlichen Gewalt,
vor der sich Alles beugt, und die betrachtet wird als ein Wesen höherer
Art, ein Herrscher von Gottes Gnaden. Nur so läßt sich auf die Länge
die Menschheit zügeln und regieren.
Dagegen sehn wir in den vereinigten Staaten von Nordamerika den Versuch,
ganz ohne alle solche arbiträre Grundlage fertig zu werden, also das
ganz unversetzte, reine, abstrakte Recht herrschen zu lassen. Allein der
Erfolg ist nicht anlockend: denn, bei aller materiellen Prosperität des
Landes, finden wir daselbst als herrschende Gesinnung den niedrigen Utilitarianismus,
nebst seiner unausbleiblichen Gefährtin, der Unwissenheit, welche der
stupiden anglikanischen Bigotterie, dem dummen Dünkel, der brutalen Rohheit,
im Verein mit einfältiger Weiberveneration, den Weg gebahnt hat. […]
Also dies Probestück einer reinen Rechtsverfassung, auf jener Kehrseite
des Planeten, spricht gar wenig für die Republiken, noch weniger aber
die Nachahmungen desselben in Mexiko, Guatimala, Kolumbien und Peru. […]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[…] Ferner wie das Land am glücklichsten ist, welches weniger, oder
keiner, Einfuhr bedarf; so auch der Mensch, der an seinem innern Reichtum
genug hat und zu seiner Unterhaltung wenig, oder nichts, von außen nötig
hat; da dergleichen Zufuhr viel kostet, abhängig macht, Gefahr bringt,
Verdruß verursacht und am Ende doch nur ein schlechter Ersatz ist für
die Erzeugnisse des eigenen Bodens. Denn von andern, von außen überhaupt,
darf man in keiner Hinsicht viel erwarten. Was einer dem andern sein kann,
hat seine sehr engen Grenzen: am Ende bleibt doch jeder allein, und da
kommt es darauf an, wer jetzt allein sei: Auch hier gilt demnach was Goethe
(Dicht. u. Wahrh. Bd. 3, S. 474) im allgemeinen ausgesprochen hat, daß,
in allen Dingen, jeder auf sich selbst zurückgewiesen wird, oder wie
Oliver Goldsmith sagt:
Still to ourselves in ev'ry place consign'd,
Our own felicity we make or find.
(The Traveller v. 431 sq.)
Das Beste und Meiste muß daher jeder sich selber sein und leisten. Je
mehr nun dieses ist, und je mehr demzufolge er die Quellen seiner Genüsse
in sich selbst findet, desto glücklicher wird er sein. Mit größtem
Rechte also sagt Aristoteles: ή ευδαιμονια των αυταρκων
εστ: (Eth. Eud. VII, 2), zu deutsch: das Glück gehört denen, die
sich selber genügen. Denn alle äußern Quellen des Glückes und Genusses
sind, ihrer Natur nach, höchst unsicher, mißlich, vergänglich und dem
Zufall unterworfen, dürften daher, selbst unter den günstigsten Umständen,
leicht stocken; ja, dieses ist unvermeidlich, sofern sie doch nicht stets
zur Hand sein können. Im Alter gar versiegen sie fast alle notwendig:
denn da verläßt uns Liebe, Scherz, Reiselust, Pferdelust und Tauglichkeit
für die Gesellschaft: sogar die Freunde und Verwandten entführt uns
der Tod. Da kommt es denn, mehr als je, darauf an, was einer an sich selber
habe. Denn dieses wird am längsten Stich halten. Aber auch in jedem Alter
ist und bleibt es die echte und allein ausdauernde Quelle des Glücks.
Ist doch in der Welt überall nicht viel zu holen: Not und Schmerz erfüllen
sie, und auf die, welche diesen entronnen sind, lauert in allen Winkeln
die Langeweile. Zudem hat in der Regel die Schlechtigkeit die Herrschaft
darin und die Thorheit das große Wort. Das Schicksal ist grausam und
die Menschen sind erbärmlich. In einer so beschaffenen Welt gleicht der,
welcher viel an sich selber hat, der hellen, warmen, lustigen Weihnachtsstube,
mitten im Schnee und Eise der Dezembernacht. Demnach ist eine vorzügliche,
eine reiche Individualität und besonders sehr viel Geist zu haben ohne
Zweifel das glücklichste Los auf Erden; so verschieden es etwan auch
von dem glänzendesten ausgefallen sein mag. Daher war es ein weiser Ausspruch
der erst neunzehnjährigen Königin Christine von Schweden, über den
ihr doch bloß durch einen Aufsatz und aus mündlichen Berichten bekannt
gewordenen Cartesius, welcher damals seit zwanzig Jahren in der tiefsten
Einsamkeit, in Holland, lebte: Mr. Descartes est le plus heureux de tous
les hommes, et sa condition me semble digne d'envie. (Vie de Descartes
par Baillet, Liv. VII, ch. 10.) Nur müssen, wie es eben auch der Fall
des Cartesius war, die äußern Umstände es so weit begünstigen, daß
man auch sich selbst besitzen und seiner froh werden könne; weshalb schon
Koheleth (7, 12) sagt: „Weisheit ist gut mit einem Erbgut, und hilft,
daß einer sich der Sonne freuen kann.“ Wem nun, durch Gunst der Natur
und des Schicksals, dieses Los beschieden ist, der wird mit ängstlicher
Sorgfalt darüber wachen, daß die innere Quelle seines Glückes ihm zugänglich
bleibe; wozu Unabhängigkeit und Muße die Bedingungen sind. Diese wird
er daher gern durch Mäßigkeit und Sparsamkeit erkaufen; um so mehr,
als er nicht, gleich den andern, auf die äußern Quellen der Genüsse
verwiesen ist. Darum wird die Aussicht auf Aemter, Geld, Gunst und Beifall
der Welt, ihn nicht verleiten, sich selber aufzugeben, um den niedrigen
Absichten, oder dem schlechten Geschmacke, der Menschen sich zu fügen.
Vorkommenden Falls wird er es machen wie Horaz in der Epistel an den Mäcenas
(Lib. I, ep. 7). Es ist eine große Thorheit, um nach außen zu gewinnen,
nach innen zu verlieren, d.h. für Glanz, Rang, Prunk, Titel und Ehre,
seine Ruhe, Muße und Unabhängigkeit ganz oder großenteils hinzugeben.
Dies hat aber Goethe gethan. Mich hat mein Genius mit Entschiedenheit
nach der andern Seite gezogen. […]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Sich selber genügen, sich selber alles in allem sein, und sagen können:
alles meinige trage ich mit mir, ist gewiß für unser Glück die förderlichste
Eigenschaft: daher der Ausspruch des Aristoteles: Den Selbstgenügsamen
gehört das Glück; - nicht zu oft wiederholt werden kann. (Auch ist es
im Wesentlichen derselbe Gedanke, den in einer überaus artigen Wendung
die Sentenz Chamforts ausdrückt, welche ich dieser Abhandlung als Motto
vorgesetzt habe.) Denn teils darf man, mit einiger Sicherheit, auf niemand
zählen, als auf sich selbst, und teils sind die Beschwerden und Nachteile,
die Gefahr und der Verdruß, welche die Gesellschaft mit sich führt,
unzählig und unausweichbar. Kein verkehrterer Weg zum Glück, als das
Leben in der großen Welt, in Saus und Braus: denn es bezweckt, unser
elendes Dasein in eine Succession von Freude, Genuß, Vergnügen zu verwandeln,
wobei die Enttäuschung nicht ausbleiben kann; so wenig, wie bei der obligaten
Begleitung dazu, dem gegenseitigen einander Belügen. Zunächst erfordert
jede Gesellschaft notwendig eine gegenseitige Accommodation und Temperatur;
daher wird sie, je größer, desto fader. Ganz er selbst sein darf jeder
nur so lange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt
auch nicht die Freiheit: denn nur wenn man allein ist, ist man frei: Zwang
ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und jede fordert
Opfer, die umso schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität
ist. Demgemäß wird jeder in genauer Proportion zum Werte seines eigenen
Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen, oder lieben. Denn in ihr fühlt
der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine ganze
Größe, kurz, jeder sich, als was er ist. Ferner, je höher einer auf
der Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar wesentlich
und unvermeidlich. Dann aber ist es eine Wohltat für ihn, wenn die physische
Einsamkeit der geistigen entspricht: widrigenfalls dringt die häufige
Umgebung heterogener Wesen störend, ja, feindlich auf ihn ein, raubt
ihm sein Selbst und hat nichts als Ersatz dafür zu geben. Sodann, während
die Natur zwischen Menschen die weiteste Verschiedenheit, im Moralischen
und Intellektuellen, gesetzt hat, stellt die Gesellschaft, diese für
nichts achtend, sie alle gleich, oder vielmehr sie setzt an ihre Stelle
die künstlichen Unterschiede und Stufen des Standes und Ranges, welche
der Rangliste der Natur sehr oft diametral entgegenlaufen. Bei dieser
Anordnung stehen sich die, welche die Natur niedrig gestellt hat, sehr
gut; die wenigen aber, welche sie hoch stellte, kommen dabei zu kurz;
daher diese sich der Gesellschaft zu entziehen pflegen und in jeder, sobald
sie zahlreich ist, das Gemeine vorherrscht. Was den großen Geistern die
Gesellschaft verleidet, ist die Gleichheit der Rechte, folglich der Ansprüche,
bei der Ungleichheit der Fähigkeiten, folglich der (gesellschaftlichen)
Leistungen, der andern. Die sogenannte gute Societät läßt Vorzüge
aller Art gelten, nur nicht die geistigen, diese sind sogar Kontrebande.
Sie verpflichtet uns, gegen jede Torheit, Narrheit, Verkehrtheit, Stumpfheit,
grenzenlose Geduld zu beweisen; persönliche Vorzüge hingegen sollen
sich Verzeihung erbetteln, oder sich verbergen; denn die geistige Überlegenheit
verletzt durch ihre bloße Existenz, ohne alles Zutun des Willens. Demnach
hat die Gesellschaft, welche man die gute nennt, nicht nur den Nachteil,
daß sie uns Menschen darbietet, die wir nicht loben und lieben können,
sondern sie läßt auch nicht zu, daß wir selbst seien, wie es unserer
Natur angemessen ist; vielmehr nötigt sie uns, des Einklanges mit den
anderen wegen, einzuschrumpfen, oder gar uns selbst zu verunstalten. Geistreiche
Reden oder Einfälle gehören nur vor geistreiche Gesellschaft: in der
gewöhnlichen sind sie geradezu verhaßt; denn um in dieser zu gefallen,
ist durchaus notwendig, daß man platt und borniert sei. In solcher Gesellschaft
müssen wir daher mit schwerer Selbstverleugnung dreiviertel unserer selbst
aufgeben, um uns den andern zu verähnlichen. Dafür haben wir dann freilich
die andern: aber je mehr eigenen Wert einer hat, desto mehr wird er finden,
daß hier der Gewinn den Verlust nicht deckt und das Geschäft zu seinem
Nachteil ausschlägt; weil die Leute, in der Regel, insolvent sind, d.
h. in ihrem
Umgang nichts haben, das für die Langweiligkeit, die Beschwerden und
Unannehmlichkeiten desselben und für die Selbstverleugnung, die er auflegt,
schadlos hielte: demnach ist die allermeiste Gesellschaft so beschaffen,
daß, wer sie gegen die Einsamkeit vertauscht, einen guten Handel macht.
Dazu kommt noch, daß die Gesellschaft, um die echte, d. i. die geistige
Überlegenheit, welche sie nicht verträgt und die auch schwer zu finden
ist, zu ersetzen, eine falsche, konventionelle, auf willkürlichen Satzungen
beruhende und traditionell, unter den höheren Ständen sich fortpflanzende,
auch, wie die Parole, veränderliche Überlegenheit, beliebig angenommen
hat: diese ist, was der gute Ton genannt wird. Wenn sie jedoch einmal
mit der echten in Kollision gerät, zeigt sich ihre Schwäche. - Zudem:
wo der gute Ton hereintritt, geht der gesunde Verstand hinaus. Überhaupt
aber kann jeder im vollkommensten Einklange nur mit sich selbst stehen;
nicht mit seinem Freunde, nicht mit seiner Geliebten: denn die Unterschiede
der Individualität und Stimmung führen allemal eine, wenn auch geringe,
Dissonanz herbei: Daher ist der wahre, tiefe Friede des Herzens und die
vollkommene Gemütsruhe, dieses, nächst der Gesundheit, höchste irdische
Gut, allein in der Einsamkeit zu finden und als dauernde Stimmung nur
in der tiefsten Zurückgezogenheit. Ist dann das eigene Selbst groß und
reich; so genießt man den glücklichsten Zustand, der auf dieser armen
Erde gefunden werden mag. Ja, es sei herausgesagt: so eng auch Freundschaft,
Liebe und Ehe Menschen verbinden; ganz ehrlich meint jeder es am Ende
doch nur mit sich selbst und höchstens noch mit seinem Kinde. - Je weniger
einer, infolge objektiver oder subjektiver Bedingungen, nötig hat, mit
den Menschen in Berührung zu kommen, desto besser ist er daran. Die Einsamkeit
und Öde läßt alle ihre Übel auf einmal, wenn auch nicht empfinden,
doch übersehen: hingegen die Gesellschaft ist insidiös: sie verbirgt
hinter dem Scheine der Kurzweil, der Mitteilung des geselligen Genusses
u. s. f. große, oft unheilbare Übel. Ein Hauptstudium der Jugend sollte
sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen; weil sie eine Quelle des Glückes,
der Gemütsruhe ist. - Aus diesem allen nun folgt, daß der am besten
daran ist, der nur auf sich selbst gerechnet hat und sich selber alles
in allem sein kann; sogar sagt Cicero: Jeder muß ganz glücklich sein,
der nur von sich abhängt und in sich sein Genügen findet. Zudem, je
mehr einer an sich selber hat desto weniger können andere ihm sein. Ein
gewisses Gefühl von Allgenügsamkeit ist es, welches die Leute von innerm
Wert und Reichtum abhält, der Gemeinschaft mit andern die bedeutenden
Opfer, welche sie verlangt, zu bringen, geschweige dieselbe, mit merklicher
Selbstverleugung, zu suchen. Das Gegenteil hiervon macht die gewöhnlichen
Leute so gesellig und akkommodant: es wird ihnen nämlich leichter, andere
zu ertragen, als sich selbst. Noch kommt hinzu, daß was wirklichen Wert
hat in der Welt nicht geachtet wird, und was geachtet wird keinen Wert
hat. Hiervon ist die Zurückgezogenheit jedes Würdigen und Ausgezeichneten
der Beweis und die Folge. Diesem allen nach wird es in dem, der etwas
rechtes an sich selber hat, echte Lebensweisheit sein, wenn er, erforderlichenfalls
seine Bedürfnisse einschränkt, um nur seine Freiheit zu wahren, oder
zu erweitern, und demnach mit seiner Person, da sie unvermeidliche Verhältnisse
zur Menschenwelt hat, so kurz wie möglich sich abfindet. Was nun andererseits
die Menschen gesellig macht ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und
in dieser sich selbst, zu ertragen. Innere Leere und Überdruß sind es,
von denen sie sowohl in die Gesellschaft, wie in die Fremde und auf Reisen
getrieben werden. Ihrem Geiste mangelt es an Federkraft, sich eigene Bewegung
zu erteilen: daher suchen sie Erhöhung derselben durch Wein und werden
viele auf diesem Wege zu Trunkenbolden. Eben daher bedürfen sie der steten
Erregung von außen und zwar der stärksten, d. i. der durch Wesen ihresgleichen.
Ohne diese sinkt ihr Geist, unter seiner eigenen Schwere, zusammen und
verfällt in eine drückende Lethargie. Bekanntlich werden Übel dadurch
erleichtert, daß man sie gemeinschaftlich erträgt: zu diesen scheinen
die Leute die Langeweile zu zählen; daher sie sich zusammensetzen, um
sich gemeinschaftlich zu langweilen. Wie die Liebe zum Leben im Grunde
nur Furcht vor dem Tode ist, so ist auch der Geselligkeitstrieb der Menschen
im Grunde kein direkter, beruht nämlich nicht auf Liebe zur Gesellschaft,
sondern auf Furcht vor der Einsamkeit, indem es nicht sowohl die holdselige
Gegenwart der andern ist, die gesucht, als vielmehr die Öde und Beklommenheit
des Alleinseins, nebst der Monotonie des eigenen Bewußtseins, die geflohen
wird; welcher zu entgehn man daher auch mit schlechter Gesellschaft vorlieb
nimmt, im gleichen das Lästige und den Zwang, den eine jede notwendig
mit sich bringt, sich gefallen läßt. - Hat hingegen der Widerwille gegen
dieses alles gesiegt, und ist, infolge davon, die Gewohnheit der Einsamkeit
und die Abhärtung gegen ihren unmittelbaren Eindruck eingetreten, so
daß sie die oben bezeichneten Wirkungen nicht mehr hervorbringt, dann
kann man mit größter Behaglichkeit immerfort allein sein, ohne sich
nach Gesellschaft zu sehnen; eben weil das Bedürfnis derselben kein direktes
ist und man andererseits sich jetzt an die wohltätigen Eigenschaften
der Einsamkeit gewöhnt hat. Im gleichen ließe sich sagen, daß jeder
von ihnen nur ein kleiner Bruch der Idee der Menschheit sei, daher er
vieler Ergänzung durch andere bedarf, damit einigermaßen ein volles
menschliches Bewußtsein herauskomme: hingegen wer ein ganzer Mensch ist,
ein ausgezeichneter Mensch, der stellt eine Einheit und keinen Bruch dar,
hat daher an sich selbst genug. Man kann, in diesem Sinne, die gewöhnliche
Gesellschaft jener russischen Hornmusik vergleichen, bei der jedes Horn
nur einen Ton hat und bloß durch das pünktliche Zusammentreffen aller
eine Musik herauskommt. Denn monoton, wie ein solches eintöniges Horn,
ist der Sinn und Geist der allermeisten Menschen: sehn doch viele von
ihnen schon aus, als hätten sie immerfort nur einen und denselben Gedanken,
unfähig irgend einen andern zu denken. Hieraus also erklärt sich nicht
nur, warum sie so langweilig, sondern auch warum sie so gesellig sind
und am liebsten herdenweise einhergehn: Der Herdentrieb der Menschenheit.
Die Monotonie seines eigenen Wesens ist es, die jedem von ihnen unerträglich
wird: Alle Dummheit leidet am Überdruß ihrer selbst: - nur zusammen
und durch die Vereinigung sind sie irgend etwas; - wie jene Hornbläser.
Dagegen ist der geistvolle Mensch einem Virtuosen zu vergleichen, der
sein Konzert allein ausführt; oder auch dem Klavier. Wie nämlich dieses,
für sich allein, ein kleines Orchester, so ist er eine kleine Welt und
was jene alle erst durch das Zusammenwirken sind, stellt er dar in der
Einheit eines Bewußtseins. Wie das Klavier, ist er kein Teil der Symphonie,
sondern für das Solo und die Einsamkeit geeignet: soll er mit ihnen zusammenwirken;
so kann er es nur sein als Prinzipalstimme mit Begleitung, wie das Klavier;
oder zum Tonangeben, bei Vokalmusik, wie das Klavier. - Wer inzwischen
Gesellschaft liebt kann sich aus diesem Gleichnis die Regel abstrahieren,
daß, was den Personen seines Umgangs an Qualität abgeht durch die Quantität
einigermaßen ersetzt werden muß. An einem einzigen geistvollen Menschen
kann er Umgang genug haben: ist aber nichts als die gewöhnliche Sorte
zu finden; so ist es gut, von dieser recht viele zu haben, damit durch
die Mannigfaltigkeit und das Zusammenwirken etwas herauskomme, - nach
Analogie der besagten Hornmusik: - und der Himmel schenke ihm dazu Geduld.
Jener inneren Leere aber und Dürftigkeit der Menschen ist auch dieses
zuzuschreiben, daß, wenn einmal, irgend einen edelen, idealen Zweck beabsichtigend,
Menschen besserer Art zu einem Verein zusammentreten, alsdann der Ausgang
fast immer dieser ist, daß aus jenem Plebs der Menschheit, welcher, in
zahlloser Menge, wie Ungeziefer, überall alles erfüllt und bedeckt,
und stets bereit ist, jedes, ohne Unterschied, zu ergreifen, um damit
seiner Langenweile, wie unter andern Umständen seinem Mangel, zu Hilfe
zu kommen, - auch doch einige sich einschleichen oder eindrängen und
dann bald entweder die ganze Sache zerstören oder sie so verändern,
daß sie ziemlich das Gegenteil der ersten Absicht wird. - Übrigens kann
man auch die Geselligkeit betrachten als ein geistiges Erwärmen der Menschen
aneinander, gleich jenem körperlichen, welches sie bei großer Kälte,
durch Zusammendrängen hervorbringen. Allein wer selbst viel geistige
Wärme hat, bedarf solcher Gruppierung nicht. Diesem allen zufolge steht
die Geselligkeit eines jeden ungefähr im umgekehrten Verhältnisse seines
intellektuellen Wertes; und "er ist sehr ungesellig" sagt beinahe
schon "er ist ein Mann von großen Eigenschaften." Dem intellektuell
hochstehenden Menschen gewährt nämlich die Einsamkeit einen zwiefachen
Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu sein, und zweitens den, nicht
mit andern zu sein. Diesen letzteren wird man hoch anschlagen, wenn man
bedenkt, wie viel Zwang, Beschwerde und selbst Gefahr jeder Umgang mit
sich bringt. Geselligkeit gehört zu den gefährlichen, ja, verderblichen
Neigungen, da sie uns in Kontakt bringt mit Wesen, deren große Mehrzahl
moralisch schlecht und intellektuell stumpf oder verkehrt ist. Der Ungesellige
ist einer, der ihrer nicht bedarf. An sich selber so viel zu haben, daß
man der Gesellschaft nicht bedarf, ist schon deshalb ein großes Glück,
weil fast alle unsere Leiden aus der Gesellschaft entspringen, und die
Geistesruhe, welche, nächst der Gesundheit, das wesentlichste Element
unseres Glückes ausmacht, durch jede Gesellschaft gefährdet wird und
daher ohne ein bedeutendes Maß von Einsamkeit nicht bestehen kann. Um
des Glückes der Geistesruhe teilhaftig zu werden, entsagen die Zyniker
jedem Besitze: wer in gleicher Absicht der Gesellschaft entsagt, hat das
weiseste Mittel erwählt. Denn so treffend, wie schön, ist was Bernardin
de St. Pierre sagt: Enthaltsamkeit im Essen macht unsern Körper gesund,
Enthaltsamkeit im Menschenverkehr die Seele. Sonach hat, wer sich zeitig
mit der Einsamkeit befreundet, ja, sie lieb gewinnt, eine Goldmine erworben.
Aber keineswegs vermag dies jeder. Denn wie ursprünglich die Not, so
treibt, nach Beseitigung dieser, die Langeweile die Menschen zusammen.
Ohne beide bliebe wohl jeder allein; schon weil nur in der Einsamkeit
die Umgebung der ausschließlichen Wichtigkeit, ja, Einzigkeit entspricht,
die jeder in seinen eigenen Augen hat, und welche vom Weltgedränge zu
nichts verkleinert wird; als wo sie, bei jedem Schritt, ein schmerzliches
dementi erhält. In diesem Sinne ist die Einsamkeit sogar der natürliche
Zustand eines jeden: sie setzt ihn wieder ein, als ersten Adam, in das
ursprüngliche, seiner Natur angemessene Glück. Aber hatte doch auch
Adam weder Vater, noch Mutter! Daher wieder ist, in einem andern Sinne,
die Einsamkeit dem Menschen nicht natürlich; sofern er nämlich, bei
seinem Eintritt in die Welt, sich nicht allein, sondern zwischen Eltern
und Geschwistern, also in Gemeinschaft, gefunden hat. Demzufolge kann
die Liebe zur Einsamkeit nicht als ursprünglicher Hang da sein, sondern
erst infolge der Erfahrung und des Nachdenkens entstehn: und dies wird
statthaben, nach Maßgabe der Entwicklung eigener geistiger Kraft, zugleich
aber auch mit der Zunahme der Lebensjahre; wonach denn, im ganzen genommen,
der Geselligkeitstrieb eines jeden im umgekehrten Verhältnisse seines
Alters stehen wird. Dem Knaben ist das Alleinsein eine große Pönitenz.
Jünglinge gesellen sich leicht zueinander: nur die edleren und hochgesinnten
unter ihnen suchen schon bisweilen die Einsamkeit: jedoch einen ganzen
Tag allein zuzubringen wird ihnen noch schwer. Dem Manne hingegen ist
dies leicht: er kann schon viel allein sein, und destomehr, je älter
er wird. Der Greis, welcher aus verschwundenen Generationen allein übrig
geblieben und dazu den Lebensgenüssen teils entwachsen, teils abgestorben
ist, findet an der Einsamkeit sein eigentliches Element. Immer aber wird
hierbei, in dem Einzelnen, die Zunahme der Neigung zur Absonderung und
Einsamkeit nach Maßgabe ihres intellektuellen Wertes erfolgen. Denn dieselbe
ist, wie gesagt, keine rein natürliche, direkt durch die Bedürfnisse
hervorgerufene, vielmehr bloß eine Wirkung gemachter Erfahrung und der
Reflexion über solche, namentlich der erlangten Einsicht in die moralisch
und intellektuell elende Beschaffenheit der allermeisten Menschen; bei
welcher das Schlimmste ist, daß, im Individuo, die moralischen und die
intellektuellen Unvollkommenheiten desselben konspirieren und sich gegenseitig
in die Hände arbeiten, woraus dann allerlei höchst widerwärtige Phänomene
hervorgehn, welche den Umgang der meisten Menschen ungenießbar, ja, unerträglich
machen. So kommt es denn, daß, obwohl in dieser Welt gar vieles recht
schlecht ist, doch das Schlechteste darin die Gesellschaft bleibt; so
daß selbst Voltaire, der gesellige Franzose, hat sagen müssen: Die Erde
ist mit Menschen übersät, die nicht verdienen, daß man mit ihnen redet.
In diesem Sinne haben alle geredet, die Prometheus aus besserm Tone geformt
hatte. Welchen Genuß kann ihnen der Umgang mit Wesen gewähren, zu denen
sie nur vermittelst des Niedrigsten und Unedelsten in ihrer eigenen Natur,
nämlich des Alltäglichen, Trivialen und Gemeinen darin, irgend Beziehungen
haben, die eine Gemeinschaft begründen, und denen, weil sie nicht zu
ihrem Niveau sich erheben können, nichts übrig bleibt, als sie zu dem
ihrigen herabzuziehen, was demnach ihr Trachten wird? Sonach ist es ein
aristokratisches Gefühl, welches den Hang zur Absonderung und Einsamkeit
nährt. Alle Lumpe sind gesellig, zum Erbarmen: daß hingegen ein Mensch
edlerer Art sei, zeigt sich zunächst daran, daß er kein Wohlgefallen
an den übrigen hat, sondern mehr und mehr die Einsamkeit ihrer Gesellschaft
vorzieht und dann allmählich, mit den Jahren, zu der Einsicht gelangt,
daß es, seltene Ausnahmen abgerechnet, in der Welt nur die Wahl gibt
zwischen Einsamkeit und Gemeinheit. Sogar auch dieses, so hart es klingt,
hat selbst Angelus Silesius, seiner christlichen Milde und Liebe ungeachtet,
nicht ungesagt lassen können: "Die Einsamkeit ist not: doch sei
nur nicht gemein: So kannst du überall in einer Wüste sein." Was
nun aber gar die großen Geister betrifft, so ist es wohl natürlich,
daß diese eigentlichen Erzieher des ganzen Menschengeschlechtes zu häufiger
Gemeinschaft mit den übrigen so wenig Neigung fühlen, als den Pädagogen
anwandelt, sich in das Spiel der ihn umlärmenden Kinderherde zu mischen.
Denn sie, die auf die Welt gekommen sind, um sie auf dem Meer ihrer Irrtümer
der Wahrheit zuzulenken und aus dem Unstern Abgrund ihrer Roheit und Gemeinheit
nach oben, dem Lichte zu, der Bildung und Veredlung entgegenzuziehn, -
sie müssen zwar unter ihnen leben, ohne jedoch eigentlich zu ihnen zu
gehören, fühlen sich daher, von Jugend auf, als merklich von den andern
verschiedene Wesen, kommen aber erst allmählich, mit den Jahren zur deutlichen
Erkenntnis der Sache, wonach sie dann Sorge tragen, daß zu ihrer geistigen
Entfernung von den andern auch die physische komme, und keiner ihnen nahe
rücken darf, er sei denn schon selbst ein mehr oder weniger Eximierter
von der allgemeinen Gemeinheit. Aus diesem allen ergibt sich also, daß
die Liebe zur Einsamkeit nicht direkt und als ursprünglicher Trieb auftritt,
sondern sich indirekt, vorzüglich bei edleren Geistern und erst nach
und nach entwickelt, nicht ohne Überwindung des natürlichen Geselligkeitstriebes,
ja, unter gelegentlicher Opposition mephistophelischer Einflüsterung:
"Hör' auf, mit deinem Gram zu spielen, Der, wie ein Geier, dir am
Leben frißt: Die schlechteste Gesellschaft läßt dich fühlen, Daß
du ein Mensch mit Menschen bist." Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden
Geister: sie werden solche bisweilen beseufzen; aber stets sie als das
kleinere von zwei Übeln erwählen. Mit zunehmendem Alter wird jedoch
das: Wage, weise zu sein, in diesem Stücke immer leichter und natürlicher,
und in den sechziger Jahren ist der Trieb zur Einsamkeit ein wirklich
naturgemäßer, ja instinktartiger. Denn jetzt vereinigt sich alles, ihn
zu befördern. Der stärkste Zug der Geselligkeit, Weiberliebe und Geschlechtstrieb,
wirkt nicht mehr; ja, die Geschlechtslosigkeit des Alters legt den Grund
zu einer gewissen Selbstgenügsamkeit, die allmählich den Geselligkeitstrieb
überhaupt absorbiert. Von tausend Täuschungen und Torheiten ist man
zurückgekommen; das aktive Leben ist meistens abgetan, man hat nichts
mehr zu erwarten, hat keine Pläne und Absichten mehr; die Generation,
der man eigentlich angehört, lebt nicht mehr; von einem fremden Geschlecht
umgeben, steht man schon objektiv und wesentlich allein. Dabei hat der
Flug der Zeit sich beschleunigt, und geistig möchte man sie noch benutzen.
Denn, wenn nur der Kopf seine Kraft behalten hat; so machen jetzt die
vielen erlangten Kenntnisse und Erfahrungen, die allmählich vollendete
Durcharbeitung aller Gedanken und die große Übungsfertigkeit aller Kräfte
das Studium jeder Art interessanter und leichter, als jemals. Man sieht
klar in tausend Dingen, die früher noch wie im Nebel lagen: man gelangt
zu Resultaten und fühlt seine ganze Überlegenheit. Infolge langer Erfahrung
hat man aufgehört, von den Menschen viel zu erwarten; da sie, im ganzen
genommen nicht zu den Leuten gehören, welche bei näherer Bekanntschaft
gewinnen: vielmehr weiß man, daß, von seltenen Glücksfällen abgesehen,
man nichts antreffen wird, als sehr defekte Exemplare der menschlichen
Natur, welche es besser ist, unberührt zu lassen. Man ist daher den gewöhnlichen
Täuschungen nicht mehr ausgesetzt, merkt jedem bald an was er ist und
wird selten den Wunsch fühlen, nähere Verbindung mit ihm einzugehen.
Endlich ist auch, zumal wenn man an der Einsamkeit eine Jugendfreundin
erkennt, die Gewohnheit der Isolation und des Umganges mit sich selbst
hinzugekommen und zur zweiten Natur geworden. Demnach ist jetzt die Liebe
zur Einsamkeit welche früher dem Geselligkeitstriebe erst abgerungen
werden mußte, eine ganz natürliche und einfache: man ist in der Einsamkeit
wie der Fisch im Wasser. Daher fühlt jede vorzügliche, folglich den
übrigen unähnliche, mithin allein stehende Individualität sich, durch
diese ihr wesentliche Isolation, zwar in der Jugend gedrückt, aber im
Alter erleichtert. Denn freilich wird dieses wirklichen Vorzugs des Alters
jeder immer nur nach Maßgabe seiner intellektuellen Kräfte teilhaft,
also der eminente Kopf vor allen, jedoch in geringerem Grade wohl jeder.
Nur höchst dürftige und gemeine Naturen werden im Alter noch so gesellig
sein, wie ehedem: sie sind der Gesellschaft, zu der sie nicht mehr passen,
beschwerlich, und bringen es höchstens dahin, toleriert zu werden, während
sie ehemals gesucht werden. An dem dargelegten, entgegengesetzten Verhältnisse
zwischen der Zahl unserer Lebensjahre und dem Grade unserer Geselligkeit
läßt sich auch noch eine teleogische Seite herausfinden. Je jünger
der Mensch ist, desto mehr hat er noch, in jeder Beziehung, zu lernen:
nun hat ihn die Natur auf den wechselseitigen Unterricht verwiesen, welchen
jeder im Umgange mit seinesgleichen empfängt und in Hinsicht auf welchen
die menschliche Gesellschaft eine große Bell-Lancaster'sche Erziehungsanstalt
genannt werden kann; da Bücher und Schulen künstliche, weil vom Plane
der Natur abliegende Anstalten sind. Sehr zweckmäßig also besucht er
die natürliche Unterrichtsanstalt desto fleißiger, je jünger er ist.
Nichts ist in jeder Beziehung glücklich sagt Horaz, und "Kein Lotus
ohne Stengel" lautet ein indisches Sprichwort: so hat denn auch die
Einsamkeit, neben so vielen Vorteilen, ihre kleinen Nachteile und Beschwerden;
die jedoch, im Vergleich mit denen der Gesellschaft, gering sind, daher
wer etwas rechtes an sich selber hat, es immer leichter finden wird, ohne
die Menschen auszukommen, als mit ihnen. - Unter jenen Nachteilen ist
übrigens einer, der nicht so leicht, wie die übrigen, zum Bewußtsein
gebracht wird, nämlich dieser: wie durch anhaltend fortgesetztes Zuhausebleiben
unser Leib so empfindlich gegen äußere Einflüsse wird, daß jedes kühle
Lüftchen ihn krankhaft affiziert; so wird, durch anhaltende Zurückgezogenheit
und Einsamkeit, unser Gemüt so empfindlich, daß wir durch die unbedeutendsten
Vorfälle, Worte, wohl gar durch bloße Mienen, uns beunruhigt, oder gekränkt,
oder verletzt fühlen; während der, welcher stets im Getümmel bleibt,
dergleichen gar nicht beachtet. Wer nun aber, zumal in jüngeren Jahren,
so oft ihn auch schon gerechtes Mißfallen an den Menschen in die Einsamkeit
zurückgescheucht hat, doch die Oede derselben, auf die Länge, zu ertragen
nicht vermag, dem rate ich, daß er sich gewöhne, einen Teil seiner Einsamkeit,
in die Gesellschaft mitzunehmen, also daß er lerne, auch in der Gesellschaft,
in gewissem Grade, allein zu sein, demnach was er denkt nicht sofort den
andern mitzuteilen, und andererseits mit dem, was sie sagen, es nicht
genau zu nehmen, vielmehr, moralisch wie intellektuell, nicht viel davon
zu erwarten und daher, hinsichtlich ihrer Meinungen, diejenige Gleichgültigkeit
in sich zu befestigen, die das sicherste Mittel ist, um stets eine lobenswerte
Toleranz zu üben. Er wird alsdann, obwohl mitten unter ihnen, doch nicht
so ganz in ihrer Gesellschaft sein, sondern hinsichtlich ihrer sich mehr
rein objektiv verhalten. Dies wird ihn vor zu genauer Berührung mit der
Gesellschaft, und dadurch vor jeder Besudlung, oder gar Verletzung schützen.
Man kann auch die Gesellschaft einem Feuer vergleichen, an welchem der
Kluge sich in gehöriger Entfernung wärmt, nicht aber hineingreift, wie
der Tor, der dann, nachdem er sich verbrannt hat, in die Kälte der Einsamkeit
flieht und jammert, daß das Feuer brennt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Wurzel des bösen und des guten Charakters liegt, soweit wir solche
mit der Erkenntnis verfolgen können, darin, daß die Auffassung der Außenwelt
und zumal der belebten Wesen, und desto mehr je ähnlicher sie dem eigenen
Selbst des Individuums sind, - bei dem bösen Charakter begleitet ist
von einem beständigen "Nicht-Ich, Nicht-Ich, Nicht-Ich!" -
-
Beim guten Charakter (wir nehmen diesen wie jenen als im hohen Grade vorhanden
an) ist umgekehrt der stets begleitende Grundbaß jener Auffassung ein
beständig gefühltes "Ich, Ich, Ich!" - woraus eben Wohlwollen
und hilfreiche Gesinnung gegen alle Menschen und zugleich eine heitere,
getroste, beruhigte Gemütsverfassung erwächst, von der das Gegenteil
den bösen Charakter begleitet.
Dies alles ist aber nur das Phänomen, wenn auch an der Wurzel gefaßt.
Aber daran knüpft sich das schwerste aller Probleme: woher, bei der Identität
und metaphysischen Einheit des Willens als Ding an sich, die himmelweite
Verschiedenheit der Charaktere? die hämische teuflische Bosheit des einen?
die desto greller abstechende Güte des andern? wodurch waren jene Tiberius,
Caligula, Caracalla, Domitian, Nero? - und diese die Antonine, Titus,
Hadrianus, Nerva u. s. w.? - Woher eine eben solche Verschiedenheit bei
den Tierspezies? ja in den höhern Geschlechtern bei den tierischen Individuen?
- die Bosheit des Katzengeschlechts am stärksten entwickelt im Tiger?
- die Tücke des Affengeschlechts? - die Güte, Treue, Liebe des Hundes?
des Elefanten? u. s. f.? Offenbar ist das Prinzip der Bosheit im Tiere
dasselbe wie im Menschen. -
Etwas können wir die Schwierigkeit des Problems dadurch mildern, daß
wir bemerken, daß alle jene Verschiedenheit denn doch am Ende nur den
Grad betrifft, und die Grundneigungen, Grundtriebe in allem Lebenden sämtlich
vorhanden sind, nur in sehr verschiedenem Grad und verschiedenem Verhältnis
untereinander. Doch reicht das nicht aus.
Als Erklärungsgrund bleibt uns allein der Intellekt und sein Verhältnis
zum Willen. Allein der Intellekt steht keineswegs in direktem und gradem
Verhältnis zur Güte des Charakters. Wir können zwar im Intellekt selbst
wieder unterscheiden Verstand als Auffassung der Verhältnisse nach dem
Satz vom Grunde, - und die dem Genie verwandte, von diesem Gesetz Unabhängige,
das Principium individuationis durchschauende, mehr unmittelbare Erkenntnis,
welche auch die Ideen auffaßt, und diese ist es, welche sich auf das
Moralische bezieht. Allein auch die Erklärung hieraus läßt noch viel
zu wünschen übrig. "Schöne Geister sind selten schöne Seelen",
ist richtig bemerkt worden von Jean Paul: wiewohl sie auch nie das Umgekehrte
sind. Baco von Verulam, freilich weniger ein schöner, als ein großer
Geist, war ein Schurke.
Ich habe als principium individuationis Zeit und Raum erklärt, da die
Vielheit des Gleichartigen nur durch sie möglich ist. Aber das Viele
ist auch ungleichartig, die Vielheit und Verschiedenheit ist nicht nur
quantitativ, sondern auch qualitativ. Woher die letztere, zumal in ethischer
Hinsicht? - Wäre ich etwa in den dem Fehler Leibnizens bei seiner identitas
indiscernibilium entgegengesetzten geraten?
Die intellektuelle Verschiedenheit hat ihren nächsten Grund im Gehirn
und Nervensystem und ist dadurch etwas weniger dunkel: Intellekt und Gehirn
sind den Zwecken und Bedürfnissen des Tieres, also seinem Willen, angemessen.
Nur beim Menschen findet sich bisweilen ausnahmsweise ein Ueberschuß,
der, wenn er stark ist, das Genie gibt.
Aber die ethische Verschiedenheit scheint unmittelbar aus dem Willen hervorzugehen.
Sonst wäre sie auch nicht außerzeitlich, da Intellekt und Wille nur
im Individuo vereinigt sind. Der Wille ist außerzeitlich, ewig, und der
Charakter ist angeboren, also jener Ewigkeit entsprossen; folglich durch
nichts Immanentes zu erklären.
Vielleicht wird nach mir einer diesen Abgrund beleuchten und erhellen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Weiland war die Hauptstütze des Thrones der Glaube, heutzutage ist es
der Kredit. Kaum mag dem Papste selbst das Zutrauen seiner Gläubigen
mehr am Herzen liegen, als das seiner Gläubiger. Beklagte man ehemals
die Schuld der Welt, so sieht man jetzt mit Grausen auf die Schulden der
Welt und, wie ehemals den jüngsten Tag, so prophezeit man jetzt die dereinstige
große σεισαχϑεια, den universellen Staatsbankrott, jedoch ebenfalls
mit der zuversichtlichen Hoffnung, ihn nicht selbst zu erleben.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Fichte träumt („Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“*) von einem
Normalvolke, das nach einem Vernunftinstinkt ohne Freiheit gehandelt habe,
und prophezeit ein anderes, das nach der Vernunft mit Freiheit handeln
werde. Mit jenem meint er eines, bei dem die Vernunftidee stets unmittelbar
und nicht durch den Verstand wirksam gewesen, mit diesem eines, wo sie
es nur nach ihrer Erstarrung zu Verstandesbegriffen sein werde. Wenn aber
die Vernunft ohne Freiheit wirken soll, so ist es nicht genug, daß sie
unmittelbar und stets gegenwärtig die Sinnlichkeit überstimme, sondern
daß gar keine Sinnlichkeit dagewesen sei, und da müßte das Normalvolk
nicht aus Menschen, sondern aus ganz andern Geschöpfen bestanden haben;
sonst wirkt die Vernunft doch immer mit Freiheit, und zwar, wenn eine
solche, stets gegenwärtige Uebermacht der Vernunft möglich wäre, wären
durch sie die Menschen höchst beglückt, da nie ein Zwiespalt in ihnen
entstände. Aber dies ist ebenso unmöglich, als Menschen ohne Sinnlichkeit.
Bei jeder moralischen Handlung geben Sinnlichkeit und Vernunft beide ihre
Stimmen. Daß beide dasselbe wollen, ist ein sehr seltener Fall. Daß
die Vernunft allein den Willen bestimme, und die Sinnlichkeit, die dabei
beeinträchtigt wird, gar nicht laut werde, halte ich mit Kant („Kritik
der praktischen Vernunft“, S. 149) für unmöglich; doch kann sie bald
durch die Uebermacht der Vernunft beschwichtigt werden. Daß die Sinnlichkeit
allein wirke, ist vielleicht auch nicht möglich: die Vernunft wird sich
immer, wenn auch nur in einem machtlosen Tadeln und Murren äußern. Welche
nun den Willen in jedem einzelnen Falle bestimmen wird, hängt ab: teils
davon, welche durch den gegebenen Fall am meisten angeregt ist (darum
geschehen schwarze Verbrechen selten und sind zu kleinen Tugendübungen
viele bereit), teils von der Stärke der sinnlichen Natur eines Menschen
überhaupt. Von dem Verhältnis dieser letztern zur Vernunft hängt ab
die natürliche Gutmütigkeit und das Temperament des Menschen. In Anbetracht
dieses Verhältnisses sagt Kant mit Recht, daß keiner den moralischen
Wert eines andern, nicht einmal seiner selbst bestimmen kann. Den augenblicklichen,
von außen so mannigfach modifizierten Ziehkräften der Sinnlichkeit und
Vernunft nun ausgesetzt, ist der Mensch ohne Einheit, ohne Charakter,
und unnützer Reue hinterher, wenn er der Sinnlichkeit nachgegeben, preisgegeben.
Aber der Verstand ist das chemische Medium, in dem sich Sinnlichkeit und
Vernunft beide auflösen, das gemeinschaftliche Archiv der Lehren der
Erfahrung und der Beschlüsse der Vernunft. Die Lehren der Erfahrung,
darin niedergelegt, machen den Menschen klug für das Leben, die Beschlüsse
der Vernunft, darin aufbewahrt, machen ihn weise für die Ewigkeit. Erst
öftere Reue über seine Willensbestimmung durch die augenblickliche Uebermacht
der Sinnlichkeit bringt ihn dazu, jenes Archiv zu benutzen, und dadurch
zur Einheit und Selbstzufriedenheit zu gelangen. Schweigt die Sinnlichkeit
und spricht die Vernunft allein, so sieht er, daß nur diese das einzige
und höchste Gute erkennt, und diese Erkenntnis legt er nieder im Archiv
des Verstandes als Gesetz, und darum sagt Platon mit Recht, alles Sündigen
sei nur Irren, Mangel der rechten Erkenntnis (έπιστήμη). Daß
die Vernunft in jedem Augenblick gleich thätig und mächtig und gegenwärtig
sei, so daß sie auch die stärkste Sinnlichkeit überwältige, halte
ich für unmöglich; aber der Verstand ist immer gegenwärtig, d. h. der
Mensch weiß immer was er thut und kann sich immer seiner Entschlüsse
erinnern, und diese müssen sein die zu Verstandesbegriffen erstarrten
hyperphysischen Ideen der Vernunft. Also: Vernunft und Sinnlichkeit wirken
in allen Menschen sich entgegen und jedes tugendhafte Handeln geschieht
mit Freiheit, einerlei, ob es nach lebendigen und gegenwärtigen, oder
ob es nach erstarrten und bewahrten Aussprüchen der Vernunft geschehe.
In keinem kann die Vernunft zu jeder Zeit so stark sein, daß sie immer
für den gegenwärtigen Fall sich gleichsam neugebärend den Willen bestimme.
So bedürfen wir des Verstandes als eines Mittlers, der, das feste Gesetz
der Vernunft hinhaltend, es uns möglich mache, selbst gegen das Bedünken
und die Einsicht des Augenblicks, nach der Autorität eines hellern Augenblicks,
in dem die Vernunft wirksam war, zu handeln. Dies letztere macht unsere
Existenz zu Mühe und Arbeit, zu einer schmerzvollen und berechtigt uns
zu der Hoffnung einer andern, die ohne Widerspruch sei: also ist kein
seliges Leben vor dem Tode, wie Fichte will, möglich, und die Hoffnung
eines bessern Lebens, die er tadelt, ist gegründet.
*) Vgl. auch Fichtes „Anweisung zum seligen Leben“, Berlin 1806.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Es ist ein aristokratisches Gefühl, welches den Hang zur Absonderung
und Einsamkeit nährt. Alle Lumpe sind gesellig, zum Erbarmen: daß hingegen
ein Mensch edlerer Art sei, zeigt sich zunächst daran, daß er kein Wohlgefallen
an den übrigen hat, sondern mehr und mehr die Einsamkeit ihrer Gesellschaft
vorzieht und dann allmählich, mit den Jahren, zu der Einsicht gelangt,
daß es, seltene Ausnahmen abgerechnet, in der Welt nur die Wahl gibt
zwischen Einsamkeit und Gemeinheit.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Alle Geister sind dem unsichtbar, der keinen hat: und jede Wertschätzung
ist ein Produkt aus dem Werte des Geschätzten mit der Erkenntnissphäre
des Schätzers. Hieraus folgt, daß man sich mit Jedem, mit dem man spricht,
nivelliert, indem alles, was man vor ihm voraushaben kann, verschwindet
und sogar die dazu erforderte Selbstverleugnung völlig unerkannt bleibt.
Erwägt man nun, wie durchaus niedrig gesinnt und niedrig begabt, also
wie durchaus gemein die meisten Menschen sind, so wird man einsehn, daß
es nicht möglich ist, mit ihnen zu reden, ohne, auf solche Zeit selbst
gemein zu werden, und dann wird man den eigentlichen Sinn und das Treffende
des Ausdrucks "sich gemein machen" gründlich verstehn, jedoch
auch gern jede Gesellschaft meiden, mit welcher man nur mittelst der partie
honteuse seiner Natur kommunizieren kann.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Deutschen zu loben? - Dazu würde mehr Vaterlandsliebe erfordert,
als man nach dem Lose, welches mir geworden, billigerweise von mir verlangen
kann.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Bekanntlich sind die Sprachen, namentlich in grammatischer Hinsicht, desto
vollkommener, je älter sie sind, und werden stufenweise immer schlechter,
vom hohen Sanskrit an bis zum englischen Jargon herab, diesem aus Lappen
heterogener Stoffe zusammengeflickten Gedankenkleide. Diese allmähliche
Degradation ist ein bedenkliches Argument gegen die beliebten Theorien
unserer so nüchtern lächelnden Optimisten vom "stetigen Fortschritt
der Menschheit zum Besseren", wozu sie die deplorable Geschichte
des bipedischen Geschlechts verdrehen möchten; überdies aber ist sie
ein schwer zu lösendes Problem. Wir können doch nicht umhin, das erste
aus dem Schoße der Natur irgendwie hervorgegangene Menschengeschlecht
uns im Zustande gänzlicher und kindischer Unkunde und folglich roh und
unbeholfen zu denken: wie soll nun ein solches Geschlecht diese höchst
kunstvollen Sprachgebäude, diese komplizierten und mannigfaltigen grammatischen
Formen erdacht haben? selbst angenommen, daß der lexikalische Sprachschatz
sich erst allmählich angesammelt habe. Dabei sehn wir andererseits überall
die Nachkommen bei der Sprache ihrer Eltern bleiben und nur allmählich
kleine Aenderungen daran vornehmen. Die Erfahrung lehrt aber nicht, daß
in der Succession der Geschlechter die Sprachen sich grammatikalisch vervollkommnen,
sondern, wie gesagt, gerade das Gegenteil: sie werden nämlich immer einfacher
und schlechter. - Sollen wir trotzdem annehmen, daß das Leben der Sprache
dem einer Pflanze gleiche, die, aus einem einfachen Keim hervorgegangen,
ein unscheinbarer Schößling, sich allmählich entwickelt, ihre Akme
erreicht und von da an allgemach wieder sinkt, indem sie altert, wir aber
hätten bloß von diesem Verfall, nicht aber vom frühern Wachstum Kunde?
Eine bloß bildliche und noch dazu ganz arbiträre Hypothese, - ein Gleichnis,
keine Erklärung! Um nun eine solche zu erlangen, scheint mir das Plausibelste
die Annahme, daß der Mensch die Sprache instinktiv erfunden hat, indem
ursprünglich in ihm ein Instinkt liege, vermöge dessen er das zum Gebrauch
seiner Vernunft unentbehrliche Werkzeug und Organ derselben ohne Reflexion
und bewußte Absicht hervorbringt, welcher Instinkt sich nachher, wann
die Sprache einmal da ist und er nicht mehr zur Anwendung kommt, verliert.
Wie nun alle aus bloßem Instinkt hervorgebrachten Werke, z. B. der Bau
der Bienen, der Wespen, der Biber, die Vogelnester in so mannigfaltigen
und stets zweckmäßigen Formen u. s. w., eine ihnen eigentümliche Vollkommenheit
haben, indem sie gerade und genau das sind und leisten, was ihr Zweck
erfordert, so daß wir die tiefe Weisheit, die darin liegt, bewundern,
- ebenso ist es mit der ersten und ursprünglichen Sprache: sie hatte
die hohe Vollkommenheit aller Werke des Instinkts: dieser nachzuspüren,
um sie in die Beleuchtung der Reflexion und des deutlichen Bewußtseins
zu bringen, ist das Werk der erst Jahrtausende später auftretenden Grammatik.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ein Kloster ist ein Zusammentreten von Menschen, die Armut, Keuschheit,
Gehorsam (d. i. Entsagung dem Eigenwillen) gelobt haben und sich durch
das Zusammenleben teils die Existenz selbst, noch mehr aber jenen Zustand
schwerer Entsagung zu erleichtern suchen, indem der Anblick ähnlich Gesinnter
und auf gleiche Weise Entsagender ihren Entschluß stärkt und sie tröstet,
sodann die Geselligkeit des Zusammenlebens in gewissen Schranken der menschlichen
Natur angemessen und eine unschuldige Erholung bei vielen schweren Entbehrungen
ist. Dies ist der Normalbegriff der Klöster. Und wer kann eine solche
Gesellschaft einen Verein von Thoren und Narren nennen, wie man doch nach
jeder Philosophie außer meiner muß? ---
Der innere Geist und Sinn des echten Klosterlebens, wie der Askese überhaupt,
ist dieser, daß man sich eines bessern Daseins, als unseres ist, würdig
und fähig erkannt hat und diese Ueberzeugung dadurch bekräftigen und
erhalten will, daß man was diese Welt bietet verachtet, alle ihre Genüsse
als wertlos von sich wirft und nun das Ende dieses, seines eitlen Köders
beraubten Lebens mit Ruhe und Zuversicht abwartet, um einst die Stunde
des Todes, als die der Erlösung, willkommen zu heißen. Das Saniassitum
hat ganz dieselbe Tendenz und Bedeutung, und ebenso das Mönchstum der
Buddhaisten. Allerdings entspricht bei keiner Sache die Praxis so selten
der Theorie, wie beim Mönchstum; eben weil der Grundgedanke desselben
so erhaben ist; und abusus optimi pessimus. Ein echter Mönch ist ein
höchst ehrwürdiges Wesen: aber in den allermeisten Fällen ist die Kutte
ein bloßer Maskenanzug, in welchem so wenig wie in dem auf der Maskerade
ein wirklicher Mönch steckt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der eigentliche Sinn der Hegelschen Charlatanerie scheint mir folgender.
Er nimmt aus der Schellingschen Philosophie diese zwei Sätze, um seinen
Kram darauf zu bauen:
1. Gott und die Welt ist eins *),
2. Das Reale und das Ideale sind eins.
(Ich übergehe, daß beide Sätze von teils unbestimmten, teils falschgefaßten
Begriffen reden.)
Nunmehr sagt er: "Ist der Herrgott mit der Welt eins; so ist er's
um so mehr mit dem Menschen." Folgt, daß der Mensch die Welt geschaffen
hat (denn das hat ja, wie wir wissen, der Herrgott gethan): sie ist daher
nichts als sein, des Herrgotts oder Menschen, wirklich gewordener Gedanke:
weshalb denn eben auch das Reale und Ideale eins sind. Unterm Idealen
verstehe ich (der Hegel) aber nicht etwa die anschauliche Welt; sondern
die Begriffe (indem ich ignoriere, daß sie empirischen und individuellen
Ursprungs sind). Ergo muß zwischen den menschlichen gäng und gäben
Begriffen und der realen Welt die allergenaueste Uebereinstimmung sein;
denn die sind ja eigentlich nur eins und dasselbe **).
,,Folglich ist Logik die Sache: darunter verstehe ich eine Aufzählung
der gäng und gäben Begriffe, wie sie so "unter des Menschen alberner
Stirn" sich zu finden pflegen, ohne Trennung des Formalen vom Inhalt,
ohne Leitfaden, und ohne Menschenverstand: denn ich hab' es mit den deutschen
Dummköpfen zu thun, die man, durch ein sinnloses Wischiwaschi und ein
paar Paradoxien aus dem Tollhause, sehr leicht verdutzt und sie führt
wohin man will."
A propos, ich lege hier für den Fall meines Todes das Bekenntnis ab,
daß ich die deutsche Nation wegen ihrer überschwenglichen Dummheit verachte
und mich schäme, ihr anzugehören. Mich tröstet bloß was Baco sagt,
in den colores boni et mali, von nördlichen und südlichen Völkern.
*) Beiläufig: "Gott und die Welt ist eins" - ist bloß eine
höfliche Wendung dem Herrgott den Abschied zu geben: denn die Welt versteht
sich von selbst, und für die wird keiner dabei besorgt werden.
**) Ergo was wirklich ist, ist vernünftig u. dgl., was wir uns eben denken,
was in unsern Köpfen spukt, daß muß auch sein in der realen Welt; und
was in dieser wirklich ist, das muß auch unserm Gedankensystem gemäß
und eben recht (vernünftig) sein. Die letzte Applikation wird zum jesuitischen
Kniff, alle bestehenden Einrichtungen zu sanktionieren.
Als nachher er sich jedoch bewogen sah, das evangelische Christentum,
explicite, mit der Dreieinigkeit und der Augsburgischen Konfession zum
Resultat und Finale seiner Lehre zu machen, zog er sich jenen oben erwähnten
Grundstein aus der Schellingschen Philosophie wieder unten weg und ließ
sein Narrenhaus in der Luft schweben.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Durch ein ernstlich und streng gehaltenes Klostergelübde oder auch sonst
durch jede durchgeführte Verneinung des Willens zum Leben wird eigentlich
der Akt der Bejahung, durch den das Individuum ins Dasein trat, wieder
ausgelöscht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die aus dem Geschlechtstrieb entspringenden Capricen sind ganz analog
den Irrlichtern. Sie täuschen auf das lebhafteste: aber folgen wir ihnen,
so führen sie uns in den Sumpf, und verschwinden.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage,
recht nahe zusammen, um, durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren
zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches
sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung
sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel;
so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie
eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie
es am besten aushalten konnten. — So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft,
aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen
zu einander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen
Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die
sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehn kann,
ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung
hält, ruft man in England zu: Keep your distance! — Vermöge derselben
wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt,
dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. — Wer jedoch viel
eigene, innere Wärme hat bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine
Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Mir ist unter den Menschen fast immer, wie dem Jesus von Nazareth war,
als er die Jünger aufrief, die immer alle schliefen.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Die Vernunft verdient auch ein Prophet zu heißen: hält sie uns doch
das Zukünftige vor, nämlich als dereinstige Folge und Wirkung unsers
gegenwärtigen Thuns. Dadurch eben ist sie geeignet, uns im Zaum zu halten,
wann Begierden der Wollust, oder Aufwallungen des Zorns, oder Gelüste
der Habsucht uns verleiten wollen zu dem, was künftig bereut werden müßte.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der ewige Jude Ahasverus ist nichts anderes, als die Personifikation des
ganzen jüdischen Volks. Weil er an dem Heiland und Welterlöser schwer
gefrevelt hat, soll er von dem Erdenleben und seiner Last nie erlöst
werden und dabei heimatlos in der Fremde umherirren. Dies ist ja eben
das Vergehn und das Schicksal des kleinen jüdischen Volkes, welches,
wirklich wundersamerweise, seit bald zweitausend Jahren aus seinem Wohnsitze
vertrieben, noch immer fortbesteht und heimatlos umherirrt; während so
viele große und glorreiche Völker, neben welchen eine solche Winkelnation
gar nicht zu nennen ist, Assyrer, Meder, Perser-, Phönizier, Aegypter,
Hetrurier u. s. w. zur ewigen Ruhe eingegangen und gänzlich Verschwunden
sind. So ist denn noch heute diese gens extorris, dieser Johann ohne Land
unter den Völkern, auf dem ganzen Erdboden zu finden, nirgends zu Hause,
und nirgends fremd, behauptet dabei mit beispielloser Hartnäckigkeit
seine Nationalität, ja, möchte, eingedenk des Abraham, der in Kanaan
wohnte als ein Fremdling, aber allmählich, wie sein Gott es ihm verheißen,
Herr des ganzen Landes ward (1. Mos. 17, 8), - auch gern irgendwo recht
fußen und Wurzel schlagen, um wieder zu einem Lande zu gelangen, ohne
welches ja ein Volk ein Ball in der Luft ist *). - Bis dahin lebt es parasitisch
auf den andern Völkern und ihrem Boden, ist aber dabei nichtsdestoweniger
vom lebhaftesten Patriotismus für die eigene Nation beseelt, den es an
den Tag legt durch das festeste Zusammenhalten, wonach alle für einen
und einer für alle stehn; so daß dieser Patriotismus sine patria begeisternder
wirkt, als irgend ein anderer. Das Vaterland des Juden sind die übrigen
Juden: daher kämpft er für sie, wie pro ara et focis, und keine Gemeinschaft
auf Erden hält so fest zusammen, wie diese. Daraus geht hervor, wie absurd
es ist, ihnen einen Anteil an der Regierung oder Verwaltung irgend eines
Staates einräumen zu wollen. Ihre Religion, von Hause aus mit ihrem Staate
verschmolzen und eins, ist dabei keineswegs die Hauptsache, vielmehr nur
das Band, welches sie zusammenhält, der point de ralliement und das Feidzeichen,
daran sie sich erkennen. Dies zeigt sich auch daran, daß sogar der getaufte
Jude, keineswegs, wie doch sonst alle Apostaten, den Haß und Abscheu
der übrigen auf sich ladet, vielmehr, in der Regel, nicht aufhört, Freund
und Genosse derselben, mit Ausnahme einiger Orthodoxen, zu sein und sie
als seine wahren Landsleute zu betrachten. Sogar kann, bei dem regelmäßigen
und feierlichen Gebete der Juden, zu welchem zehn vereint sein müssen,
wenn einer mangelt, ein getaufter Jude dafür eintreten, jedoch kein anderer
Christ. Dasselbe gilt von allen übrigen religiösen Handlungen. Noch
deutlicher würde die Sache hervortreten, wenn einmal das Christentum
ganz in Verfall geriete und aufhörte; indem alsdann die Juden deshalb
nicht aufhören würden als Juden gesondert und für sich zu sein und
zusammenzuhalten. Demnach ist es eine höchst oberflächliche und falsche
Ansicht, wenn man die Juden bloß als Religionssekte betrachtet: wenn
aber gar, um diesen Irrtum zu begünstigen, das Judentum, mit einem der
christlichen Kirche entlehnten Ausdruck, bezeichnet wird als "jüdische
Konfession"; so ist dies ein grundfalscher, auf das Irreleiten absichtlich
berechneter Ausdruck, der gar nicht gestattet sein sollte. Vielmehr ist
"jüdische Nation" das Richtige. Die Juden haben gar keine Konfession:
der Monotheismus gehört zu ihrer Nationalität und Staatsverfassung und
versteht sich bei ihnen von selbst. Ja, wohlverstanden, sind Monotheismus
und Judentum Wechselbegriffe. - Daß die dem Nationalcharakter der Juden
anhängenden, bekannten Fehler, worunter eine wundersame Abwesenheit alles
dessen, was das Wort verecundia ausdrückt, der hervorstechendeste, wenngleich
ein Mangel ist, der in der Welt besser weiter hilft, als vielleicht irgend
eine positive Eigenschaft; daß, sage ich, diese Fehler hauptsächlich
dem langen und ungerechten Drucke, den sie erlitten haben, zuzuschreiben
sind, entschuldigt solche zwar, aber hebt sie nicht auf. Den vernünftigen
Juden, welcher, alte Fabeln, Flausen und Vorurteile aufgebend, durch die
Taufe aus einer Genossenschaft heraustritt, die ihm weder Ehre, noch Vorteil
bringt (wenn auch in Ausnahmsfällen letzteres vorkommt), muß ich durchaus
loben, selbst wenn es ihm mit dem christlichen Glauben kein großer Ernst
sein sollte; ist es denn ein solcher jedem jungen Christen, der bei der
Konfirmation sein Credo hersagt? Um ihm jedoch auch diesen Schritt zu
ersparen und auf die sanfteste Art von der Welt dem ganzen tragikomischen
Unwesen ein Ende zu machen, ist gewiß das beste Mittel, daß man die
Ehe zwischen Juden und Christen gestatte, ja, begünstige; wogegen die
Kirche nichts einwenden kann, da es die Auktorität des Apostels selbst
für sich hat (1. Kor. 7, 12-16). Dann wird es über 100 Jahre nur noch
sehr wenige Juden geben, und bald darauf das Gespenst ganz gebannt, der
Ahasverus begraben sein, und das auserwählte Volk wird selbst nicht wissen,
wo es geblieben ist. Jedoch wird dieses wünschenswerte Resultat vereitelt
werden, wenn man die Emanzipation der Juden so weit treibt, daß sie Staatsrechte,
also Teilnahme an der Verwaltung und Regierung christlicher Länder erhalten.
Denn alsdann werden sie erst recht con amore Juden sein und bleiben. Daß
sie mit andern gleiche bürgerliche Rechte genießen, heischt die Gerechtigkeit:
aber ihnen Anteil am Staat einzuräumen, ist absurd: sie sind und bleiben
ein fremdes, orientalisches Volk, müssen daher stets nur als ansässige
Fremde gelten. Als, vor ungefähr 25 Jahren, im englischen Parlament,
die Judenemanzipation debattiert wurde, stellte ein Redner folgenden hypothetischen
Fall auf: ein englischer Jude kommt nach Lissabon, woselbst er zwei Männer
in äußerster Not und Bedrängnis antrifft, jedoch so, daß es in seine
Macht gegeben ist, einen von ihnen zu retten. Persönlich sind ihm beide
fremd. Jedoch ist der eine ein Engländer, aber ein Christ; der andere
ein Portugiese, aber ein Jude. Wen wird er retten? - Ich glaube, daß
kein einsichtiger Christ und kein aufrichtiger Jude über die Antwort
im Zweifel sein wird. Sie aber gibt den Maßstab für die den Juden einzuräumenden
Rechte.
*) Moses, Lib. IV, c. 13 sqq., nebst Lib. V. c. 2. gibt uns ein lehrreiches
Beispiel des Hergangs bei der allmählichen Bevölkerung der Erde, wie
nämlich ausgewanderte mobile Horden bereits angesessene Völker zu verdrängen
suchten, die gutes Land inne hatten. Der späteste Schritt dieser Art
war die Völkerwanderung oder vielmehr die Eroberung Amerikas, ja, das
noch fortfahrende Zurückdrängen der amerikanischen Wilden, auch der
in Australien.
Die Rolle der Juden, bei ihrer Niederlassung im gelobten Lande, und die
der Römer, bei der ihrigen in Italien, ist im wesentlichen dieselbe,
nämlich die eines eingewanderten Volkes, welches seine früher dagewesenen
Nachbarn fortwährend bekriegt und sie endlich unterjocht. Nur daß die
Römer es ungleich weiter gebracht haben, als die Juden.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Geistige Beängstigung verursacht Herzklopfen; und Herzklopfen geistige
Beängstigung. Gram, Sorge, Unruhe des Gemüts, wirken hemmend und erschwerend
auf den Lebensprozeß und die Getriebe des Organismus, sei es auf den
Blutumlauf, oder auf die Sekretionen, oder auf die Verdauung: sind nun
umgekehrt diese Getriebe, sei es im Herzen, oder in den Gedärmen, oder
in der vena portarum, oder in den Samenbläschen, oder wo noch sonst,
durch physische Ursachen, gehemmt, obstruiert oder anderweitig gestört;
so entsteht Gemütsunruhe, Besorgnis, Grillenfängerei und Gram ohne Gegenstand,
also der Zustand, den man Hypochondrie nennt. Ebenso, noch ferner, macht
Zorn schreien, stark auftreten und heftig gestikulieren: eben diese körperlichen
Aeußerungen aber vermehren ihrerseits den Zorn, oder fachen ihn, beim
geringsten Anlaß, an. Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr alles dieses
meine Lehre von der Einheit und Identität des Willens mit dem Leibe bestätigt,
nach welcher der Leib sogar nichts anderes ist, als eben der in der räumlichen
Anschauung des Gehirns sich darstellende Wille selbst.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Gar manches, was der Macht der Gewohnheit zugeschrieben wird, beruht vielmehr
auf der Konstanz und Unveränderlichkeit des ursprünglichen und angeborenen
Charakters, infolge welcher wir, unter gleichen Umständen, stets dasselbe
thun, welches daher mit gleicher Notwendigkeit das erste, wie das hundertste
Mal geschah. - Die wirkliche Macht der Gewohnheit hingegen beruht eigentlich
auf der Trägheit, welche dem Intellekt und dem Willen die Arbeit, Schwierigkeit,
auch die Gefahr, einer frischen Wahl ersparen will und daher uns heute
thun läßt was wir schon gestern und hundertmal gethan haben und wovon
wir wissen, daß es zu seinem Zwecke führt.
Die Wahrheit dieser Sache liegt aber tiefer: denn sie ist in einem eigentlicheren
Sinne zu verstehn, als es, auf den ersten Blick, scheint. Was nämlich
für die Körper, sofern sie bloß durch mechanische Ursachen bewegt werden,
die Kraft der Trägheit ist; eben das ist für die Körper, welche durch
Motive bewegt werden, die Macht der Gewohnheit. Die Handlungen, welche
wir aus bloßer Gewohnheit vollziehn, geschehn eigentlich ohne individuelles,
einzelnes, eigens für diesen Fall wirkendes Motiv; daher wir dabei auch
nicht eigentlich an sie denken. Bloß die ersten Exemplare jeder zur Gewohnheit
gewordenen Handlung haben ein Motiv gehabt, dessen sekundäre Nachwirkung
die jetzige Gewohnheit ist, welche hinreicht, damit jene auch ferner vor
sich gehe; gerade so, wie ein durch Stoß bewegter Körper keines neuen
Stoßes mehr bedarf, um seine Bewegung fortzusetzen; sondern, sobald sie
nur durch nichts gehemmt wird, in alle Ewigkeit sich fortbewegt. Dasselbe
gilt von Tieren, indem ihre Dressur eine erzwungene Gewohnheit ist. Das
Pferd zieht, gelassen, seinen Karten immer weiter, ohne getrieben zu werden:
diese Bewegung ist immer noch die Wirkung der Peitschenhiebe, durch die
es anfangs getrieben wurde, welche sich als Gewohnheit perpetuiert, nach
dem Gesetze der Trägheit. - Dies alles ist wirklich mehr, als bloßes
Gleichnis: es ist schon Identität der Sache, nämlich des Willens, auf
sehr weit verschiedenen Stufen seiner Objektivation, welchen gemäß nun
dasselbe Bewegungsgesetz sich ebenso verschieden gestaltet.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Viva muchos años! ist im Spanischen ein gewöhnlicher Gruß, und auf
der ganzen Erde ist die Anwünschung langen Lebens sehr gebräuchlich.
Dies läßt sich nicht wohl aus der Kenntnis, was das Leben, hingegen
aus der, was der Mensch, seinem Wesen nach, sei, erklären: nämlich Wille
zum Leben. -
Der Wunsch, den jeder hat, daß man nach seinem Tode seiner gedenken möge,
und der sich bei den Hochstrebenden zu dem Wunsche des Nachruhms steigert,
scheint mir aus der Anhänglichkeit am Leben zu entspringen, die, wenn
sie sich von jeder Möglichkeit des realen Daseins abgeschnitten sieht,
jetzt nach dem allein noch vorhandenen, wenngleich nur idealen, also nach
einem Schatten greift.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das Geld ist die menschliche Glückseligkeit in abstracto; daher, wer
nicht mehr fähig ist, sie in concreto zu genießen, sein ganzes Herz
an dasselbe hängt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Durch erlittenes Unrecht entbrennt im natürlichen Menschen ein heißer
Durst nach Rache, und oft ist gesagt worden, daß Rache süß sei. Es
wird bestätigt durch die vielen Opfer, welche gebracht werden, bloß
um sie zu genießen und ohne dadurch irgend einen Schadenersatz zu beabsichtigen.
Dem Kentauren Nessus versüßt den bittern Tod das sichere Vorhersehn
einer, unter Benutzung seines letzten Augenblicks, überaus klug vorbereiteten
Rache, und denselben Gedanken, in moderner und plausibler Darstellung,
enthält die in drei Sprachen übersetzte Novelle von Bertolotti Le due
sorelle. So richtig wie stark drückt die in Rede stehende menschliche
Neigung Walter Scott aus: Revenge is the sweetest morsel to the mouth,
that ever was cooked in hell. (Rache ist dem Munde der süßeste Bissen,
der je in der Hölle gekocht worden.) Ich will nun die psychologische
Erklärung derselben versuchen.
Alles von der Natur, oder dem Zufall, oder Schicksal, auf uns geworfene
Leiden ist, ceteris paribus, nicht so schmerzlich, wie das, welches fremde
Willkür über uns verhängt. Dies rührt daher, daß wir Natur und Zufall
als ursprüngliche Beherrscher der Welt anerkennen, und einsehn, daß
was durch sie uns traf ebenso jeden andern getroffen haben würde; weshalb
wir im Leiden aus dieser Quelle mehr das gemeinsame Los der Menschheit,
als unser eigenes, bejammern. Hingegen hat das Leiden durch fremde Willkür
eine ganz eigentümliche, bittere Zugabe zu dem Schmerz, oder Schaden
selbst, nämlich das Bewußtsein fremder Ueberlegenheit, sei es durch
Gewalt, oder List, bei eigener Ohnmacht dagegen. Den erlittenen Schaden
heilt Ersatz, wenn er möglich ist: aber jene bittere Zugabe, jenes "und
das muß ich mir von dir gefallen lassen", welches oft mehr schmerzt,
als der Schaden selbst, ist bloß durch Rache zu neutralisieren. Indem
wir nämlich, durch Gewalt oder List, dem Beeinträchtiger wieder Schaden
zufügen, zeigen wir unsre Ueberlegenheit über ihn und annullieren dadurch
den Beweis der seinigen. Dies gibt dem Gemüte die Befriedigung, nach
der es dürstete. Demgemäß wird, wo viel Stolz, oder Eitelkeit ist,
auch viel Rachsucht sein. Wie aber jeder erfüllte Wunsch sich, mehr oder
weniger, als Täuschung entschleiert; so auch der nach Rache. Meistens
wird der von derselben gehoffte Genuß uns vergällt, durch das Mitleid;
ja, oft wird die genommene Rache nachher das Herz zerreißen und das Gewissen
quälen: das Motiv zu derselben wirkt nicht mehr, und der Beweis unsrer
Bosheit bleibt vor uns stehn.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Charakter der Dinge dieser Welt, namentlich der Menschenwelt, ist
nicht sowohl, wie oft gesagt worden, Unvollkommenheit, als vielmehr Verzerrung,
im Moralischen, im Intellektuellen, Physischen, in allem. -
Die bisweilen für manche Laster gehörte Entschuldigung: "Und doch
ist es dem Menschen natürlich," reicht keineswegs aus; sondern man
soll darauf erwidern: "Eben weil es schlecht ist, ist es natürlich,
und eben weil es natürlich ist, ist es schlecht." - Dies recht zu
verstehn muß man den Sinn der Lehre von der Erbsünde erkannt haben.
-
Bei Beurteilung eines menschlichen Individuums sollte man stets den Gesichtspunkt
festhalten, daß die Grundlage desselben etwas ist, das gar nicht sein
sollte, etwas Sündliches, Verkehrtes, das, was unter der Erbsünde verstanden
worden, das, weshalb er dem Tode verfallen ist; welche schlechte Grundbeschaffenheit
sogar sich darin charakterisiert, daß keiner verträgt, daß man ihn
aufmerksam betrachte. Was darf man von einem solchen Wesen erwarten? Geht
man also hievon aus, so wird man ihn nachsichtiger beurteilen, wird sich
nicht wundern, wenn die Teufel, die in ihm stecken, einmal wach werden
und herausschauen, und wird das Gute, welches dennoch, sei es nun infolge
des Intellekts oder woher sonst, in ihm sich eingefunden hat, besser zu
schätzen wissen. - Zweitens aber soll man auch seine Lage bedenken und
wohl erwägen, daß das Leben wesentlich ein Zustand der Not und oft des
Jammers ist, wo jedes um sein Dasein zu ringen und zu kämpfen hat und
daher nicht immer liebliche Mienen aufsetzen kann. - Wäre, im Gegenteil,
der Mensch das, wozu ihn alle optimistischen Religionen und Philosophien
machen wollen, das Werk oder gar die Inkarnation eines Gottes, überhaupt
ein Wesen, das in jedem Sinne sein und so sein sollte, wie es ist; - wie
ganz anders müßte dann der erste Anblick, die nähere Bekanntschaft
und der fortgesetzte Umgang eines jeden Menschen mit uns wirken, als jetzt
der Fall ist! -
Pardon is the word to all (Cymbeline last Scene). Mit jeder menschlichen
Thorheit, Fehler, Laster sollen wir Nachsicht haben, bedenkend, daß,
was wir da vor uns haben, eben nur unsere eigenen Thorheiten, Fehler und
Laster sind: denn es sind eben die Fehler der Menschheit, welcher auch
wir angehören und sonach ihre sämtlichen Fehler an uns haben, also auch
die, über welche wir eben jetzt uns entrüsten, bloß weil sie nicht
gerade jetzt bei uns hervortreten: sie sind nämlich nicht auf der Oberfläche,
aber sie liegen unten auf dem Grund und werden beim ersten Anlaß heraufkommen
und sich zeigen, ebenso wie wir sie jetzt am Andern sehn; wenngleich bei
einem dieser, bei jenem ein anderer hervorsticht, oder wenn auch nicht
zu leugnen ist, daß das gesamte Maß aller schlechten Eigenschaften beim
einen sehr viel größer, als beim andern ist. Denn der Unterschied der
Individualitäten ist unberechenbar groß.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Wegen des Mangels an
Vernunft, also an Allgemeinbegriffen, ist das Thier, wie der Sprache,
so auch des Lachens unfähig. Dieses ist daher ein Vorrecht und charakteristisches
Merkmal des Menschen. Jedoch hat, beiläufig gesagt, auch sein einziger
Freund, der Hund, einen analogen, ihm allein eigenen und charakteristischen
Akt vor allen andern Thieren voraus, nämlich das so ausdrucksvolle, wohlwollende
und grundehrliche Wedeln. Wie vortheilhaft sticht doch diese, ihm von
der Natur eingegebene Begrüßung ab, gegen die Bücklinge und grinzenden
Höflichkeitsbezeugungen der Menschen, deren Versicherung inniger Freundschaft
und Ergebenheit es an Zuverlässigkeit, wenigstens für die Gegenwart,
tausend Mal übertrifft. -
Das Gegentheil des Lachens und Scherzes ist der Ernst. Demgemäß besteht
er im Bewußtseyn der vollkommenen Uebereinstimmung und Kongruenz des
Begriffs, oder Gedankens, mit dem Anschaulichen, oder der Realität. Der
Ernste ist überzeugt, daß er die Dinge denkt wie sie sind, und daß
sie sind wie er sie denkt. Eben deshalb ist der Uebergang vom tiefen Ernst
zum Lachen so besonders leicht und durch Kleinigkeiten zu bewerkstelligen;
weil jene vom Ernst angenommene Uebereinstimmung, je vollkommener sie
schien, desto leichter selbst durch eine geringe, unerwartet zu Tage kommende
Inkongruenz aufgehoben wird. Daher je mehr ein Mensch des ganzen Ernstes
fähig ist, desto herzlicher kann er lachen. Menschen, deren Lachen stets
affektirt und gezwungen herauskommt, sind intellektuell und moralisch
von leichtem Gehalt; wie denn überhaupt die Art des Lachens, und andererseits
der Anlaß dazu, sehr charakteristisch für die Person ist. Daß die Geschlechtsverhältnisse
den leichtesten, jederzeit bereit liegenden und auch dem schwächsten
Witz erreichbaren Stoff zum Scherze abgeben, wie die Häufigkeit der Zoten
beweist, könnte nicht seyn, wenn nicht der tiefste Ernst gerade ihnen
zum Grunde läge.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Daß heut zu Tage in der Deutschen Litteratur "humoristisch"
durchgängig in der Bedeutung von "komisch" überhaupt gebraucht
wird, entspringt aus der erbärmlichen Sucht, den Dingen einen vornehmeren
Namen zu geben, als ihnen zukommt, nämlich den einer über ihnen stehenden
Klasse: so will jedes Wirthshaus Hotel, jeder Geldwechsler Banquier, jede
Reiterbude Cirkus, jedes Konzert Musikalische Akademie, das Kaufmannskomptoir
Büreau, der Töpfer Thonkünstler heißen, - demnach auch jeder Hanswurst
Humorist. Das Wort Humor ist von den Engländern entlehnt, um eine, bei
ihnen zuerst bemerkte, ganz eigenthümliche, sogar, wie oben gezeigt,
dem Erhabenen verwandte Art des Lächerlichen auszusondern und zu bezeichnen;
nicht aber um jeden Spaaß und jede Hanswurstiade damit zu betiteln, wie
jetzt in Deutschland allgemein, ohne Opposition, geschieht, von Litteraten
und Gelehrten; weil der wahre Begriff jener Abart, jener Geistesrichtung,
jenes Kindes des Lächerlichen und Erhabenen, zu subtil und zu hoch seyn
würde für ihr Publikum, welchem zu gefallen, sie bemüht sind, Alles
abzuplatten und zu pöbelarisiren. Je nun, "hohe Worte und niedriger
Sinn" ist überhaupt der Wahlspruch der edeln "Jetztzeit":
demgemäß heißt heut zu Tage ein Humorist, was ehemals ein Hanswurst
genannt wurde. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Aber man soll wissen, daß die schlechten Köpfe die Regel, die
guten die Ausnahme, die eminenten höchst selten, das Genie ein portentum
ist. Wie könnte sonst ein aus ungefähr acht hundert Millionen Individuen
bestehendes Menschengeschlecht, nach sechs Jahrtausenden, noch so Vieles
zu entdecken, zu erfinden, zu erdenken und zu sagen übrig gelassen haben?
Auf Erhaltung des Individuums allein ist der Intellekt berechnet und in
der Regel selbst hiezu nur nothdürftig ausreichend. Aber weislich ist
die Natur mit Ertheilung eines größern Maaßes sehr karg gewesen: denn
der beschränkte Kopf kann die wenigen und einfachen Verhältnisse, welche
im Bereich seiner engen Wirkungssphäre liegen, mit viel größerer Leichtigkeit
übersehen und die Hebel derselben handhaben, als der eminente, der eine
ungleich größere und reichere Sphäre überblickt und mit langen Hebeln
agirt, es könnte. So sieht das Insekt auf seinen Stängeln und Blättchen
Alles mit minutiösester Genauigkeit und besser, als wir; wird aber nicht
den Menschen gewahr, der drei Schritte davon steht. Hierauf beruht die
Schlauheit der Dummen und das Paradoxon: Il y a un mystère dans l`esprit
des gens qui n`en ont pas. Für das praktische Leben ist das Genie so
brauchbar, wie ein Stern=Teleskop im Theater. - Sonach ist, in Hinsicht
auf den Intellekt, die Natur höchst aristokratisch. Die Unterschiede,
die sie hier eingesetzt hat, sind größer als die, welche Geburt, Rang,
Reichthum, oder Kastenunterschied in irgend einem Lande feststellen: aber
wie in andern Aristokratien, so auch in der ihrigen, kommen viele tausend
Plebejer auf einen Edeln, viele Millionen auf einen Fürsten, und ist
der große Haufen bloßer Pöbel, mob, rabble, la canaille. Dabei ist
nun freilich zwischen der Rangliste der Natur und der der Konvention ein
schreiender Kontrast, dessen Ausgleichung nur in einem goldenen Zeitalter
zu hoffen stände. Inzwischen haben die auf der einen, und die auf der
andern Rangliste sehr hoch Stehenden das Gemeinsame, daß sie meistens
in vornehmer Isolation leben, auf welche Byron hindeutet, wenn er sagt:
To feel me in the solitude of kings, without the power that makes them
bear a crown *).
(Proph. of Dante. C. 1.)
Denn der Intellekt ist ein differenzirendes, mithin trennendes Princip:
seine verschiedenen Abstufungen geben, noch viel mehr als die der bloßen
Bildung, Jedem andere Begriffe, in Folge deren gewissermaaßen Jeder in
einer andern Welt lebt, in welcher er nur dem Gleichgestellten unmittelbar
begegnet, den Uebrigen aber bloß aus der Ferne zurufen und sich ihnen
verständlich zu machen suchen kann. Große Unterschiede im Grade und
dabei in der Ausbildung des Verstandes öffnen zwischen Mensch und Mensch
eine weite Kluft, über welche nur die Herzensgüte setzen kann, als welche
im Gegentheil das unificirende Princip ist, welches jeden Andern mit dem
eigenen Selbst identificirt. Jedoch bleibt die Verbindung eine moralische:
sie kann keine intellektuelle werden. Sogar bei ziemlich gleichem Grade
der Bildung gleicht die Konversation zwischen einem großen Geiste und
einem gewöhnlichen Kopfe der gemeinschaftlichen Reise eines Mannes, der
auf einem muthigen Rosse sitzt, mit einem Fußgänger. Beiden wird sie
bald höchst lästig und auf die Länge unmöglich. Auf eine kurze Strecke
kann zwar der Reiter absitzen, um mit dem Andern zu gehen; wiewohl auch
dann ihm die Ungeduld seines Pferdes viel zu schaffen machen wird. -
Das Publikum aber könnte durch nichts so sehr gefördert werden, als
durch die Erkenntniß jener intellektuellen Aristokratie der Natur. Vermöge
einer solchen würde es begreifen, daß zwar, wo es sich um Thatsachen
handelt, also etwan aus Experimenten, Reisen, Codices, Geschichtsbüchern
und Chroniken referirt werden soll, der normale Kopf ausreicht; hingegen
wo es sich bloß um Gedanken handelt, zumal um solche, zu welchen der
Stoff, die Data, Jedem vorliegen, wo es also eigentlich nur darauf ankommt,
den Andern vorzudenken, entschiedene Ueberlegenheit, angeborene Eminenz,
welche nur die Natur und höchst selten verleiht, unerläßlich erfordert
ist, und Keiner Gehör verdient, der nicht sogleich Proben derselben ablegt.
Könnte dem Publiko die selbsteigene Einsicht hierin verliehen werden;
so würde es nicht mehr die ihm zu seiner Bildung kärglich zugemessene
Zeit vergeuden an den Produktionen gewöhnlicher Köpfe, also an den zahllosen
Stümpereien in Poesie und Philosophie, wie sie jeder Tag ausbrütet;
es würde nicht mehr, im kindischen Wahn, daß Bücher, gleich Eiern,
frisch genossen werden müssen, stets nach dem Neuesten greifen; sondern
würde sich an die Leistungen der wenigen Auserlesenen und Berufenen aller
Zeiten und Völker halten, würde suchen sie kennen und verstehen zu lernen,
und könnte so allmälig zu ächter Bildung gelangen. Dann würden auch
bald jene Tausende unberufener Produktionen ausbleiben, die wie Unkraut
dem guten Weizen das Aufkommen erschweren.
*) Die Einsamkeit der Könige zu fühlen, jedoch der Macht entbehren,
welche sie die Krone tragen läßt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Wirklich liegt alle Wahrheit und alle Weisheit zuletzt in der Anschauung.
Aber leider läßt diese sich weder festhalten, noch mittheilen: allenfalls
lassen sich die objektiven Bedingungen dazu, durch die bildenden Künste
und schon viel mittelbarer durch die Poesie, gereinigt und verdeutlicht
den Andern vorlegen; aber sie beruht eben so sehr auf subjektiven Bedingungen,
die nicht Jedem und Keinem jederzeit zu Gebote stehen, ja die, in den
höhern Graden der Vollkommenheit, nur die Begünstigung Weniger sind.
Unbedingt mittheilbar ist nur die schlechteste Erkenntniß, die abstrakte,
die sekundäre, der Begriff, der bloße Schatten eigentlicher Erkenntniß.
Wenn Anschauungen mittheilbar wären, da gäbe es eine der Mühe lohnende
Mittheilung: so aber muß am Ende Jeder in seiner Haut bleiben und in
seiner Hirnschaale, und Keiner kann dem Andern helfen. Den Begriff aus
der Anschauung zu bereichern, sind Poesie und Philosophie unablässig
bemüht. — Inzwischen sind die wesentlichen Zwecke des Menschen praktisch;
für diese aber ist es hinreichend, daß das anschaulich Aufgefaßte Spuren
in ihm hinterläßt, vermöge deren er es, beim nächsten ähnlichen Fall,
wiedererkennt: so wird er weltklug. Daher kann der Weltmann, in der Regel,
seine gesammelte Wahrheit und Weisheit nicht lehren, sondern bloß üben:
er faßt jedes Vorkommende richtig auf und beschließt, was demselben
gemäß ist. — Daß Bücher nicht die Erfahrung, und Gelehrsamkeit nicht
das Genie ersetzt, sind zwei verwandte Phänomene: ihr gemeinsamer Grund
ist, daß das Abstrakte nie das Anschauliche ersetzen kann. Bücher ersetzen
darum die Erfahrung nicht, weil Begriffe stets allgemein bleiben und daher
auf das Einzelne, welches doch gerade das im Leben zu Behandelnde ist,
nicht herab gelangen: hiezu kommt, daß alle Begriffe eben aus dem Einzelnen
und Anschaulichen der Erfahrung abstrahirt sind, daher man dieses schon
kennen gelernt haben muß, um auch nur das Allgemeine, welches die Bücher
mittheilen, gehörig zu verstehen. Gelehrsamkeit ersetzt das Genie nicht,
weil auch sie bloß Begriffe liefert, die geniale Erkenntniß aber in
der Auffassung der (Platonischen) Ideen der Dinge besteht, daher wesentlich
intuitiv ist. Beim ersten Phänomen fehlt demnach die objektive Bedingung
zur anschauenden Erkenntniß; beim zweiten die subjektive: jene läßt
sich erlangen; diese nicht.
Weisheit und Genie, diese zwei Gipfel des Parnassus menschlicher Erkenntniß,
wurzeln nicht im abstrakten, diskursiven, sondern im anschauenden Vermögen.
Die eigentliche Weisheit ist etwas Intuitives, nicht etwas Abstraktes.
Sie besteht nicht in Sätzen und Gedanken, die Einer als Resultate fremder
oder eigener Forschung im Kopfe fertig herumtrüge: sondern sie ist die
ganze Art, wie sich die Welt in seinem Kopfe darstellt. Diese ist so höchst
verschieden, daß dadurch der Weise in einer andern Welt lebt, als der
Thor, und das Genie eine andere Welt sieht, als der Stumpfkopf. Daß die
Werke des Genies die aller Andern himmelweit übertreffen, kommt bloß
daher, daß die Welt, die es sieht und der es seine Aussagen entnimmt,
so viel klärer, gleichsam tiefer herausgearbeitet ist, als die in den
Köpfen der Andern, welche freilich die selben Gegenstände enthält,
aber zu jener sieh verhält, wie ein Chinesisches Bild, ohne Schatten
und Perspektive, zum vollendeten Oelgemälde. Der Stoff ist in aller Köpfen
der selbe; aber in der Vollkommenheit der Form, die er in jedem annimmt,
liegt der Unterschied, auf welchem die so vielfache Abstufung der Intelligenzen
zuletzt beruht: dieser ist also schon in der Wurzel, in der anschauenden
Auffassung, vorhanden und entsteht nicht erst im Abstrakten. Daher eben
zeigt die ursprüngliche geistige Ueberlegenheit sich so leicht bei jedem
Anlaß, und wird augenblicklich den Andern fühlbar und verhaßt.
Im Praktischen vermag die intuitive Erkenntniß des Verstandes unser Thun
und Benehmen unmittelbar zu leiten, während die abstrakte der Vernunft
es nur unter Vermittelung des Gedächtnisses kann. Hieraus entspringt
der Vorzug der intuitiven Erkenntniß für alle die Fälle, die keine
Zeit zur Ueberlegung gestatten, also für den täglichen Verkehr, in welchem
eben deshalb die Weiber excelliren. Nur wer das Wesen der Menschen, wie
sie in der Regel sind, intuitiv erkannt hat und eben so die Individualität
des gegenwärtigen Einzelnen auffaßt, wird diesen mit Sicherheit und
richtig zu behandeln verstehen. Ein Anderer mag alle dreihundert Klugheitsregeln
des Gracian auswendig wissen; dies wird ihn nicht vor Balourdisen und
Mißgriffen schützen, wenn jene intuitive Erkenntniß ihm abgeht. Denn
alle abstrakte Erkenntniß giebt zuvörderst bloß allgemeine Grundsätze
und Regeln; aber der einzelne Fall ist fast nie genau nach der Regel zugeschnitten:
sodann soll diese nun erst das Gedächtniß zu rechter Zeit vergegenwärtigen;
was selten pünktlich geschieht: dann soll aus dem vorliegenden Fall die
propositio minor gebildet und endlich die Konklusion gezogen werden. Ehe
das Alles geschehen, wird die Gelegenheit uns meistens schon das kahle
Hinterhaupt zugekehrt haben, und dann dienen jene trefflichen Grundsätze
und Regeln höchstens, uns hinterher die Größe des begangenen Fehlers
ermessen zu lassen. Freilich wird hieraus, mittelst Zeit, Erfahrung und
Uebung, die Weltklugheit langsam erwachsen; weshalb, in Verbindung mit
diesen, die Regeln in abstracto allerdings fruchtbar werden können. Hingegen
die intuitive Erkenntniß, welche stets nur das Einzelne auffaßt, steht
in unmittelbarer Beziehung zum gegenwärtigen Fall: Regel, Fall und Anwendung
ist für sie Eins, und diesem folgt das Handeln auf den Fuß. Hieraus
erklärt sich, warum, im wirklichen Leben, der Gelehrte, dessen Vorzug
im Reichthum abstrakter Erkenntnisse liegt, so sehr zurücksteht gegen
den Weltmann, dessen Vorzug in der vollkommenen intuitiven Erkenntniß
besteht, die ihm ursprüngliche Anlage verliehen und reiche Erfahrung
ausgebildet hat. Immer zeigt sich zwischen beiden Erkenntnißweisen das
Verhältniß des Papiergeldes zum baaren: wie jedoch für manche Fälle
und Angelegenheiten jenes diesem vorzuziehen ist; so giebt es auch Dinge
und Lagen, für welche die abstrakte Erkenntniß brauchbarer ist, als
die intuitive. Wenn es nämlich ein Begriff ist, der, bei einer Angelegenheit,
unser Thun leitet; so hat er den Vorzug, ein Mal gefaßt, unveränderlich
zu seyn; daher wir, unter seiner Leitung, mit vollkommener Sicherheit
und Festigkeit zu Werke gehen. Allein diese Sicherheit, die der Begriff
auf der subjektiven Seite verleiht, wird aufgewogen durch die auf der
objektiven Seite ihn begleitende Unsicherheit: nämlich der ganze Begriff
kann falsch und grundlos seyn, oder auch das zu behandelnde Objekt nicht
unter ihn gehören, indem es gar nicht, oder doch nicht ganz, seiner Art
wäre. Werden wir nun, im einzelnen Fall, so etwas plötzlich inne; so
sind wir aus der Fassung gebracht: werden wir es nicht inne; so lehrt
es der Erfolg. Daher sagt Vauvenargue: Personne n’est sujet à plus
de fautes, que ceux qui n`agissent que par rèflexion. — Ist es hingegen
unmittelbar die Anschauung der zu behandelnden Objekte und ihrer Verhältnisse,
die unser Thun leitet; so schwanken wir leicht bei jedem Schritt: denn
die Anschauung ist durchweg modifikabel, ist zweideutig, hat unerschöpfliche
Einzelnheiten in sich, und zeigt viele Seiten nach einander: wir handeln
daher ohne volle Zuversicht. Allein die subjektive Unsicherheit wird durch
die objektive Sicherheit kompensirt: denn hier steht kein Begriff zwischen
dem Objekt und uns, wir verlieren dieses nicht aus dem Auge: wenn wir
daher nur richtig sehen, was wir vor uns haben und was wir thun; so werden
wir das Rechte treffen. — Vollkommen sicher ist demnach unser Thun nur
dann, wann es von einem Begriffe geleitet wird, dessen richtiger Grund,
Vollständigkeit und Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall völlig gewiß
ist. Das Handeln nach Begriffen kann in Pedanterie, das nach dem anschaulichen
Eindruck in Leichtfertigkeit und Thorheit übergehen.
Die Anschauung ist nicht nur die Quelle aller Erkenntniß, sondern sie
selbst ist die Erkenntniß κατ` εξοχην, ist allein die unbedingt
wahre, die ächte, die ihres Namens vollkommen würdige Erkenntniß: denn
sie allein ertheilt eigentliche Einsicht, sie allein wird vom Menschen
wirklich assimilirt, geht in sein Wesen über und kann mit vollem Grunde
sein heißen; während die Begriffe ihm bloß ankleben. Im vierten Buche
sehen wir sogar die Tugend eigentlich von der anschauenden Erkenntniß
ausgehen: denn nur die Handlungen, welche unmittelbar durch diese hervorgerufen
werden, mithin aus reinem Antriebe unserer eigenen Natur geschehen, sind
eigentliche Symptome unsers wahren und unveränderlichen Charakters; nicht
so die, welche aus der Reflexion und ihren Dogmen hervorgegangen, dem
Charakter oft abgezwungen sind, und daher keinen unveränderlichen Grund
und Boden in uns haben. Aber auch die Weisheit, die wahre Lebensansicht,
der richtige Blick und das treffende Urtheil, gehen hervor aus der Art,
wie der Mensch die anschauliche Welt auffaßt, nicht aber aus seinem bloßen
Wissen, d. h. nicht aus abstrakten Begriffen. Wie der Fonds oder Grundgehalt
jeder Wissenschaft nicht in den Beweisen, noch in dem Bewiesenen besteht,
sondern in dem Unbewiesenen, auf welches die Beweise sich stützen und
welches zuletzt nur anschaulich erfaßt wird; so besteht auch der Fonds
der eigentlichen Weisheit und der wirklichen Einsicht jedes Menschen nicht
in den Begriffen und dem Wissen in abstracto, sondern in dem Angeschauten
und dem Grade der Schärfe, Richtigkeit und Tiefe, mit dem er es aufgefaßt
hat. Wer hierin excellirt, erkennt die (Platonischen) Ideen der Welt und
des Lebens: jeder Fall, den er gesehen, repräsentirt ihm unzählige;
er faßt immer mehr jedes Wesen seiner wahren Natur nach auf, und sein
Thun, wie sein Urtheil, entspricht seiner Einsicht. Allmälig nimmt auch
sein Antlitz den Ausdruck des richtigen Blickes, der wahren Vernünftigkeit
und, wenn es weit kommt, der Weisheit an. Denn die Ueberlegenheit in der
anschauenden Erkenntniß ist es allein, die ihren Stempel auch den Gesichtszügen
aufdrückt; während die in der abstrakten dies nicht vermag. Dem Gesagten
gemäß finden wir unter allen Ständen Menschen von intellektueller Ueberlegenheit,
und oft ohne alle Gelehrsamkeit. Denn natürlicher Verstand kann fast
jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand.
Der Gelehrte hat vor Solchen allerdings einen Reichthum von Fällen und
Thatsachen (historische Kenntniß) und Kausalbestimmungen (Naturlehre),
Alles in wohlgeordnetem, übersehbarem Zusammenhange, voraus: aber damit
hat er doch noch nicht die richtigere und tiefere Einsicht in das eigentlich
Wesentliche aller jener Fälle, Thatsachen und Kausalitäten. Der Ungelehrte
von Scharfblick und Penetration weiß jenes Reichthums zu entrathen: mit
Vielem hält man Haus, mit Wenig kommt man aus. Ihn lehrt Ein Fall aus
eigener Erfahrung mehr, als manchen Gelehrten tausend Fälle, die er kennt,
aber nicht eigentlich versteht: denn das wenige Wissen jenes Ungelehrten
ist lebendig; indem jede ihm bekannte Thatsache durch richtige und wohlgefaßte
Anschauung belegt ist, wodurch dieselbe ihm tausend ähnliche vertritt.
Hingegen ist das viele Wissen der gewöhnlichen Gelehrten todt; weil es,
wenn auch nicht, wie oft der Fall ist, aus bloßen Worten, doch aus lauter
abstrakten Erkenntnissen besteht: diese aber erhalten ihren Werth allein
durch die anschauliche Erkenntniß des Individuums, auf die sie sich beziehen,
und die zuletzt die sämmtlichen Begriffe realisiren muß. Ist nun diese
sehr dürftig; so ist ein solcher Kopf beschaffen, wie eine Bank, deren
Assignationen den baaren Fonds zehnfach übersteigen, wodurch sie zuletzt
bankrott wird. Daher, während manchem Ungelehrten die richtige Auffassung
der anschaulichen Welt den Stempel der Einsicht und Weisheit auf die Stirne
gedrückt hat, trägt das Gesicht manches Gelehrten von seinen vielen
Studien keine anderen Spuren, als die der Erschöpfung und Abnutzung,
durch übermäßige, erzwungene Anstrengung des Gedächtnisses zu widernatürlicher
Anhäufung todter Begriffe: dabei sieht ein solcher oft so einfältig,
albern und Schaafmäßig darein, daß man glauben muß, die übermäßige
Anstrengung der dem Abstrakten zugewendeten, mittelbaren Erkenntnißkraft
bewirke direkte Schwächung der unmittelbaren und anschauenden, und der
natürliche, richtige Blick werde durch das Bücherlicht mehr und mehr
geblendet. Allerdings muß das fortwährende Einströmen fremder Gedanken
die eigenen hemmen und ersticken, ja, auf die Länge, die Denkkraft lähmen,
wenn sie nicht den hohen Grad von Elasticität hat, welcher jenem unnatürlichen
Strom zu widerstehen vermag. Daher verdirbt das unaufhörliche Lesen und
Studiren geradezu den Kopf; zudem auch dadurch, daß das System unserer
eigenen Gedanken und Erkenntnisse seine Ganzheit und stetigen Zusammenhang
einbüßt, wenn wir diesen so oft willkürlich unterbrechen, um für einen
ganz fremden Gedankengang Raum zu gewinnen. Meine Gedanken verscheuchen,
um denen eines Buches Platz zu machen, käme mir vor, wie was Shakespeare
an den Touristen seiner Zeit tadelt, daß sie ihr eigen Land verkaufen,
um Anderer ihres zu sehen. Jedoch ist die Lesewuth der meisten Gelehrten
eine Art fuga vacui der Gedankenleere ihres eigenen Kopfes, welche nun
das Fremde mit Gewalt hereinzieht: um Gedanken zu haben, müssen sie welche
lesen, wie die leblosen Körper nur von außen Bewegung erhalten; während
die Selbstdenker den lebendigen gleichen, die sich von selbst bewegen.
Es ist sogar gefährlich, früher über einen Gegenstand zu lesen, als
man selbst darüber nachgedacht hat. Denn da schleicht sich mit dem neuen
Stoff zugleich die fremde Ansicht und Behandlung desselben in den Kopf,
und zwar um so mehr, als Trägheit und Apathie anrathen, sich die Mühe
des Denkens zu ersparen und das fertige Gedachte anzunehmen und gelten
zu lassen. Dies nistet sich jetzt ein, und fortan nehmen die Gedanken
darüber, gleich den in Gräben geleiteten Bächen, stets den gewohnten
Weg: einen eigenen, neuen zu finden, ist dann doppelt schwer. Dies trägt
viel bei zum Mangel an Originalität der Gelehrten. Dazu kommt aber noch,
daß sie vermeinen, gleich anderen Leuten, ihre Zeit zwischen Genuß und
Arbeit theilen zu müssen. Nun halten sie das Lesen für ihre Arbeit und
eigentlichen Beruf, überfressen sich also daran, bis zur Unverdaulichkeit.
Da spielt nun nicht mehr bloß das Lesen dem Denken das Prävenire, sondern
nimmt dessen Stelle ganz ein: denn sie denken an die Sachen auch gerade
nur so lange, wie sie darüber lesen, also mit einem fremden Kopf, nicht
mit dem eigenen. Ist aber das Buch weggelegt, so nehmen ganz andere Dinge
ihr Interesse viel lebhafter in Anspruch, nämlich persönliche Angelegenheiten,
sodann Schauspiel, Kartenspiel, Kegelspiel, Tagesbegebenheiten und Geklatsch.
Der denkende Kopf ist es dadurch, daß solche Dinge kein Interesse für
ihn haben, wohl aber seine Probleme, denen er daher überall nachhängt,
von selbst und ohne Buch: dies Interesse sich zu geben, wenn man es nicht
hat, ist unmöglich. Daran liegt’s. Und daran liegt es auch, daß Jene
immer nur von Dem reden, was sie gelesen, er hingegen von Dem, was er
gedacht hat, und daß sie sind, wie Pope sagt:
For ever reading, never to be read. *)
Der Geist ist seiner Natur nach ein Freier, kein Fröhnling: nur was er
von selbst und gern thut, geräth. Hingegen erzwungene Anstrengung eines
Kopfes, zu Studien, denen er nicht gewachsen ist, oder wann er müde geworden,
oder überhaupt zu anhaltend und invita Minerva, stumpft das Gehirn so
ab, wie Lesen im Mondschein die Augen. Ganz besonders thut dies auch die
Anstrengung des noch unreifen Gehirns, in den frühen Kinderjahren: ich
glaube, daß das Erlernen der Lateinischen und Griechischen Grammatik
vom sechsten bis zum zwölften Jahre den Grund legt zur nachherigen Stumpfheit
der meisten Gelehrten. Allerdings bedarf der Geist der Nahrung, des Stoffes
von außen. Aber wie nicht Alles was wir essen dem Organismus sofort einverleibt
wird, sondern nur sofern es verdaut worden, wobei nur ein kleiner Theil
davon wirklich assimilirt wird, das Uebrige wieder abgeht, weshalb mehr
essen als man assimiliren kann, unnütz, ja schädlich ist; gerade so
verhält es sich mit dem was wir lesen: nur sofern es Stoff zum Denken
giebt, vermehrt es unsere Einsicht und eigentliches Wissen. Daher sagte
schon Herakleitos πολυμαϑια νουν ου διδασκει (multiscitia
non dat intellectum): mir aber scheint die Gelehrsamkeit mit einem schweren
Harnisch zu vergleichen, als welcher allerdings den starken Mann völlig
unüberwindlich macht, hingegen dem Schwachen eine Last ist, unter der
er vollends zusammensinkt. —
Die in unserm dritten Buch ausgeführte Darstellung der Erkenntniß der
(Platonischen) Ideen, als der höchsten dem Menschen erreichbaren und
zugleich als einer durchaus anschauenden, ist uns ein Beleg dazu, daß
nicht im abstrakten Wissen, sondern in der richtigen und tiefen anschaulichen
Auffassung der Welt die Quelle wahrer Weisheit liegt. Daher können auch
Weise in jeder Zeit leben, und die der Vorzeit bleiben es für alle kommenden
Geschlechter: Gelehrsamkeit hingegen ist relativ: die Gelehrten der Vorzeit
sind meistens Kinder gegen uns und bedürfen der Nachsicht.
*) Beständig lesend, um nie gelesen zu werden. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Daß die niedrigste aller Geistesthätigkeiten die arithmetische sei,
wird dadurch belegt, daß sie die einzige ist, welche auch durch eine
Maschine ausgeführt werden kann; wie denn jetzt in England dergleichen
Rechenmaschinen bequemlichkeitshalber schon in häufigem Gebrauche sind.
- Nun läuft aber alle analysis finitorum et infinitorum im Grunde doch
auf Rechnerei zurück. Danach bemesse man den "mathematischen Tiefsinn",
über welchen schon Lichtenberg sich lustig macht, indem er sagt: "Die
sogenannten Mathematiker von Profession haben sich, auf die Unmündigkeit
der übrigen Menschen gestützt, einen Kredit von Tiefsinn erworben, der
viel Aehnlichkeit mit dem von Heiligkeit hat, den die Theologen für sich
haben."
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Man hat wollen die Folge der Handlung aus dem Motiv verstehn aus der Folge
der Wirkung aus der Ursache *) : ebenso das tierische Leben aus Elektrizität
und Chemismus, diesen wieder aus Mechanismus: so immer das Nähere aus
dem Ferneren, das Unmittelbare aus dem Mittelbaren, das Starkerscheinende
aus dem Schwacherscheinenden, das Ansich aus der Erscheinung. Ich schlage
den entgegengesetzten Weg ein: aus der Art, wie das Motiv deinen Willen
bewegt, sollst du verstehen, wie die Ursache die Wirkung bewegt, aus den
auf Motive erfolgenden (vulgo willkürlichen) Bewegungen deines Leibes
die ohne Motiv erfolgenden (organischen, vegetativen), aus diesen die
lebende Natur, den Chemismus, den Mechanismus und aus dem Wirken des Motivs
das Wirken der Ursach: also aus dem Unmittelbaren das Mittelbare, aus
dem Nahen das Ferne, aus dem Vollkommenen das Unvollkommene, aus dem Ding
an sich, dem Willen, die Erscheinung.
Dies ist die eigentliche Originalität meiner Lehre, wodurch sie durchaus
im Gegensatz steht mit allen früheren Versuchen, und von Grund aus die
Methode der Untersuchung ändert. — Nicht aus der Erscheinung das Ding
an sich, was ewig mißlingen mußte, sondern umgekehrt soll erklärt werden.
— Aus dir sollst du die Natur verstehn (Γνωϑι σαυτον), nicht
dich aus der Natur. Das ist mein revolutionäres Prinzip.
*) und weil es nicht gelang, setzte man sie als ein toto genere Verschiedenes,
freier Wille.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Die Pythagoreer, voll Erstaunen und Bewunderung über die Aufschlüsse
und die Sicherheit der Mathematik, gerieten in den Irrtum, daß dieser
nichts unerreichbar sein müsse, indem sie ihren Gegenstand nicht für
das Grundschema des empirischen, sondern alles Wissens hielten.
Die Naturphilosophen, voll Erstaunen und Bewunderung über die neuern
Fortschritte und die Aufschlüsse der Naturwissenschaft, gerieten in den
Irrtum, ihre Erkenntnis sei die des Absoluten und nicht des Bedingten,
des Seins und nicht des Scheins.
Beide fühlten, daß sie ohne Hokuspokus bald bloß ständen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn die Natur den letzten Schritt bis zum Menschen, statt vom Affen aus,
vom Hunde oder Elefanten aus, genommen hätte; wie ganz anders wäre da
der Mensch. Er wäre ein vernünftiger Elefant, oder vernünftiger Hund,
statt daß er jetzt ein vernünftiger Affe ist. Sie nahm ihn vom Affen
aus, weil es der kürzeste war; aber durch eine kleine Aenderung ihres
früheren Ganges wäre er von einer andern Stelle aus kürzer geworden.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Eine Anthropologie müßte drei Teile haben:
1. Beschreibung des äußeren oder objektiven Menschen, d. h. des Organismus.
2. Beschreibung des inneren oder subjektiven Menschen, d. h. des Bewußtseins,
das diesen Organismus begleitet.
3. Nachweisung bestimmter Verhältnisse zwischen dem Bewußtsein und dem
Organismus, also zwischen dem äußern und innern Menschen. (Letzteres
nach Cabanis zu bearbeiten.)
Psychologie als selbständige Wissenschaft kann kaum bestehen; denn die
Phänomene des Denkens und Wollens lassen sich nicht gründlich betrachten,
wenn man sie nicht zugleich ansieht als Wirkung physischer Ursachen im
Organismus: daher setzt sie Physiologie voraus, und diese Anatomie: sonst
bleibt sie höchst oberflächlich. Daher ist nicht Psychologie, sondern
Anthropologie zu lehren: diese begreift aber jene zwei sonst medizinischen
Wissenschaften und erhält dadurch ein unverhältnismäßig großes Gebiet.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Nichts ist abgeschmackter, als die Märchen zu verlachen vom Faust und
andern, die sich dem Teufel verschrieben. Das einzige Falsche an der Sache
ist nämlich nur dies, daß es von einzelnen erzählt wird, wir aber alle
in dem Fall sind und das Paktum geschlossen haben. Wir leben, streben
entsetzlich das Leben (das doch nur eine lange Galgenfrist ist) uns zu
erhalten (wir füttern den Delinquenten, der doch hängen muß), wir genießen,
und für alles das müssen wir sterben, sind dafür dem Tode anheimgefallen,
mit dem es nicht Spaß ist, sondern bittrer Ernst, er ist eben wirklich
der Tod für alle zeitliche Wesen, für uns wie für die Tiere, für die
Tiere wie für die Pflanzen, ja wie für jeden Zustand der Materie. So
ist's, und das empirische vernünftige Bewußtsein ist wirklich keines
Trostes fähig. Dagegen aber auch ist ewige Qual nach dem Tode ein Unding,
so gut, als ewiges Leben: denn das Wesen der Zeit, ja des Satzes vom Grunde,
von dem die Zeit nur eine Gestaltung ist, ist eben dieses, daß nichts
Festes, wirklich Bestehendes sein kann, alles nur vorüberfliegt, nichts
dauert, nichts beharrt. „Die Substanz beharrt“ sagen sie. Aber Kant
sagt ihnen: sie ist kein Ding an sich, sondern nur Erscheinung: er meint:
sie ist nur unsre Vorstellung, — wie alles Erkennbare: und wir sind
keine Substanz, noch Substanzen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In meinem Kopfe gibt es eine stehende Oppositionspartei, die gegen alles,
was ich, wenn auch mit reiflicher Ueberlegung, gethan, oder beschlossen
habe, nachträglich polemisiert, ohne jedoch darum jedesmal recht zu haben.
Sie ist wohl nur eine Form des berichtigenden Prüfungsgeistes, macht
mir aber oft unverdiente Vorwürfe. Ich vermute, daß es manchem andern
auch so geht: denn wer muß nicht zu sich sagen:
quid tam dextro pede concipis, ut te conatus non poeniteat, votique peracti?
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Menschen bedürfen der Thätigkeit nach außen; weil sie keine nach
innen haben. Wo hingegen diese stattfindet, ist jene vielmehr eine sehr
ungelegene, ja, oft verwünschte Störung und Abhaltung. - Aus dem ersteren
ist auch die Rastlosigkeit und zwecklose Reisesucht der Unbeschäftigten
zu erklären. Was sie so durch die Länder jagt, ist dieselbe Langeweile,
welche zu Hause sie haufenweise zusammentreibt und zusammendrängt, daß
es ein Spaß ist, es anzusehn. Eine auserlesene Bestätigung dieser Wahrheit
gab mir einst ein mir unbekannter fünfzigjähriger Mann, der mir von
seiner zweijährigen Vergnügungsreise in die fernsten Länder und fremden
Weltteile erzählte: auf meine Bemerkung nämlich, daß er dabei doch
große Beschwerden, Entbehrungen und Gefahren ausgestanden haben müsse,
gab er mir wirklich sogleich und ohne Vorrede, sondern unter Voraussetzung
der Enthymemata, die höchst naive Antwort: "Ich habe mich keinen
Augenblick gelangweilt."
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Jedoch wäre, wer bei phlegmatischem Temperament bloß ein Dummkopf ist,
bei sanguinischem ein Narr.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Empirisch im engern Sinne ist die Erkenntnis, welche bei den Wirkungen
stehen bleibt, ohne die Ursachen erreichen zu können. Zum praktischen
Behuf reicht sie oft aus, z.B. in der Therapie. - Die Possen der Naturphilosophen
aus der Schellingischen Schule einerseits und die Erfolge der Empirie
andrerseits haben bei vielen eine solche Systems- und Theoriescheu bewirkt,
daß sie die Fortschritte der Physik ganz von den Händen, ohne Zuthun
des Kopfs erwarten, also am liebsten bloß experimentieren möchten, ohne
irgend etwas dabei zu denken. Sie meinen, ihr physikalischer oder chemischer
Apparat solle statt ihrer denken und solle selbst, in der Sprache bloßer
Experimente, die Wahrheit aussagen. Zu diesem Zwecke werden nun die Experimente
ins Unendliche gehäuft und in denselben wieder die Bedingungen; so daß
mit lauter höchst komplizierten, ja, endlich mit ganz vertrackten Experimenten
operiert wird, also mit solchen, die nimmermehr ein reines und entschiedenes
Resultat liefern können, jedoch als der Natur angelegte Daumschrauben
wirken sollen, um sie zu zwingen selbst zu reden; während der echte und
selbstdenkende Forscher seine Experimente möglichst einfach einrichtet,
um die deutliche Aussage der Natur rein zu vernehmen und danach zu urteilen:
denn die Natur tritt stets nur als Zeuge auf. Beispiele zu dem Gesagten
liefert vorzüglich der ganze chromatologische Teil der Optik mit Einschluß
der Theorie der physiologischen Farben, wie solcher von Franzosen und
Deutschen in den letzten Zwanzig Jahren behandelt worden.
Ueberhaupt aber wird zur Entdeckung der wichtigsten Wahrheiten nicht die
Beobachtung der seltenen und verborgenen, nur durch Experimente darstellbaren
Erscheinungen führen; sondern die der offen daliegenden, jedem zugänglichen
Phänomene. Daher ist die Aufgabe nicht sowohl, zu sehn was noch keiner
gesehn hat, als, bei dem, was jeder sieht, zu denken, was noch keiner
gedacht hat. Darum auch gehört so sehr viel mehr dazu, ein Philosoph,
als ein Physiker zu sein.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
An einem jungen Menschen ist es in intellectueller und auch in moralischer
Hinsicht ein schlechtes Zeichen, wenn er im Thun und Treiben der Menschen
sich recht früh zurechtzufinden weiß, sogleich darin zu Hause ist und,
wie vorbereitet, in dasselbe eintritt; es kündigt Gemeinheit an. Hingegen
deutet in solcher Beziehung ein befremdetes, stutziges, ungeschicktes
und verkehrtes Benehmen auf eine Natur edlerer Art.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Jetzt, nach 21 Jahren, verstehe ich was Goethe mir 1814 sagte, in
Berka, wo ich ihn beim Buch der Stael De l' Allemagne gefunden hatte und
nun im Gespräch darüber äußerte, sie mache eine übertriebene Schilderung
von der Ehrlichkeit der Deutschen, wodurch Ausländer irregeleitet werden
könnten. Er lachte und sagte: "Ja freilich, die werden den Koffer
nicht anketten, und da wird er abgeschnitten werden." Dann aber setzte
er ernst hinzu: "Aber wenn man die Unredlichkeit der Deutschen in
ihrer ganzen Größe kennen lernen will, muß man sich mit der deutschen
Litteratur bekannt machen." - Wohl! Allein unter allen Unredlichkeiten
der deutschen Litteratur ist die empörendeste die Zeitdienerei vorgeblicher
Philosophen, wirklicher Obskuranten. Zeitdienerei: das Wort, wenn ich
es gleich dem Englischen nachbilde, bedarf keiner Erklärung, und die
Sache keines Beweises: denn wer die Stirn hätte, sie abzuleugnen, würde
einen starken Beleg zu meinem gegenwärtigen Thema geben. Kant hat gelehrt,
daß man den Menschen nur als Zweck, nie als Mittel behandeln soll: daß
die Philosophie nur als Zweck, nie als Mittel gehandhabt werden soll,
glaubte er nicht erst sagen zu müssen. Zeitdienerei läßt sich zur Not
in jedem Kleide entschuldigen, in der Kutte und dem Hermelin, nur nicht
im Tribonion, dem Philosophenmantel: denn wer diesen anlegt, hat zur Fahne
der Wahrheit geschworen, und nun ist, wo es ihren Dienst gilt, jede andere
Rücksicht, auf was immer es auch sei, schmählicher Verrat. Darum ist
Sokrates dem Schierling und Bruno dem Scheiterhaufen nicht ausgewichen.
Jene aber kann man mit einem Stück Brot seitabwärts locken. Ob sie so
kurzsichtig sind, daß sie nicht dort, schon ganz in der Nähe, die Nachwelt
sehn, bei der die Geschichte der Philosophie sitzt und unerbittlich, mit
ehernem Griffel und fester Hand, in ihr unvergängliches Buch zwei bittere
Zeilen der Verdammung schreibt? oder ficht sie das nicht an? - freilich
wohl, après moi le dèluge läßt sich zur Not sagen: jedoch après moi
le mèpris will nicht über die Lippen. Ich glaube daher, daß sie zu
jener Richterin sprechen werden: "Ach, liebe Nachwelt und Geschichte
der Philosophie, ihr seid im Irrtum, wenn ihr es mit uns ernstlich nehmt:
wir sind ja gar nicht Philosophen, bewahre der Himmel! nein, bloße Philosophieprofessoren,
bloße Staatsdiener, bloße Spaßphilosophen! es ist, wie wenn ihr die
in Pappe geharnischten Theaterritter ins wirkliche Turnier schleppen wolltet."
Da wird wohl die Richterin ein Einsehen haben, alle jene Namen durchstreichen
und ihnen das beneficium perpetui silentii angedeihen lassen. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wer von der vorgefaßten Meinung, daß der Begriff des Rechts ein positiver
sein müsse, ausgeht und nun ihn zu definieren unternimmt, wird nicht
damit zu stande kommen: denn er will einen Schatten greifen, verfolgt
ein Gespenst, sucht ein Nonsens. Der Begriff des Rechts ist nämlich,
eben wie auch der der Freiheit, ein negativer: sein Inhalt ist eine bloße
Negation. Der Begriff des Unrechts ist der positive und ist gleichbedeutend
mit Verletzung im weitesten Sinne, also laesio. Eine solche kann nun entweder
die Person, oder das Eigentum, oder die Ehre betreffen. --- Hienach sind
denn die Menschenrechte leicht zu bestimmen: Jeder hat das Recht, alles
das zu thun, wodurch er keinen verletzt. ---
Ein Recht zu etwas, oder auf etwas haben, heißt nichts weiter, als es
thun, oder aber es nehmen, oder benutzen können, ohne dadurch irgend
einen andern zu verletzen: --- Simplex sigillum veri. --- Hieraus erhellt
auch die Sinnlosigkeit mancher Fragen, z. B. ob wir das Recht haben, uns
das Leben zu nehmen. Was aber dabei die Ansprüche, die etwan andere auf
uns persönlich haben können, betrifft, so stehn sie unter der Bedingung,
daß wir leben, fallen also mit dieser weg. Daß der, welcher für sich
selbst nicht mehr leben mag, nun noch als bloße Maschine zum Nutzen andrer
fortleben solle, ist eine überspannte Forderung.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Obgleich die Kräfte der Menschen ungleich sind, so sind doch ihre Rechte
gleich; weil diese nicht auf den Kräften beruhen, sondern, wegen der
moralischen Natur des Rechts, darauf, daß in jedem derselbe Wille zum
Leben, auf der gleichen Stufe seiner Objektivation, sich darstellt. Dies
gilt jedoch nur vom ursprünglichen und abstrakten Rechte, welches der
Mensch als Mensch hat. Das Eigentum, wie auch die Ehre, welche jeder,
mittelst seiner Kräfte, sich erwirbt, richtet sich nach dem Maße und
der Art dieser Kräfte und gibt dann seinem Rechte eine weitere Sphäre:
hier hört also die Gleichheit auf. Der hierin besser Ausgestattete, oder
Thätigere, erweitert, durch größern Erwerb, nicht sein Recht, sondern
nur die Zahl der Dinge, auf die es sich erstreckt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn man betrachtet, wie die Natur, während sie um die Individuen wenig
besorgt ist, mit so übertriebener Sorgfalt über die Erhaltung der Gattungen
wacht, mittelst der Allgewalt des Geschlechtstriebes und vermöge des
unberechenbaren Ueberschusses der Keime, welcher, bei Pflanzen, Fischen,
Insekten, das Individuum oft mit mehreren Hunderttausenden zu ersetzen
bereit ist; so kommt man auf die Vermutung, daß, wie der Natur die Hervorbringung
des Individui ein Leichtes ist, so die ursprüngliche Hervorbringung einer
Gattung ihr äußerst schwer werde. Demgemäß sehn wir diese nie neu
entstehn: selbst die generatio aequivoca, wenn sie statt hat (welches,
zumal bei Epizoen und überhaupt Parasiten, nicht wohl zu bezweifeln ist),
bringt doch nur bekannte Gattungen hervor: und die höchst wenigen untergegangenen
Spezies der jetzt die Erde bevölkernden Fauna, z. B. die des Vogels Dudu
(Ditus ineptus), vermag die Natur, obwohl sie in ihrem Plane gelegen haben,
nicht wieder zu ersetzen; --- daher wir stehn und uns wundern, daß es
unserer Gier gelungen ist, ihr einen solchen Streich zu spielen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Daß übrigens die Vernunft das Vermögen der abstrakten, der Verstand
aber das der anschaulichen Vorstellungen sei, hat bereits der fürstliche
Scholastiker Picus de Mirandula eingesehen, indem er in seinem Buche De
imaginatione, c. 11, Verstand und Vernunft sorgfältig unterscheidet und
diese für das diskursive, dem Menschen eigenthümliche Vermögen, jenen
aber für das intuitive, der Erkenntnißweise der Engel, ja, Gottes verwandte
erklärt. - Auch Spinoza charakterisirt ganz richtig die Vernunft als
das Vermögen allgemeine Begriffe zu bilden: Eth. II. prop. 40, schol.
2. - Dergleichen brauchte nicht erwähnt zu werden, wäre es nicht wegen
der Possen, welche in den letzten fünfzig Jahren sämmtliche Philosophaster
in Deutschland mit dem Begriffe der Vernunft getrieben haben, indem sie,
mit unverschämter Dreistigkeit, unter diesem Namen ein völlig erlogenes
Vermögen unmittelbarer, metaphysischer, sogenannter übersinnlicher Erkenntnisse
einschwärzen wollten, die wirkliche Vernunft hingegen Verstand benannten,
den eigentlichen Verstand aber, als ihnen sehr fremd, ganz übersahen,
und seine intuitiven Funktionen der Sinnlichkeit zuschrieben.
Wie bei allen Dingen dieser Welt jedem Auskunftsmittel, jedem Vortheil,
jedem Vorzug sich sofort auch neue Nachtheile anhängen, so führt auch
die Vernunft, welche dem Menschen so große Vorzüge vor den Thieren giebt,
ihre besondern Nachtheile mit sich und eröffnet ihm Abwege, auf welche
das Thier nie gerathen kann. Durch sie erlangt eine ganz neue Art von
Motiven, der das Thier unzugänglich ist, Macht über seinen Willen; nämlich
die abstrakten Motive, die bloßen Gedanken, welche keineswegs stets aus
der eigenen Erfahrung abgezogen sind, sondern oft nur durch Rede und Beispiel
Anderer, durch Tradition und Schrift, an ihn kommen. Dem Gedanken zugänglich
geworden steht er sofort auch dem Irrthum offen. Allein jeder Irrthum
muß, früher oder später, Schaden stiften, und desto größern, je größer
er war. Den individuellen Irrthum muß, wer ihn hegt, ein Mal büßen
und oft theuer bezahlen: das Selbe wird im Großen von gemeinsamen Irrthümern
ganzer Völker gelten. Daher kann nicht zu oft wiederholt werden, daß
jeder Irrthum, wo man ihn auch antreffe, als ein Feind der Menschheit
zu verfolgen und auszurotten ist, und daß es keine privilegirte, oder
gar sanktionirte Irrthümer geben kann. Der Denker soll sie angreifen;
wenn auch die Menschheit, gleich einem Kranken, dessen Geschwür der Arzt
berührt, laut dabei aufschrie. - Das Thier kann nie weit vom Wege der
Natur abirren: denn seine Motive liegen allein in der anschaulichen Welt,
wo nur das Mögliche, ja, nur das Wirkliche Raum findet: hingegen in die
abstrakten Begriffe, in die Gedanken und Worte, geht alles nur Ersinnliche,
mithin auch das Falsche, das Unmögliche, das Absurde, das Unsinnige.
Da nun Vernunft Allen, Urtheilskraft Wenigen zu Theil geworden; so ist
die Folge, daß der Mensch dem Wahne offen steht, indem er allen nur erdenklichen
Chimären Preis gegeben ist, die man ihm einredet, und die, als Motive
seines Wollens wirkend, ihn zu Verkehrtheiten und Thorheiten jeder Art,
zu den unerhörtesten Extravaganzen, wie auch zu den seiner thierischen
Natur widerstrebendesten Handlungen bewegen können. Eigentliche Bildung,
bei welcher Erkenntniß und Urtheil Hand in Hand gehen, kann nur Wenigen
zugewandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie aufzunehmen. Für
den großen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrichtung:
sie wird bewerkstelligt durch Beispiel, Gewohnheit und sehr frühzeitiges,
festes Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Verstand und
Urtheilskraft dawären, das Werk zu stören. So werden Gedanken eingeimpft,
die nachher so fest und durch keine Belehrung zu erschüttern haften,
als wären sie angeboren, wofür sie auch oft, selbst von Philosophen,
angesehen worden sind. Auf diesem Wege kann man, mit gleicher Mühe, den
Menschen das Richtige und Vernünftige, oder auch das Absurdeste einprägen,
z. B. sie gewöhnen, sich diesem oder jenem Götzen nur von heiligem Schauer
durchdrungen zu nähern und beim Nennen seines Namens nicht nur mit dem
Leibe, sondern auch mit dem ganzen Gemüthe sich in den Staub zu werfen;
an Worte, an Namen, an die Vertheidigung der abentheuerlichsten Grillen,
willig ihr Eigenthum und Leben zu setzen; die größte Ehre und die tiefste
Schande beliebig an Dieses oder an Jenes zu knüpfen und danach Jeden
mit inniger Überzeugung hoch zu schätzen, oder zu verachten; aller animalischen
Nahrung zu entsagen, wie in Hindustan, oder die dem lebenden Thiere herausgeschnittenen,
noch warmen und zuckenden Stücke zu verzehren, wie in Abyssinien; Menschen
zu fressen, wie in Neuseeland, oder ihre Kinder dem Moloch zu opfern;
sich selbst zu kastriren, sich willig in den Scheiterhaufen des Verstorbenen
zu stürzen, - mit Einem Worte, was man will. Daher die Kreuzzüge, die
Ausschweifungen fanatischer Sekten, daher Chiliasten und Flagellanten,
Ketzerverfolgungen, Autos de Fe, und was immer das lange Register menschlicher
Verkehrtheiten noch sonst darbietet. Damit man nicht denke, daß nur finstere
Jahrhunderte solche Beispiele liefern, füge ich ein Paar neuere hinzu.
Im Jahre 1818 zogen aus dem Würtembergischen 7000 Chiliasten in die Nähe
des Ararat; weil das, besonders durch Jung-Stilling angekündigte, neue
Reich Gottes daselbst anbrechen sollte *). Gall erzählt, daß zu seiner
Zeit eine Mutter ihr Kind getödtet und gebraten habe, um mit dessen Fett
die Rheumatismen ihres Mannes zu kuriren **). Die tragische Seite des
Irrthums und Vorurtheils liegt im Praktischen, die komische ist dem Theoretischen
vorbehalten: hätte man z. B. nur erst drei Menschen fest überredet,
daß die Sonne nicht die Ursache des Tageslichts sei; so dürfte man hoffen,
es bald als die allgemeine Ueberzeugung gelten zu sehen. Einen widerlichen,
geistlosen Scharlatan und beispiellosen Unsinnschmierer, Hegel, konnte
man, in Deutschland, als den größten Philosophen aller Zeiten ausschreien,
und viele Tausende haben es, zwanzig Jahre lang, steif und fest geglaubt,
sogar außer Deutschland die Dänische Akademie, welche für seinen Ruhm
gegen mich aufgetreten ist und ihn als einen summus philosophus hat geltend
machen wollen. (Siehe hierüber die Vorrede zu meinen "Grundproblemen
der Ethik".) - Dies also sind die Nachtheile, welche, wegen der Seltenheit
der Urtheilskraft, an das Daseyn der Vernunft geknüpft sind. Zu ihnen
kommt nun noch die Möglichkeit des Wahnsinns: Thiere werden nicht wahnsinnig;
wiewohl die Fleischfresser der Wuth, die Grasfresser einer Art Raserei
ausgesetzt sind.
*) Illgens Zeitschrift für historische Theologie, 1839, erstes Heft.
S. 182.
**) Gall et Spurzheim, Des dispositions innèes, 1811, p. 253.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Aeußerungen der Urtheilskraft sind auch Witz und Scharfsinn: in
jenem ist sie reflektirend, in diesem subsumirend thätig. Bei den meisten
Menschen ist die Urtheilskraft bloß nominell vorhanden: es ist eine Art
Ironie, daß man sie den normalen Geisteskräften beizählt, statt sie
allein den monstris per excessum zuzuschreiben. Die gewöhnlichen Köpfe
zeigen selbst in den kleinsten Angelegenheiten Mangel an Zutrauen zu ihrem
eigenen Urtheil; eben weil sie aus Erfahrung wissen, daß es keines verdient.
Seine Stelle nimmt bei ihnen Vorurtheil und Nachurtheil ein; wodurch sie
in einem Zustand fortdauernder Unmündigkeit erhalten werden, aus welcher
unter vielen Hunderten kaum Einer losgesprochen wird. Eingeständlich
ist sie freilich nicht; da sie sogar vor sich selber zum Schein urtheilen,
dabei jedoch stets nach der Meinung Anderer schielen, welche ihr heimlicher
Richtpunkt bleibt. Während Jeder sich schämen würde, in einem geborgten
Rock, Hut oder Mantel umherzugehen, haben sie Alle keine anderen, als
geborgte Meinungen, die sie begierig aufraffen, wo sie ihrer habhaft werden,
und dann, sie für eigen ausgebend, damit herumstolziren. Andere borgen
sie wieder von ihnen und machen es damit eben so. Dies erklärt die schnelle
und weite Verbreitung der Irrthümer, wie auch den Ruhm des Schlechten:
denn die Meinungsverleiher von Profession, also Journalisten u. dgl.,
geben in der Regel nur falsche Waare aus, wie die Ausleiher der Maskenanzüge
nur falsche Juwelen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Ich hege längst wirklich die Meinung, daß die Quantität Lerm,
die Jeder unbeschwert vertragen kann, in ungekehrtem Verhältniß zu seinen
Geisteskräften steht, und daher als das ungefähre Maaß derselben betrachtet
werden kann. Wenn ich daher auf dem Hofe eines Hauses die Hunde stundenlang
unbeschwichtigt bellen höre; so weiß ich schon, was ich von den Geisteskräften
der Bewohner zu halten habe. Wer habituell die Stubenthüren, statt sie
mit der Hand zu schließen, zuwirft, oder es in seinem Hause gestattet,
ist nicht bloß ein ungezogener, sondern auch ein roher und bornirter
Mensch. Daß im Englischen sensible auch "verständig" bedeutet,
beruht demnach auf einer richtigen und feinen Beobachtung. Ganz civilisirt
werden wir erst seyn, wann auch die Ohren nicht mehr vogelfrei seyn werden
und nicht mehr Jedem das Recht zustehen wird, das Bewußtseyn jedes denkenden
Wesens, auf tausend Schritte in die Runde, zu durchschneiden mittelst
Pfeifen, Heulen, Brüllen, Hämmern, Peitschenklatschen, Bellenlassen
u. dgl. Die Sybariten hielten die lermenden Handwerke außerhalb der Stadt
gebannt: die ehrwürdige Sekte der Shakers in Nordamerika duldet kein
unnöthiges Geräusch in ihren Dörfern: von den Herrnhutern wird das
Gleiche berichtet. - Ein Mehreres über diesen Gegenstand findet man im
dreißigsten Kapitel des zweiten Bandes der Parerga. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn ich nichts habe, was mich ängstiget, so beängstigt mich eben dies,
indem es mir ist, als müßte doch etwas dasein, das mir nur eben verborgen
bliebe. Misera conditio nostra!
Siehe Baco De Deo Pan, in sapientia veterum.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Wenn mir ein Gedanke nur undeutlich entsteht und als ein schwaches Bild
vorschwebt; so ergreift mich unsägliche Begierde, ihn zu fassen; ich
lasse alles stehen und liegen und verfolge ihn, wie der Jäger das Wild,
durch alle Krümmungen, stelle ihm von allen Seiten nach und verrenne
ihm den Weg, bis ich ihn fasse, deutlich mache und als erlegt zu Papiere
bringe. Bisweilen entrinnt er mir doch: dann muss ich warten, bis ein
anderer Zufall ihn einmal wieder aufjagt. Gerade die, welche ich erst
nach mehreren vergeblichen Jagden fing, sind gewöhnlich die besten. Aber
wenn ich bei so einer Verfolgung unterbrochen werde, besonders durch ein
Tiergeschrei, das zwischen meine Gedanken hereinfährt, wie das Henkerschwert
zwischen Kopf und Rumpf, - da empfinde ich eines der Leiden, die wir verwirkt
haben, als wir mit Hunden, Eseln, Enten in eine Welt hinabstiegen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das deutsche Vaterland hat an mir keinen Patrioten erzogen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die folgenden ca. 400 Textabschnitte (Arthur
Schopenhauer ohne 1788 - 1860 dahinter) habe ich so aus dem Internet übernommen,
nicht aus den hier (unten) vorliegenden Originalschriften. Einige Sätze
könnten dennoch doppelt sein, aus einer anderen Auflage, oder auch aus
Schopenhauer's Nachlaß bzw. geschriebenen Briefen, z.B. an Julius Frauenstädt,
stammen. Daher habe ich sie nicht gelöscht und bin bemüht sie noch zu
prüfen und zu ordnen!
Dagegen sehe man die himmelschreiende
Ruchlosigkeit, mit welcher unser christlicher Pöbel gegen die Tiere verfährt,
sie völlig zwecklos und lachend tötet, oder verstümmelt, oder martert,
und selbst die von ihnen, welche unmittelbar seine Ernährer sind, seine
Pferde, im Alter, auf das Äußerste anstrengt, um das letzte Mark aus
ihren armen Knochen zu arbeiten, bis sie unter seinen Streichen erliegen.
Man möchte wahrlich sagen: die Menschen sind die Teufel der Erde, und
die Tiere die geplagten Seelen.
Arthur Schopenhauer
Die eigentlich großen Geister horsten, wie die Adler, in der Höhe allein.
Arthur Schopenhauer
Wer sich vor Menschen fürchtet, wird feige genannt und zeigt Mangel an
Vertrauen zu seiner Körperkraft. Wer sich vor der Einsamkeit fürchtet,
zeigt Mangel an Vertrauen zu seiner Geisteskraft, wie soll man aber den
nennen?
Arthur Schopenhauer
Im allgemeinen freilich haben die Weisen aller Zeiten immer dasselbe gesagt,
und die Toren, d. h. die unermessliche Majorität aller Zeiten, haben
immer dasselbe, nämlich das Gegenteil, getan: und so wird es denn auch
ferner bleiben.
Arthur Schopenhauer
Dem intellektuell hochstehenden Menschen gewährt nämlich die Einsamkeit
einen zwiefachen Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu sein, und zweitens
den, nicht mit andern zu sein.
Arthur Schopenhauer
Überlegenheit im Umgang erwächst allein daraus, dass man den anderen
in keiner Art und Weise bedarf, und dies sehen lässt.
Arthur Schopenhauer
Das Leben kann allerdings als ein Traum angesehen werden, und der Tod
als das Erwachen.
Arthur Schopenhauer
Wer das Wesen der Welt erkannt hat, sieht im Tode das Leben, aber auch
im Leben den Tod.
Arthur Schopenhauer
Die Dogmen wechseln, und unser Wissen ist trüglich; aber die Natur irrt
nicht: Ihr Gang ist sicher, und sie verbirgt ihn nicht. Jedes ist ganz
in ihr, und sie ist ganz in jedem.
Arthur Schopenhauer
Ein Haupthindernis der Fortschritte des Menschengeschlechts ist, daß
die Leute nicht auf die hören, welche am gescheitesten, sondern auf die,
welche am lautesten reden.
Arthur Schopenhauer
Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der
Welt können keinen herstellen.
Arthur Schopenhauer
Im Umgang zieht jeder den ihm Ähnlichen entschieden vor; so daß einem
Dummkopf die Gesellschaft eines andern Dummkopfs ungleich lieber ist,
als die aller großen Geister zusammengenommen.
Arthur Schopenhauer
Der nationale Charakter hat nur wenig gute Eigenschaften, da der Pöbel
sein Repräsentant ist.
Arthur Schopenhauer
Fragte mich ein Asiate um die Definition Europas, dann wäre ich gezwungen,
ihm zu antworten: "Es ist jener Teil der Welt, der von der unglaublichen
Täuschung heimgesucht wird, daß der Mensch aus dem Nichts heraus geschaffen
wurde. Und daß seine gegenwärtige Geburt sein erster Eintritt in das
Leben sei."
Arthur Schopenhauer
Ein anderer, bei dieser Gelegenheit zu erwähnender, aber nicht weg zu
erklärender und seine heillosen Folgen täglich manifestierender Grundfehler
des Christentums ist, daß es widernatürlicherweise den Menschen losgerissen
hat von der Tierwelt, welcher er doch wesentlich angehört, und ihn nun
ganz allein gelten lassen will, die Tiere geradezu als Sachen betrachtend.
- während Brahmanismus und Buddhismus, der Wahrheit getreu, die augenfällige
Verwandtschaft des Menschen, wie im allgemeinen mit der ganzen Natur,
so zunächst und zumeist mit der tierischen, entschieden anerkennen und
ihn stets, durch Metempsychose und sonst, in enger Verbindung mit der
Tierwelt darstellen.
Arthur Schopenhauer
Die Feder ist dem Denken was der Stock dem Gehn: aber der leichteste Gang
ist ohne Stock und das vollkommenste Denken geht ohne Feder vor sich.
Erst wenn man anfängt alt zu werden, bedient man sich gern des Stockes
und gern der Feder.
Arthur Schopenhauer
Wer zum Denken von Natur die Richtung hat, muss erstaunen und es als ein
eigenes Problem betrachten, wenn er sieht, wie die allermeisten Menschen
ihr Studieren und ihre Lektüre betreiben. Nämlich es fällt ihnen dabei
gar nicht ein, wissen zu wollen, was wahr sei; sondern sie wollen bloß
wissen, was gesagt worden ist. Sie übernehmen die Mühe des Lesens und
des Hörens, ohne im Mindesten den Zweck zu haben, wegen dessen allein
solche Mühe lohnen kann, den Zweck der Erkenntnis, der Einsicht: sie
suchen nicht die Wahrheit, haben gar kein Interesse an ihr. Sie wollen
bloß wissen, was alles in der Welt gesagt ist, eben nur um davon mitreden
zu können, um zu bestehen in der Konversation, oder im Examen, oder sich
ein Ansehen geben zu können. Für andere Zwecke sind sie nicht empfänglich.
Daher ist beim Lesen oder Hören ihre Urteilskraft ganz untätig und bloß
das Gedächtnis tätig. Sie wiegen die Argumente nicht: sie lernen sie
bloß. So sind leider die allermeisten: deshalb hat man immer mehr Zuhörer
für die Geschichte der Philosophie, als für die Philosophie.
Arthur Schopenhauer
Die Schriftsteller kann man einteilen in Sternschnuppen, Planeten und
Fixsterne - Die ersteren liefern die momentanen Knalleffekte: man schauet
auf, ruft "siehe da!" und auf immer sind sie verschwunden. -
Die zweiten, also die Irr- und Wandelsterne, haben viel mehr Bestand.
Sie glänzen, wiewohl bloß vermöge ihrer Nähe, oft heller, als die
Fixsterne, und werden von Nichtkennern mit diesen verwechselt. Inzwischen
müssen auch sie ihren Platz bald räumen, haben zudem nur geborgtes Licht
und eine auf ihre Bahngenossen (Zeitgenossen) beschränkte Wirkungssphäre.
Sie wandeln und wechseln: ein Umlauf von einigen Jahren Dauer ist ihre
Sache. -
Die dritten allein sind unwandelbar, stehn fest am Firmament, haben eigenes
Licht, wirken zu einer Zeit, wie zur andern, indem sie ihr Ansehn nicht
durch die Veränderung unsers Standpunkts ändern, da sie keine Parallaxe
haben. Sie gehören nicht, wie jene andern, einem Systeme (Nation) allein
an; sondern der Welt. Aber eben wegen der Höhe ihrer Stelle, braucht
ihr Licht meistens viele Jahre, ehe es dem Erdboden sichtbar wird.
Arthur Schopenhauer
Viele Worte machen, um wenige Gedanken mitzuteilen, ist überall das untrügliche
Zeichen der Mittelmäßigkeit; das des eminenten Kopfes dagegen, viele
Gedanken in wenig Worte zu schließen.
Arthur Schopenhauer
Die öffentliche Meinung ist eine Ansicht, der es an Einsicht mangelt.
Arthur Schopenhauer
Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den Philosophen
macht.
Arthur Schopenhauer
Die, welche, mittelst Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer
vorwärts sehen und mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als
welche allererst das wahre Glück bringen sollen, inzwischen aber die
Gegenwart unbeachtet und ungenossen vorbeiziehen lassen, sind, trotz ihrer
altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren Schritt
dadurch beschleunigt wird, daß an einem, ihrem Kopf angehefteten Stock
ein Bündel Heu hängt, welches sie daher stets dicht vor sich sehen und
zu erreichen hoffen. Denn sie betrügen sich selbst um ihr ganzes Dasein,
indem sie stets nur ad interim [einstweilen, vorläufig] leben, - bis
sie tot sind.
Arthur Schopenhauer
Aber das Leben ist kurz und die Wahrheit wirkt ferne und lebt lange: sagen
wir die Wahrheit.
Arthur Schopenhauer
Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche
ihrer nicht begehren, vielmehr ist sie eine so schöne Spröde, daß selbst
der, der ihr alles opfert, noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
Arthur Schopenhauer
Da werde ich wohl wieder vernehmen müssen, meine Philosophie sei trostlos;
- eben nur weil ich nach der Wahrheit rede, die Leute aber hören wollen,
Gott der Herr habe alles wohlgemacht. Geht in die Kirche und lasst die
Philosophen in Ruhe.
Arthur Schopenhauer
Also wer erwartet, daß in der Welt die Teufel mit Hörnern und die Narren
mit Schellen einhergehen, wird stets ihre Beute oder ihr Spiel sein.
Arthur Schopenhauer
Du weißt es, die Religionen sind wie die Leuchtwürmer:
Um zu leuchten, bedürfen sie der Dunkelheit.
Arthur Schopenhauer
Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er
verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften,
auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde,
was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge
besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig
vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf,
der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das
letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein:
hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und
Thorheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.
Arthur Schopenhauer
Der Inhalt der Geschichte sind die europäischen Katzbalgereien.
Arthur Schopenhauer
Der geistreiche Mensch wird vor allem nach Schmerzlosigkeit, Ungehudeltsein,
Ruhe und Muße streben, folglich ein stilles, bescheidenes, aber möglichst
unangefochtenes Leben suchen und demgemäß, nach einiger Bekanntschaft
mit den sogenannten Menschen, die Zurückgezogenheit und, bei großem
Geiste, sogar die Einsamkeit wählen.
Arthur Schopenhauer
Tiere sind unsere in der Entwicklung zurückgebliebene Brüder und Schwestern.
Man könne das Leben unter dem "Krötengezücht" der hässlichen
Menschenfratzen nicht aushalten, wenn es nicht Hunde gäbe.
Arthur Schopenhauer
Das Nomadenleben, welches die unterste Stufe der Zivilisation bezeichnet,
findet sich auf der höchsten im allgemein gewordenen Touristenleben wieder
ein. Das erste ward von der Not, das zweite von der Langweile herbeigeführt.
Arthur Schopenhauer
Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikware der Natur, wie sie solche täglich
zu Tausenden hervorbringt, ist, wie gesagt, einer in jedem Sinn völlig
uninteressierten Betrachtung, welche die eigentliche Beschaulichkeit ist,
wenigstens durchaus nicht anhaltend fähig. Er kann seine Aufmerksamkeit
auf die Dinge nur insofern richten, als sie irgendeine wenn auch nur sehr
mittelbare Beziehung auf seinen Willen haben.
Arthur Schopenhauer
Der Natur liegt bloß unser Dasein, nicht unser Wohlsein am Herzen.
Arthur Schopenhauer
Es gibt nur eine Heilkraft, und das ist die Natur; in Salben und Pillen
steckt keine. Höchstens können sie der Heilkraft der Natur einen Wink
geben, wo etwas für sie zu tun ist.
Arthur Schopenhauer
Die andern Weltteile haben Affen; Europa hat Franzosen. Das gleicht sich
aus.
Arthur Schopenhauer
Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht der Gott sein;
ihr Jammer würde mir das Herz zerreißen.
Arthur Schopenhauer
Die Religion ist eine Krücke für schlechte Staatsverfassungen.
Arthur Schopenhauer
Bin ich doch kein Philosophieprofessor, der es nötig hätte, vor dem
Unverstand des andern Bücklinge zu machen.
Arthur Schopenhauer
Eine große Menge schlechter Schriftsteller lebt allein von der Narrheit
des Publikums, nichts lesen zu wollen, als was heute gedruckt ist: - die
Journalisten. Treffend benannt! Verdeutscht würde es heißen "Tagelöhner".
Arthur Schopenhauer
Ja, sogar muss, wer das Gute und Rechte hervorbringen und das Schlechte
vermeiden soll, dem Urteile der Menge und ihrer Wortführer Trotz bieten,
mithin sie verachten.
Arthur Schopenhauer
So lange Menschen denken, daß Tiere nicht fühlen, müssen Tiere fühlen,
daß Menschen nicht denken.
Arthur Schopenhauer
Die vollkommenste Lüge aber ist der gebrochene Vertrag.
Arthur Schopenhauer
Es ist wirklich unglaublich, wie nichtssagend und bedeutungsleer, von
außen gesehen, und wie dumpf und besinnungslos, von innen empfunden,
das Leben der allermeisten Menschen dahinfließt. Es ist ein mattes Sehnen
und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch
zum Tode, unter Begleitung einer Reihe trivialer Gedanken.
Arthur Schopenhauer
Die Zeitungen sind der Sekundenzeiger der Geschichte. Derselbe ist meistens
nicht nur von unedlerem Metalle, als die beiden anderen, sondern geht
auch selten richtig.
Arthur Schopenhauer
Wer auf die Welt gekommen ist, sie ernstlich und in den wichtigsten Dingen
zu belehren, der kann von Glück sagen, wenn er mit heiler Haut davon
kommt.
Arthur Schopenhauer
Zum Proviant für die Lebensreise gehört auch ganz vorzüglich ein guter
Vorrat von Resignation, den man erst (und zwar je früher je besser für
den Rest der Reise) aus fehlgeschlagenen Hoffnungen abstrahieren muss.
Arthur Schopenhauer
Sogar sagt das Gesicht eines Menschen in der Regel mehr und Interessanteres
als sein Mund: denn es ist das Kompendium alles dessen, was dieser je
sagen wird; in dem er das Monogramm alles Denkens und Trachtens dieses
Menschen ist. Auch spricht der Mund nur Gedanken eines Menschen, das Gesicht
einen Gedanken der Natur aus. Daher ist jeder wert, daß man ihn aufmerksam
betrachte; wenn auch nicht jeder, daß man mit ihm rede.
Arthur Schopenhauer
Demgemäß wird die möglichste Einfachheit unserer Verhältnisse und
sogar die Einförmigkeit der Lebensweise, solange sie nicht Langeweile
erzeugt, beglücken; weil sie das Leben selbst, folglich auch die ihm
wesentliche Last, am wenigsten spüren lässt, es fließt dahin wie ein
Bach, ohne Wellen und Strudel.
Arthur Schopenhauer
Ob einer mehr Ursache hat, die Menschen zu suchen oder zu meiden, hängt
davon ab, ob er mehr die Langeweile oder den Verdruß fürchtet.
Arthur Schopenhauer
Auch wird man einsehen, daß, Dummköpfen und Narren gegenüber, es nur
einen Weg gibt, seinen Verstand an den Tag zu legen, und der ist, daß
man mit ihnen nicht redet.
Arthur Schopenhauer
Der Hund wird zu Recht als Inbegriff der Treue betrachtet. Wo denn sonst
kann man vor der endlosen Verstellung, der Falschheit und dem Verrat des
Menschen Zuflucht finden, wenn nicht beim Hund, dessen ehrliches Wesen
ohne Misstrauen betrachtet werden kann.
Arthur Schopenhauer
Wenn es keine Hunde gäbe, möchte ich nicht leben.
Arthur Schopenhauer
Letztlich kommt es darauf an, wessen Gegenwart man leichter erträgt,
die der anderen oder die eigene.
Arthur Schopenhauer
Die Philosophie ist eine hohe Alpenstraße, zu ihr führt nur ein steiler
Pfad über spitze Steine und stechende Dornen: er ist einsam und wird
immer öder, je höher man kommt, und wer ihn geht, darf kein Grausen
kennen, sondern muß alles hinter sich lassen und sich getrost im kalten
Schnee seinen Weg bahnen. Oft steht er plötzlich am Abgrund und sieht
unten das grüne Tal: dahin zieht ihn der Schwindel gewaltsam hinab; aber
er muß sich halten und sollte er mit dem eigenen Blut die Sohlen an den
Felsen kleben. Dafür sieht er bald die Welt unter sich, ihre Sandwüsten
und Moräste verschwinden, ihre Unebenheiten gleichen sich aus, ihre Mißtöne
dringen nicht hinauf, ihre Rundung offenbart sich. Er selbst steht immer
in reiner, kühler Alpenluft und sieht schon die Sonne, wenn unten noch
schwarze Nacht liegt.
Arthur Schopenhauer
Das Affektieren irgendeiner Eigenschaft, das Sich-Brüsten damit, ist
ein Selbstgeständnis, dass man sie nicht hat. Sei es Mut, oder Gelehrsamkeit,
oder Geist, oder Witz, oder Glück bei Weibern, oder Reichtum, oder vornehmer
Stand, oder was sonst, womit einer groß tut; so kann man daraus schließen,
daß es ihm gerade daran in etwas gebricht; denn wer wirklich eine Eigenschaft
vollkommen besitzt, dem fällt es nicht ein, sie herauszulegen und zu
affektieren, sondern er ist darüber ganz beruhigt.
Arthur Schopenhauer
Für uns ist und bleibt der Tod ein Negatives, - das Aufhören des Lebens:
allein er muss auch eine positive Seite haben, die jedoch uns verdeckt
bleibt, weil unser Intellekt durchaus unfähig ist, sie zu fassen. Daher
erkennen wir wohl, was wir durch den Tod verlieren, aber nicht, was wir
durch ihn gewinnen.
Arthur Schopenhauer
Wenn was uns den Tod so schrecklich erscheinen läßt der Gedanke des
Nichtseins wäre; so müßten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken,
da wir noch nicht waren. Denn es ist unumstößlich gewiß, daß das Nichtsein
nach dem Tode nicht verschieden sein kann von dem vor der Geburt, folglich
auch nicht beklagenswerter.
Arthur Schopenhauer
Der Tod ist ein Schlaf, in welchem die Individualität vergessen wird:
alles andere erwacht wieder, oder vielmehr ist wach geblieben.
Arthur Schopenhauer
Besonders aber gebe man dem Gehirn das zu seiner Reflexion nötige, volle
Maß des Schlafes; denn der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das
Aufziehen für die Uhr.
Arthur Schopenhauer
Jeder Tag ist ein kleines Leben - jedes Erwachen und Aufstehen eine kleine
Geburt, jeder frische Morgen eine kleine Jugend, und jedes Zubettgehen
und Einschlafen ein kleiner Tod.
Arthur Schopenhauer
Ist es der Geist, ist es die Erkenntnis, welche den Menschen zum Herrn
der Erde macht; so gibt es keine unschädlichen Irrtümer, noch weniger
ehrwürdige, heilige Irrtümer.
Arthur Schopenhauer
Wer nie einen Hund gehabt hat, weiß nicht, was Lieben und Geliebt werden
heißt.
Arthur Schopenhauer
Wie die Schichten der Erde die lebenden Wesen vergangener Epochen reihenweise
aufbewahren; so bewahren die Bretter der Bibliotheken reihenweise die
vergangenen Irrtümer und deren Darlegungen, welche, wie jene Ersteren,
zu ihrer Zeit, sehr lebendig waren und viel Lärm machten, jetzt aber
starr und versteinert dastehn, wo nur noch der literarische Paläontologe
sie betrachtet.
Arthur Schopenhauer
Woran sollte man sich von der endlosen Verstellung, Falschheit und Heimtücke
der Menschen erholen, wenn die Hunde nicht wären, in deren ehrliches
Gesicht man ohne Mißtrauen schauen kann?
Arthur Schopenhauer
Es ist nicht genug, daß man verstehe, der Natur Daumenschrauben anzulegen;
man muß sie auch verstehen können, wenn sie aussagt.
Arthur Schopenhauer
Der große Haufen nämlich hat Augen und Ohren, aber nicht viel mehr,
zumal blutwenig Urteilskraft und selbst wenig Gedächtnis.
Arthur Schopenhauer
Stumpfheit des Geistes ist durchgängig im Verein mit Stumpfheit der Empfindung
und Mangel an Reizbarkeit, welche Beschaffenheit für Schmerzen und Betrübnisse
jeder Art und Größe weniger empfänglich macht: aus eben dieser Geistesstumpfheit
aber geht andererseits jene, auf zahllosen Gesichtern ausgeprägte, wie
auch durch die beständig rege Aufmerksamkeit auf alle, selbst die kleinsten
Vorgänge in der Außenwelt sich verratende innere Leerheit hervor, welche
die wahre Quelle der Langenweile ist und stets nach äußerer Anregung
lechzt, um Geist und Gemüt durch irgendetwas in Bewegung zu bringen.
In der Wahl desselben ist sie daher nicht ekel; wie dies die Erbärmlichkeit
der Zeitvertreibe bezeugt, zu denen man Menschen greifen sieht, im gleichen
die Art ihrer Geselligkeit und Konversation, nicht weniger die vielen
Türsteher und Fenstergucker.
Arthur Schopenhauer
Das charakteristische Merkmal der Geister ersten Ranges ist die Unmittelbarkeit
aller ihrer Urteile. Alles was sie vorbringen ist Resultat ihres selbsteigenen
Denkens und kündigt sich, schon durch den Vortrag, überall als solches
an. Sie haben sonach, gleich den Fürsten, eine Reichsunmittelbarkeit,
im Reiche der Geister: die Übrigen sind alle mediatisiert; welches schon
an ihrem Stil, der kein eigenes Gepräge hat, zu ersehen ist.
Arthur Schopenhauer
So ist Genialität nichts anderes, als die vollkommenste Objektivität,
d.h. objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven,
auf die eigene Person, d. i. den Willen, gehenden.
Arthur Schopenhauer
Zu den echten persönlichen Vorzügen, dem großen Geiste, oder großen
Herzen, verhalten sich alle Vorzüge des Ranges, der Geburt, selbst der
königlichen, des Reichtums und dergleichen, wie die Theater-Könige zu
den wirklichen.
Arthur Schopenhauer
Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen verhüllt.
Unser Reden, Tun, unser ganzes Wesen ist lügenhaft; und erst durch diese
Hülle hindurch kann man bisweilen unsere wahren Gesinnungen erraten,
wie durch die Gewänder hindurch die Gestalt des Leibes.
Arthur Schopenhauer
Alle Formen nimmt die Geistlosigkeit an, um sich dahinter zu verstecken:
sie verhüllt sich in Schwulst, in Bombast, in den Ton der Überlegenheit
und Vornehmigkeit und in hundert andere Formen.
Arthur Schopenhauer
Den Deutschen hat man vorgeworfen, dass sie bald den Franzosen, bald den
Engländern nachahmen: das ist aber gerade das Klügste, was sie tun können:
denn aus eigenen Mitteln bringen sie doch nichts Gescheites zu Markte.
Arthur Schopenhauer
Daß das Altertum mit so viel Unschuld bekleidet vor uns steht, ist doch
bloß, weil es das Christentum nicht kannte.
Arthur Schopenhauer
Bei keiner Sache hat man so sehr den Kern von der Schale zu unterscheiden,
wie beim Christentum. Eben weil ich diesen Kern hochschätze, mache ich
mit der Schale bisweilen wenig Umstände: sie ist jedoch dicker, als man
meistens denkt.
Arthur Schopenhauer
Gegen den Pantheismus habe ich hauptsächlich nur dieses, daß er nichts
besagt. Die Welt Gott nennen heißt nicht sie erklären, sondern nur die
Sprache mit einem überflüssigen Synonym des Wortes Welt bereichern.
Ob ihr sagt "die Welt ist Gott", oder "die Welt ist Welt"
läuft auf eins hinaus.
Arthur Schopenhauer
Ein Heiliger kann voll des absurdesten Aberglaubens sein, oder er kann
umgekehrt ein Philosoph sein: Beides gilt gleich. Sein Tun allein beurkundet
ihn als Heiligen.
Arthur Schopenhauer
In früheren Jahrhunderten war die Religion ein Wald, hinter welchem Heere
halten und sich decken konnten. Aber nach so vielen Fällungen ist sie
nur noch ein Buschwerk, hinter welchem gelegentlich Gauner sich verstecken.
Arthur Schopenhauer
Wenn die Welt erst ehrlich genug geworden sein wird, um Kindern vor dem
15ten Jahr keinen Religionsunterricht zu erteilen: dann wird etwas von
ihr zu hoffen sein.
Arthur Schopenhauer
Aber mehr noch, als jeder andere, soll der Philosoph aus jener Urquelle,
der anschauenden Erkenntnis, schöpfen und daher stets die Dinge selbst,
die Natur, die Welt, das Leben ins Auge fassen, sie, und nicht die Bücher,
zum Texte seiner Gedanken machen, auch stets an ihnen alle fertig überkommenen
Begriffe prüfen und kontrollieren, die Bücher also nicht als Quellen
der Erkenntnis, sondern nur als Beihilfe benutzen.
Arthur Schopenhauer
Man betrachte z.B. den Koran: dieses schlechte Buch war hinreichend, eine
Weltreligion zu begründen, das metaphysische Bedürfniß zahlloser Millionen
Menschen seit 1200 Jahren zu befriedigen, die Grundlage ihrer Moral und
einer bedeutenden Verachtung des Todes zu werden, wie auch, sie zu blutigen
Kriegen und den ausgedehntesten Eroberungen zu begeistern. Wir finden
in ihm die traurigste und ärmlichste Gestalt des Theismus.
Arthur Schopenhauer
Woher denn anders hat Dante den Stoff zu seiner Hölle genommen,
als aus dieser unserer wirklichen Welt?
Arthur Schopenhauer
Denn was sich liebt und füreinander geboren ist, findet sich leicht zusammen:
verwandte Seelen grüßen sich schon aus der Ferne.
Arthur Schopenhauer
Überhaupt aber zeigt der, welcher bei allen Unfällen gelassen bleibt,
daß er weiß, wie kolossal und tausendfältig die möglichen Übel des
Lebens sind, weshalb er das jetzt eingetretene ansieht als einen sehr
kleinen Teil dessen, was kommen könnte: Dies ist die stoische Gesinnung.
Arthur Schopenhauer
Es gibt drei Aristokratien:
1. die der Geburt und des Ranges;
2. die Geldaristokratie;
3. die geistige Aristokratie.
Letztere ist eigentlich die vornehmste.
Arthur Schopenhauer
Man bestreite keines Menschen Meinung; sondern bedenke, dass, wenn man
alle Absurditäten, die er glaubt, ihm ausreden wollte, man Methusalems
Alter erreichen könnte, ohne damit fertig zu werden.
Arthur Schopenhauer
Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist viel schimpflicher
als das Tragen fremder Kleider: denn es ist das Urteil der eigenen Wertlosigkeit,
von sich selbst ausgesprochen.
Arthur Schopenhauer
Es ist durchaus töricht, eine gute gegenwärtige Stunde von sich zu stoßen,
oder sie sich mutwillig zu verderben, aus Verdruss über das Vergangene,
oder Besorgnis wegen des Kommenden.
Arthur Schopenhauer
Von einem, der spazieren geht, kann man niemals behaupten, er mache einen
Umweg.
Arthur Schopenhauer
Viele leben zu sehr in der Gegenwart; die Leichtsinnigen. Andere zu sehr
in der Zukunft: die Ängstlichen und Besorglichen. Selten wird einer genau
das rechte Maß halten.
Arthur Schopenhauer
Wer nicht zeitlebens gewissermaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein
ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird,
kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt sein; nur
nimmermehr ein Genie.
Arthur Schopenhauer
Das Rezept des Arztes ist gerade so viel wie ein Los in der Lotterie:
- es kann das rechte sein.
Arthur Schopenhauer
Eine schwere Aufgabe ist freilich die Höflichkeit insofern, als sie verlangt,
dass wir allen Leuten die größte Achtung bezeugen, während die allermeisten
keine verdienen; sodann, dass wir den lebhaftesten Anteil an ihnen simulieren,
während wir froh sein müssen, keinen an ihnen zu haben.
Arthur Schopenhauer
Hoffnung ist die Verwechselung des Wunsches einer Begebenheit mit ihrer
Wahrscheinlichkeit.
Arthur Schopenhauer
Der Reichtum gleicht dem Seewasser: je mehr man davon trinkt, desto durstiger
wird man. - Dasselbe gilt vom Ruhm.
Arthur Schopenhauer
Der Jammer des Lebens geht schon genugsam aus der einfachen Betrachtung
hervor, dass das Leben der allermeisten Menschen nichts ist als ein beständiger
Kampf um diese Existenz selbst, mit der Gewissheit ihn zuletzt zu verlieren.
Arthur Schopenhauer
"Sitzen ist besser, als stehen, und liegen ist besser als sitzen:
besser, als liegen, ist schlafen, und besser, als schlafen, ist todt seyn."
Arthur Schopenhauer
Alles Urdenken geschieht in Bildern: darum ist die Phantasie ein so notwendiges
Werkzeug desselben, und werden phantasielose Köpfe nie etwas Großes
leisten, - es sei denn in der Mathematik.
Arthur Schopenhauer
Es gibt Leute; die zahlen für Geld jeden Preis.
Arthur Schopenhauer
Das fortwährende Dasein des Menschengeschlechts ist bloß ein Beweis
der Geilheit desselben.
Arthur Schopenhauer
Wer wagt mir zu widersprechen, wenn ich sage, die Menschen sind wesentlich
böse, wesentlich unglücklich, wesentlich töricht?
Arthur Schopenhauer
Der Charakter des Menschen ist konstant: er bleibt der selbe, das ganze
Leben hindurch.
Arthur Schopenhauer
Indessen ist die größte Eiche einmal eine Eichel gewesen, die jedes
Schwein verschlucken konnte.
Arthur Schopenhauer
Wenn die ganze Welt eine Bühne ist, wo sitzen dann die Zuschauer?
Arthur Schopenhauer
Umgekehrt nun aber wird Geistesarmut, Verworrenheit, Verschrobenheit sich
in die gesuchtesten Ausdrücke und dunkelsten Redensarten kleiden, um
so in schwierige und pomphafte Phrasen kleine, winzige, nüchterne, oder
alltägliche Gedanken zu verhüllen, demjenigen gleich, der, weil ihm
die Majestät der Schönheit abgeht, diesen Mangel durch die Kleidung
ersetzen will und unter barbarischem Putz, Flittern, Federn, Krausen,
Puffen und Mantel, die Winzigkeit oder Häßlichkeit seiner Person zu
verstecken sucht.
Arthur Schopenhauer
Was aber das Leben des Einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte
eine Leidensgeschichte: denn jeder Lebenslauf ist, in der Regel, eine
fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle, die zwar jeder möglichst
verbirgt, weil er weiß, daß andere selten Teilnahme oder Mitleid, fast
immer aber Befriedigung durch die Vorstellung der Plagen, von denen sie
gerade jetzt verschont sind, dabei empfinden müssen; - aber vielleicht
wird nie ein Mensch, am Ende seines Lebens, wenn er besonnen und zugleich
aufrichtig ist, wünschen, es nochmals durchzumachen, sondern, eher als
das, viel lieber gänzliches Nichtsein erwählen.
Arthur Schopenhauer
Der Rang, so wichtig er in den Augen des großen Haufens und der Philister,
und so groß sein Nutzen im Getriebe der Staatsmaschine sein mag, läßt
sich mit wenigen Worten abfertigen.
Arthur Schopenhauer
Zum Denken sind wenige Menschen geneigt, obwohl alle zum Rechthaben.
Arthur Schopenhauer
Einen großartigen Beweis von der erbärmlichen Subjektivität der Menschen,
infolge welcher sie alles auf sich beziehen und von jedem Gedanken sogleich
in gerader Linie auf sich zurückgehen, liefert die Astrologie, welche
den Gang der großen Weltkörper auf das armselige Ich bezieht, wie auch
die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit den irdischen Händeln
und Lumpereien. Dies aber ist zu allen und schon in den ältesten Zeiten
geschehen.
Arthur Schopenhauer
Ich weiß wohl, daß jeder denkende Mensch seine Zeit für die allererbärmlichste
hält: aber ich muß gestehen, daß ich von der Illusion nicht frei bin.
Arthur Schopenhauer
Neidisch sein ist dumm, weil niemand wirklich des Neides würdig ist.
Arthur Schopenhauer
Der Zustand, die Beschaffenheit des Bewußtseins ist, in Hinsicht auf
das Glück unsers Daseins, ganz und gar die Hauptsache. Denn das Bewußtsein
allein ist ja das Unmittelbare, alles andere ist mittelbar, durch und
in demselben. Da unser Leben nicht, wie das der Pflanze, ein unbewußtes
ist, sondern ein bewußtes, mithin zur Basis und durchgängigen Bedingung
ein Bewußtsein hat, so ist offenbar die Beschaffenheit und der Grad der
Vollkommenheit dieses Bewußtseins das Wesentlichste zum angenehmen oder
unangenehmen Leben.
Arthur Schopenhauer
Beredsamkeit ist die Fähigkeit, unsere Ansicht einer Sache, oder unsere
Gesinnung hinsichtlich derselben, auch in andern zu erregen, unser Gefühl
darüber in ihnen zu entzünden und sie so in Sympathie mit uns zu versetzen;
dies alles aber dadurch, dass wir, mittelst Worten, den Strom unserer
Gedanken in ihren Kopf leiten, mit solcher Gewalt, dass er den ihrer eigenen
von dem Gange, den sie bereits genommen, ablenkt und in seinen Lauf mit
fortreißt.
Arthur Schopenhauer
Je mehr nun aber einem die Furcht Ruhe lässt, desto mehr beunruhigen
ihn die Wünsche, die Begierden und Ansprüche.
Arthur Schopenhauer
Jeder unmäßige Jubel beruht immer auf dem Wahn, etwas im Leben gefunden
zu haben, was gar nicht darin anzutreffen ist, nämlich dauernde Befriedigung
der quälenden, sich stets neugebärenden Wünsche oder Sorgen.
Arthur Schopenhauer
Daß Bücher nicht die Erfahrung und Gelehrsamkeit nicht das Genie ersetzt,
sind zwei verwandte Phänomene: Ihr gemeinsamer Grund ist, daß das Abstrakte
nie das Anschauliche ersetzen kann.
Arthur Schopenhauer
Die Motive bestimmen nicht den Charakter des Menschen, sondern nur die
Erscheinung dieses Charakters, also die Taten.
Arthur Schopenhauer
"Weder lieben, noch hassen" enthält die Hälfte aller Weltklugheit:
"nichts sagen und nichts glauben" die andere Hälfte.
Arthur Schopenhauer
Hingegen besteht die Güte des Herzens in einem tief gefühlten, universellen
Mitleid mit allem, was Leben hat.
Arthur Schopenhauer
Überhaupt aber geht es mit der geistigen Nahrung nicht anders, als mit
der leiblichen: kaum der fünfzigste Teil von dem, was man zu sich nimmt,
wird assimiliert: das übrige geht durch Evaporation, Respiration oder
sonst ab.
Arthur Schopenhauer
Der Arzt sieht den Menschen in seiner ganzen Schwäche; der Jurist in
seiner ganzen Schlechtigkeit; der Theolog in seiner ganzen Dummheit.
Arthur Schopenhauer
Die Vulgarität besteht im Grunde darin, daß im Bewußtsein das Wollen
das Erkennen gänzlich überwiegt.
Arthur Schopenhauer
Hingegen ist Heiterkeit unmittelbarer Gewinn. Sie allein ist gleichsam
die bare Münze des Glückes und nicht wie alles andere, bloß der Bankzettel;
weil nur sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt.
Arthur Schopenhauer
Nichts aber wird uns zum gelassenen Ertragen der uns treffenden Unglücksfälle
besser befähigen, als die Überzeugung von der Wahrheit.
Arthur Schopenhauer
Wenn ein Mensch, sobald Veranlassung da ist und ihn keine äußere Macht
abhält, stets geneigt ist, Unrecht zu tun, nennen wir ihn böse.
Arthur Schopenhauer
Pünktlich sind die Gewissenhaften und die Neugierigen.
Arthur Schopenhauer
Die kleinen Unfälle, die uns stündlich vexieren, kann man betrachten
als bestimmt, uns in Übung zu erhalten, damit die Kraft, die großen
zu ertragen, im Glück nicht ganz erschlaffe.
Arthur Schopenhauer
Die höchste intellektuelle Eminenz kann zusammenbestehen mit der ärgsten
moralischen Verworfenheit.
Arthur Schopenhauer
Wenn Erziehung und Ermahnung irgend etwas fruchteten; wie könnte dann
Senecas Zögling ein Nero sein?
Arthur Schopenhauer
Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte
Zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein.
Arthur Schopenhauer
Unter der veränderlichen Hülle seiner Jahre, seiner Verhältnisse, selbst
seiner Kenntnisse und Ansichten steckt, wie ein Krebs in seiner Schale,
der identische und eigentliche Mensch, ganz unveränderlich und immer
der selbe.
Arthur Schopenhauer
So bleibt dennoch jederzeit den echten Werken eine ganz eigentümliche,
stille, langsame, mächtige Wirkung, und wie durch ein Wunder sieht man
sie endlich aus dem Getümmel sich erheben, gleich einem Aerostaten, der
aus dem dicken Dunstkreise dieses Erdenraums in reinere Regionen emporschwebt,
wo er, einmal angekommen, stehen bleibt und keiner mehr ihn herabzuziehen
vermag.
Arthur Schopenhauer
Die Wichtigkeit der Gegenwart wird selten sofort erkannt, sondern erst
viel später.
Arthur Schopenhauer
Der erfüllte Wunsch macht gleich einem neuen Platz: jener ist ein erkannter,
dieser noch ein unerkannter Irrtum.
Arthur Schopenhauer
Wird mit Emphase ausgerufen, "Über's Leben geht noch die Ehre!",
so besagt dies eigentlich: "Dasein und Wohlsein sind nichts; sondern
was die andern von uns denken, das ist die Sache".
Arthur Schopenhauer
Denn was läßt sich nicht dem kenntnis- und urteilslosen großen Haufen
in den Kopf setzen? zumal wenn man ihm Vorteil und Gewinn vorspiegelt.
Arthur Schopenhauer
Der Egoismus besteht eigentlich darin, daß der Mensch alle Realität
auf seine eigene Person beschränkt, indem er in dieser allein zu existieren
wähnt, nicht in den anderen. Der Tod belehrt ihn eines Bessern, indem
er diese Person aufhebt, sodass das Wesen des Menschen, welches sein Wille
ist, fortan nur in anderen Individuen leben wird, sein Intellekt aber,
als welcher selbst nur der Erscheinung, d. i. der Welt als Vorstellung,
angehörte und bloß die Form der Außenwelt war, eben auch im Vorstellungsein,
d. h. im objektiven Sein der Dinge als solchem, also ebenfalls nur im
Dasein der bisherigen Außenwelt fortbesteht.
Arthur Schopenhauer
Zwischen Männern ist von Natur bloß Gleichgültigkeit; aber zwischen
Weibern ist schon von Natur Feindschaft. Es kommt wohl daher, daß das
odium figulinum, welches bei Männern sich auf ihre jedesmalige Gilde
beschränkt, bei Weibern das ganze Geschlecht umfasst; da sie alle nur
ein Gewerbe haben. Schon beim Begegnen auf der Straße sehen sie einander
an, wie Guelfen und Ghibellinen. Auch treten zwei Weiber, bei erster Bekanntschaft,
einander sichtbarlich mit mehr Gezwungenheit und Verstellung entgegen,
als zwei Männer in gleichem Fall. Daher kommt auch das Komplimentieren
zwischen zwei Weibern viel lächerlicher heraus, als zwischen Männern.
Arthur Schopenhauer
Die Pein des unerfüllten Wunsches ist klein gegen die der Reue: denn
jene steht vor der stets offenen unabsehbaren Zukunft, diese vor der unwiderruflich
abgeschlossenen Vergangenheit.
Arthur Schopenhauer
Um also nicht der Ruhe unseres Lebens durch ungewisse, oder unbestimmte
Übel verlustig zu werden, müssen wir uns gewöhnen, jene anzusehen,
als kämen sie nie; diese, als kämen sie gewiss nicht sobald.
Arthur Schopenhauer
Was nun aber, von jenen allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die
Heiterkeit des Sinnes: denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich
selbst.
Arthur Schopenhauer
Wer im Luftballon aufsteigt, sieht nicht sich sich erheben, sondern die
Erde herabsinken, tiefer und immer tiefer. - Was soll das? Ein Mysterium,
welches nur die Beipflichtenden verstehen.
Arthur Schopenhauer
Über keinen Vorfall sollte man in großen Jubel, oder große Wehklage
ausbrechen; theils wegen der Veränderlichkeit aller Dinge, die ihn jeden
Augenblick umgestalten kann; theils wegen der Trüglichkeit unseres Urtheils
über das uns Gedeihliche oder Nachteilige.
Arthur Schopenhauer
Der Quäler und der Gequälte sind eines. Jener irrt, indem er sich der
Qual, dieser, indem er sich der Schuld nicht teilhaft glaubt.
Arthur Schopenhauer
Bescheidenheit bei mittelmäßigen Fähigkeiten ist bloße Ehrlichkeit:
bei großen Talenten ist sie Heuchelei.
Arthur Schopenhauer
Daher hat keine Wahrheit die andere zu fürchten. Trug und Irrtum hingegen
haben jede Wahrheit zu fürchten.
Arthur Schopenhauer
Höflichkeit mit Stolz zu vereinigen ist ein Meisterstück.
Arthur Schopenhauer
Güte ist in Beziehung zu Menschen eine Pflicht. Bist du nicht gütig
gegen Menschen, so bist du böse und erweckst Bosheit.
Arthur Schopenhauer
Drei Weltmächte gibt es, sagt sehr treffend, ein Alter: Klugheit, Stärke
und Glück.
Arthur Schopenhauer
Hier sei beiläufig erwähnt, dass der Patriotismus, wenn er im Reiche
der Wissenschaften sich geltend machen will, ein schmutziger Geselle ist,
den man hinauswerfen soll.
Arthur Schopenhauer
[...] Diese Welt trägt keine Ideale: ihre Genies bleiben Menschen, haben
Schwächen, unter denen die Begier nach Ruhm noch lange nicht die größte
ist.
Arthur Schopenhauer
Zorn oder Hass in Worten oder Mienen blicken zu lassen ist unnütz, ist
gefährlich, ist unklug, ist lächerlich, ist gemein.
Arthur Schopenhauer
Falsche Ansichten zu widerrufen erfordert mehr Charakter, als sie zu verteidigen.
Arthur Schopenhauer
Entfernung und lange Abwesenheit tun jeder Freundschaft Eintrag, so ungern
man es gesteht. Denn Menschen, die wir nicht sehen, wären sie auch unsere
geliebtesten Freunde, trocknen im Laufe der Jahre allmählich zu abstrakten
Begriffen auf, wodurch unsere Teilnahme an ihnen mehr und mehr eine bloß
vernünftige, ja traditionelle wird: die lebhafte und tiefgefühlte bleibt
denen vorbehalten, die wir vor Augen haben, und wären es auch nur geliebte
Tiere. So sinnlich ist die menschliche Natur.
Arthur Schopenhauer
Wenn, was wir klüglich und weislich erdacht,
Das Glück uns tückisch zu Schanden gemacht;
So ist das hart zu untergehn.
Aber tausend Mal härter ist es zu sehn,
Wenn was das Glück uns legte zur Hand
Tölpisch zerschlug unser Unverstand.
Arthur Schopenhauer
Oder ist etwan die deutsche Sprache vogelfrei, als eine Kleinigkeit, die
nicht des Schutzes der Gesetze wert ist, den doch jeder Misthaufen genießt?
Arthur Schopenhauer
Nur wer sich ganz dem Augenblick hinzugeben versteht,
mag etwas hervorbringen, das keine Zeit zerstört.
Arthur Schopenhauer
Überhaupt aber ergeht es uns im Leben wie dem Wanderer, vor welchem,
indem er vorwärts schreitet, die Gegenstände andere Gestalten annehmen,
als die sie von ferne zeigten, und sich gleichsam verwandeln, indem er
sich nähert. Besonders geht es mit unseren Wünschen so. Oft finden wir
etwas ganz anderes, ja, besseres, als wir suchten; oft auch das Gesuchte
selbst auf einem ganz anderen Wege, als den wir zuerst vergeblich danach
eingeschlagen hatten.
Arthur Schopenhauer
Das Neue ist selten das Gute, weil das Gute nur kurze Zeit das Neue ist.
Arthur Schopenhauer
An unserm Zutrauen zu andern haben sehr oft Trägheit, Selbstsucht und
Eitelkeit den größten Anteil.
Arthur Schopenhauer
Kann man den Menschen mit der restlichen Schöpfung gleichsetzen?
Arthur Schopenhauer
Das gehört zu den Leiden des Alters: man verliert seine Freunde.
Arthur Schopenhauer
Der Muskel wird durch starken Gebrauch gestärkt; der Nerv hingegen dadurch
geschwächt. Also übe man seine Muskeln durch jede angemessene Anstrengung,
hüte hingegen die Nerven vor jeder.
Arthur Schopenhauer
Dem schwachen Kopf ist das Denken so unerträglich,
wie dem schwachen Arm das Heben einer Last.
Arthur Schopenhauer
Die Ehre eines Mannes beruht nicht auf dem, was er tut, sondern auf dem,
was er leidet, was ihm widerfährt.
Arthur Schopenhauer
Alles Ursprüngliche und daher alles Echte
im Menschen wirkt unbewusst.
Arthur Schopenhauer
In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in der Zukunft wird nie
einer leben; sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist
aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann.
Arthur Schopenhauer
Die Barbarei kommt wieder, trotz Eisenbahnen, elektrischen Drähten und
Luftballons.
Arthur Schopenhauer
Die Vernunft ist weiblicher Natur: sie kann nur geben, nachdem sie empfangen
hat.
Arthur Schopenhauer
Mit kleiner Quantität, aber guter Qualität desselben leistet man mehr,
als mit großer Quantität, bei schlechter Qualität.
Arthur Schopenhauer
Notwendigkeit ist das Reich der Natur; Freiheit ist das Reich der Gnade.
Arthur Schopenhauer
Vorzüglich erblich ist der Hang zum Selbstmord.
Arthur Schopenhauer
Denn Kant ist vielleicht der originellste Kopf, den jemals die Natur hervorgebracht
hat. Mit ihm und in seiner Weise zu denken, ist etwas, das mit gar nichts
Anderem irgend verglichen werden kann: denn er besaß einen Grad von klarer,
ganz eigentümlicher Besonnenheit, wie solche niemals irgend einen andern
Sterblichen zu Teil geworden ist.
Arthur Schopenhauer
Von diesem Gesichtspunkt aus, läßt sich daher der Traum als ein kurzer
Wahnsinn, der Wahnsinn als ein langer Traum bezeichnen.
Arthur Schopenhauer
Stets denke man: besser allein, als unter Verrätern.
Arthur Schopenhauer
So viel ich sehe, sind es allein die monotheistischen, also jüdischen
Religionen, deren Bekenner die Selbsttötung als ein Verbrechen betrachten.
Arthur Schopenhauer
Man soll nicht Judentum mit Vernunft identifizieren.
Arthur Schopenhauer
Die Menschen werden nur scheinbar von vorne gezogen, eigentlich aber von
hinten geschoben: nicht das Leben lockt sie an, sondern die Not drängt
sie vorwärts.
Arthur Schopenhauer
Der Neid nämlich ist die Seele des überall florierenden, stillschweigenden
und ohne Verabredung zusammenkommenden Bundes aller Mittelmäßigen, gegen
den einzelnen Ausgezeichneten, in jeder Gattung. [...] Neid ist das sichere
Anzeichen des Mangels, also, wenn auf Verdienste gerichtet, des Mangels
an Verdiensten.
Arthur Schopenhauer
Die Konsonanten sind das Skelett und die Vokale das Fleisch der Wörter.
Arthur Schopenhauer
Das Delirium verfälscht die Anschauung, der Wahnsinn die Gedanken.
Arthur Schopenhauer
Denn das Gesicht eines Menschen sagt gerade aus, was er ist; und täuscht
es uns, so ist dies nicht seine, sondern unsere Schuld.
Arthur Schopenhauer
Alles, alles kann einer vergessen, nur nicht sich selbst, sein eigenes
Wesen.
Arthur Schopenhauer
Die Gegenwart eines Gedankens ist wie die Gegenwart einer Geliebten.
Arthur Schopenhauer
Wer fröhlich ist, hat allemal Ursache, es zu sein. Nämlich eben diese,
dass er es ist.
Arthur Schopenhauer
Zu unserer Besserung bedürfen wir eines Spiegels.
Arthur Schopenhauer
In der Tat beruht auf dem selben Grunde der allen Genies eigene Hang zur
Einsamkeit, als zu welcher sowohl ihre Verschiedenheit von den Übrigen
sie treibt, wie ihr innerer Reichtum sie ausstattet: denn von Menschen,
wie von Diamanten, taugen nur die ungemein großen zu Solitärs: die gewöhnlichen
müssen beisammen sein und in der Masse wirken.
Arthur Schopenhauer
... je mehr einer an sich selbst hat, desto weniger bedarf er von außen
und desto weniger auch können die Übrigen ihm sein. Darum führt die
Eminenz des Geistes zur Ungeselligkeit. Ja, wenn die Qualität der Gesellschaft
sich durch die Quantität ersetzen ließe; da wäre es der Mühe wert,
sogar in der großen Welt zu leben: aber leider geben hundert Narren,
auf einem Haufen, noch keinen gescheiten Mann.
Arthur Schopenhauer
Unrecht, das mir Jemand zufügt, befugt mich keineswegs ihm Unrecht zuzufügen.
Viele Wahrheiten bleiben bloß deshalb unentdeckt, weil Keiner Mut hat,
das Problem ins Auge zu fassen und darauf los zu gehen.
Arthur Schopenhauer
Muße ohne geistige Ausfüllung ist Tod und lebender Menschen Grab.
Arthur Schopenhauer
Reichtum des Geistes allein verdient als Reichtum zu gelten ...
Arthur Schopenhauer
Des Narren Leben ist ärger denn der Tod!
Arthur Schopenhauer
Wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens.
Arthur Schopenhauer
Die Quelle unserer Unzufriedenheit liegt in unsern stets erneuerten Versuchen,
den Faktor der Ansprüche in die Höhe zu schieben, bei der Unbeweglichkeit
des andern Faktors, die es verhindert.
Arthur Schopenhauer
Die Freunde nennen sich aufrichtig; die Feinde sind es: daher man ihren
Tadel zur Selbsterkenntniß benutzen sollte, als eine bittre Arznei.
Arthur Schopenhauer
Ab hier geht es wieder weiter mit den Texten,
welche ich selbst sorgfältig aus Schopenhauers gesammelten Frakturschriften
(weiter unten zum download als PDF Dateien) "übersetzt" habe.
Mein Leben in der wirklichen
Welt ist ein bittersüßer Trank. Es ist nämlich, wie mein Dasein überhaupt,
ein stetes Erwerben von Erkenntnis, Gewinnen von Einsicht, das hier diese
wirkliche Welt und mein Verhältnis zu ihr betrifft. Der Gehalt dieser
Erkenntnis ist traurig und niederschlagend: aber die Form der Erkenntnis
überhaupt, das Gewinnen an Einsicht, das Eindringen in die Wahrheit ist
durchaus erfreulich und mischt fortwährend seine Süße in jene Bitterkeit,
seltsamerweise.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Mein Zeitalter ist nicht mein Wirkungskreis;
sondern nur der Boden, auf dem meine physische Person steht,
welche aber nur ein sehr unbedeutender Teil meiner ganzen Person ist:
diesen Boden hat sie mit vielen gemein, deren Wirkungskreis er ist:
diesen überlasse ich daher Sorge und Kampf um denselben.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Sie schreien über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie;
das liegt aber bloß darin, das ich statt als Äquivalent ihrer Sünden
eine künftige Hölle zu fabeln, gezeigt habe, daß wo die Sünde ist,
in der Welt, auch schon etwas höllenartiges sei.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das Leben geht schnell und euer Verständnis ist langsam:
Darum erlebe ich nicht meinen Ruhm und habe meinen Lohn dahin.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die gänzliche Nichtbeachtung, die mein Werk erfahren hat, beweist, daß
entweder ich des Zeitalters nicht würdig war, oder umgekehrt. In beiden
Fällen heißt es jetzt: the rest is silence.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Natura nihil agit frustra: warum denn gab sie mir so viele und tiefe Gedanken,
wenn solche keine Teilnahme unter den Menschen finden sollen?
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Mein Zeitalter und ich passen nicht für einander: so viel ist klar.
Aber wer von uns wird den Prozeß vor dem Richterstuhl der Nachwelt gewinnen?
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ich habe den Schleier der Wahrheit weiter gelüftet, als irgend ein sterblicher
vor mir. Aber den will ich sehn, der sich rühmen kann, eine elendere
Zeitgenossenschaft gehabt zu haben, als ich.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Daß in euern Ohren die Wahrheit befremdend klingt, ist schlimm genug,
aber darf mir nicht zur Richtschnur dienen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Gemeinheit ist der Leim, der die Menschen zusammenkleistert. Wem es
daran gebricht, der fällt ab. Als ich, in jungen Jahren, dies zuerst
an mir erfahren mußte, wußte ich nicht, woran es mir gebrach.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In allen Dingen ist zu allen Zeiten von Einzelnen die Wahrheit gefühlt
worden und hat in vereinzelten Aussprüchen ihren Ausdruck gefunden, bis
sie von mir im Zusammenhang erfaßt wurde.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Daß in kurzem die Würmer meinen Leib zernagen werden, ist ein Gedanke,
den ich ertragen kann, aber die Philosophieprofessoren meine Philosophie!
Dabei schaudert`s mich.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Vielen Menschen sind die Philosophen lästige Nachtschwärmer, die sie
im Schlafe stören.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Daß die meisten Menschen keine Philosophen werden, kommt daher, daß
das Konkrete, Einzelne der Erscheinung, die Mannigfaltigkeit der Erfahrung,
durch ihren Schein von Realität, ihre Aufmerksamkeit fesseln, so daß,
wenn sie sich von jenen abziehn sollen zu einer Betrachtung des Ganzen
der Erfahrung, ihnen angst und bang wird, wie dem Kind, wenn die Amme
weggeht;
und sie fürchten etwas zu versäumen, wenn sie jenen Strom der Erfahrung
außer acht lassen sollen. Dem Philosophen hingegen wird eben in diesem
Strom der einzelnen Erscheinungen angst und bang;
und wenn jene nicht die Geduld haben, sich vom Einzelnen und Mannigfaltigen
zu entfernen, und es fortfließen zu lassen, um das Ganze zu betrachten;
so hat dieser nicht die Geduld, das einzelne zu betrachten, bevor er weiß,
was er aus dem ganzen zu machen hat.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wem nicht zuzeiten die Menschen und alle Dinge wie bloße Phantome oder
Schattenbilder vorkommen, der hat keine Anlage zur Philosophie:
denn jenes entsteht aus dem Kontrast der einzelnen Dinge mit der Idee,
deren Erscheinung sie sind. Und die Idee ist nur für das höher gesteigerte
Bewußtsein zugänglich.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Dem Philosophen so wenig als dem Dichter darf die Moral über die Wahrheit
gehen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn ein Tabulettkrämer den Herren Haarnadeln und den Damen Pfeifenköpfe
anbietet, so lacht man über seine Dummheit;
Aber wie viel toller ist der Einfall des Philosophen, der die Wahrheit
zu Markte trägt, und sie an die Menschen abzusetzen hofft:
die Wahrheit ..... für die Menschen!!
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Meint ihr denn, die Philosophie werde nicht sein wie jedes echte Kunstwerk,
das unerreichbare Maß, an dem jeder seine eigene Höhe mißt?
sondern sie werde sein wie ein Rechnungsexempel, das auch der Beschränkteste
und Geistesärmste sich vollständig aneignen und übersehn kann?
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Philosophie hat viel Ähnlichkeit mit der Anatomie des Gehirns: falsche
Philosophie (d. h. falsche Weltansicht) und falsche Anatomie des Gehirns
zerschneiden und trennen was als Eins und ein Ganzes zusammengehört,
und vereinigen dagegen in den abgeschnittenen Stücken fremdartige Teile.
Wahre Philosophie und wahre Anatomie des Gehirns zerlegen alles richtig,
finden und lassen als Eins was Eins ist und legen heterogene Teile auseinander.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn ich mir beim Anblick einer weiten Aussicht vergegenwärtige, daß
sie entsteht, indem die Funktionen meines Gehirns, also Zeit, Raum und
Kausalität, angewandt werden auf gewisse Flecke, die auf meiner Retina
entstanden sind;
.... so fühle ich, daß ich die Aussicht in mir trage und mir wird die
Identität meines Wesens mit dem der ganzen Außenwelt ungemein fühlbar.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Sieh doch das große, massive, schwere Zeughaus an:
.... ich sage dir, diese harte, lastende, weitläufige Masse existiert
doch nur im weichen Brei der Gehirne, nur dort hat sie ihr Dasein und
ist außer denselben gar nicht zu finden.
Dies mußt du zu allererst begreifen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es gibt etwas, was jenseits des Bewußtseins liegt, aber zuzeiten in dasselbe
hereinbricht wie ein Mondstrahl in die umwölkte Nacht.
Alsdann bemerken wir, daß unser Lebenslauf uns ihm weder näher noch
ferner bringt, der Greis ihm so nahe steht wie das Kind, und werden inne,
daß unser Leben zu ihm keine Parallaxe hat, so wenig wie die Erdbahn
zu den Fixsternen. Es ist unser außer der Zeit liegendes Wesen an sich.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Bildung verhält sich zu natürlichen Vorzügen des Intellekts, wie eine
wächserne Nase zu einer wirklichen, auch wie Planeten und Monde zu Sonnen.
Denn vermöge seiner Bildung sagt der Mensch nicht was er denkt, sondern
was andere gedacht haben und er gelernt hat (Dressur); und er tut nicht
sogleich was er möchte, sondern was man ihn zu tun gewöhnt hat.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Zwischen dem Genie und dem Wahnsinnigen ist die Ähnlichkeit, daß sie
in einer anderen Welt leben, als die für alle vorhandene.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Philosophen des Altertums haben viele ganz heterogene Dinge in einen
Begriff vereint:
Beispiele davon liefert jedes platonische Gespräch in Menge. Die größte
Verwirrung und Verwechselung derart ist aber die der Ethik mit der Politik.
Der Staat und das Reich Gottes oder Moralgesetz sind so heterogen, das
ersterer eine Parodie des letztern ist, ein bittres Lachen über dessen
Abwesenheit, eine Krücke statt eines Beines, ein Automat statt eines
Menschen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das Wort „Gott“ ist mir deshalb so zuwider, weil es in jedem Fall
nach außen versetzt, was innen liegt. Danach, könnte einer sagen, ist
der Unterschied zwischen Theismus und Atheismus ein räumlicher. Aber
es verhält sich vielmehr so: „Gott“ ist wesentlich ein Objekt und
nicht das Subjekt: sobald daher Gott gesetzt ist, bin ich nichts.
Behauptet man die Identität des Subjektiven und Objektiven, so mag man
auch die Identität des Theismus und Atheismus behaupten. Freilich sind
alle Gegensätze relativ und man kann von jedem auf einen allgemeinen
Standpunkt steigen, wo der Gegensatz aufhört. Aber damit ist nichts gewonnen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das Monstrose und ganz Absurde des Theismus darzulegen, ist nichts geeigneter,
als die aus verdeckten Widersprüchen zusammengesetzte Darstellung desselben
nach dem Koran, in Garcin de Tassy Exposition de la foi Musulmane:
und dennoch ist sie ganz dem Christentum gemäß und sagt nichts als was
ein Christ von Gott Vater zugeben muß: denn dieser Begriff ist allen
jüdischen Sekten gemeinsam; außer ihnen aber nirgends anzutreffen. Die
Christen vermeiden aber gern diese explizite Darstellung und flüchten
sich hinter den Mystizismus, in dessen Dunkelheit das Absurde verschwinden
und fünf grade werden soll.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das die Religion als Maske der niederträchtigsten Absichten dient, ist
so alltäglich, daß es niemand wundern darf; .... daß aber dieses der
Philosophie begegnen sollte, der reinen Himmelstochter, die nie und nirgends
etwas anderes, als die Wahrheit gesucht hat, ....war unserer Zeit aufbehalten.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wer die weite Reise zur Nachwelt vorhat, darf keine unnütze Bagage mitschleppen:
denn er muß leicht sein, um den langen Strom der Zeit hinabzuschwimmen.
Wer für alle Zeiten schreiben will, sei kurz, bündig, auf das Wesentliche
beschränkt: er sei, bis zur Kargheit, bei jeder Phrase und jedem Wort
bedacht, ob es nicht auch zu entbehren sei; wie, wer den Koffer zur weiten
Reise packt, bei jeder Kleinigkeit die er hineinlegt, überlegt, ob er
nicht auch sie weglassen könne.
Das hat jeder, der für alle Zeiten schrieb, gefühlt und getan. Den breiten,
Unverdautes hinwerfenden, endlosen Schwätzern, wie z.B. Fichten, ist
es gar nie in den Sinn gekommen: wozu hätte es das auch gesollt?
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
"Im Menschen ist auch eine verehrende Ader" hat Goethe irgendwo
gesagt. Um diesem Triebe zur Verehrung Genüge zu tun, auch bei denjenigen,
welche für das wirklich Ehrwürdige keinen Sinn haben, gibt es, als Surrogat
desselben, Fürsten und fürstliche Familien, Adel, Titel, Orden und Geldsäcke.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Du, mein Freund, vergiß nie, daß du ein Philosoph bist, von der Natur
dazu und zu nichts anderm berufen. Wandle daher nie die Wege der Philister:
denn wenn du auch einer werden wolltest, so könntest du es nie, bliebst
sogar nur ein Halbphilister, ein mißlungenes Ding.
Der Philister geht auf im Leben, ihm ist daher wohl darin, er will nicht
darüber hinaus und kann nicht, wenn er es wollte.
Dem Philosophen ist das Leben durchaus ungenügend, er mag sich nicht
wohl darin sein lassen und kann nicht; wenn er auch möchte: er gibt es
auf, versäumt die Vorteile desselben an sich zu bringen, entfernt sich
von ihm, um es in der Entfernung im ganzen zu übersehn, es zu konterfeien;
hieran entfaltet er seine Kräfte, und dies ist der bessre Teil seines
Lebens: was seine Person betrifft, so reicht sie das Konterfei hin, sprechend:
"So ist das Ding, das ich nicht mochte."
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ich rede bisweilen mit Menschen, so wie das Kind mit seiner Puppe redet:
es weiß zwar, daß die Puppe es nicht versteht; schafft sich aber, durch
eine angenehme wissentliche Selbsttäuschung, die Freude der Mitteilung.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
.....................
Es ist wirklich die größte Verkehrtheit, diesen Schauplatz des Jammers
in einen Lustort verwandeln zu wollen und, statt der möglichsten Schmerzlosigkeit,
Genüsse und Freuden sich zum Ziele zu stecken; wie doch so Viele thun.
Viel weniger irrt wer, mit zu finsterm Blicke, diese Welt als eine Art
Hölle ansieht und demnach nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine
feuerfeste Stube zu verschaffen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Fruchtet nun die Lehre; so hören wir auf, nach Glück und Genuß zu jagen,
und sind vielmehr darauf bedacht, dem Schmerz und Leiden möglichst den
Zugang zu versperren. Wir erkennen alsdann, daß das Beste, was die Welt
zu bieten hat, eine schmerzlose, ruhige, erträgliche Existenz ist und
beschränken unsere Ansprüche auf diese, um sie desto sicherer durchzusetzen.
Denn, um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel,
daß man nicht verlange, sehr glücklich zu seyn.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ich muß es aufrichtig gestehn: der Anblick jedes Tiers erfreut mich unmittelbar,
und mir geht dabei das Herz auf; am meisten der der Hunde und sodann der
aller freien Tiere, der Vögel, der Insekten, und was es sei. Hingegen
erregt der Anblick der Menschen fast immer meinen entschiedenen Widerwillen:
denn er bietet durchgängig und mit seltenen Ausnahmen, die widerwärtigsten
Verzerrungen dar, in jeder Art und Hinsicht, physische Häßlichkeit,
den moralischen Ausdruck niedriger Leidenschaften und verächtlichen Strebens,
Zeichen von Narrheiten und intellektueller Verkehrtheiten und Dummheiten
jeder Art und Größe, endlich auch das Schmutzige, infolge ekelhafter
Gewohnheiten: darum wende ich mich davon ab und fliehe zur vegetabilischen
Natur, erfreut, wenn mir Tiere begegnen. Sagt, was ihr wollt ! der Wille
auf der obersten Staffel seiner Objektivation gewährt keinen schönen
Anblick, sondern einen widerwärtigen. Ist doch schon die weiße Gesichtsfarbe
widernatürlich und die Bedeckung des ganzen Leibes mit Kleidern, eine
traurige Notwendigkeit des Nordens, eine Verunstaltung.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
My greatest enjoyments are those of my own mind
to which, for me, no others are comparable, whatever
they might be. Therefore if I possess myself, I
have every thing, having the main-point: but if
I do not possess myself, I have nothing, whatever
other things I might possess.
It is far otherwise with ordinary men : they borrow
their enjoyments from without, and are rich or poor
according to their share of them. Consequently my
main-object in life must always be the free possession
of myself, implying free leisure, health, tranquillity of
mind and those comforts I am accustomed to, and the
lack of which would disturb me. It is clear that all
this might be equally impaired by the possession of
too many exterior things, as by having too little of
them. A certain instinct rather
than distinct notions of all this, and my good genius,
have always led me to pursue and conserve that free
possession of myself, and to care little for all the rest.
- But now I must do with the full consciousness befitting
my age, what heretofore I did by mere instinct.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Menschen finden sich oft durch ein einziges Wort, eine Miene, einen
Widerspruch, so beleidigt, daß sie es nie vergeben und Feindschaft aus
Freundschaft machen: mir ist das nun allemal unverständlich. Das macht,
ich muß in einem fort Gesichter, Worte, Meinungen, Widersprüche aller
Art, vergeben, die mein Innerstes empören auf eine Weise, die jene gar
nicht kennen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Alle die Tage, deren vorhergegangene Nacht ich nicht recht ausgeschlafen,
sind aus meinem Leben zu streichen; denn da war ich nicht Ich.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Von dem, was die Pseudophilosophen unserer Zeit lehren, der Staat habe
zur Absicht Beförderung des moralischen Zwecks des Menschen, ist viel
eher das Gegenteil wahr. --- Der Zweck des Menschen (ein parabolischer
Ausdruck) ist nicht, daß er so oder anders handele, denn alle opera operata
sind an sich gleichgültig. Sondern daß der Wille, davon jeder Mensch
ein vollständiges Spezimen ja dieser Wille selbst ist, sich wende, wozu
nötig ist, daß der Mensch (der Verein von Erkennen und wollen) diesen
Willen erkenne, das Entsetzliche dieses Willens erkenne, sich spiegele
in seinen Thaten und deren Greueln. Der Staat, dem es nur aufs Wohlfein
Aller abgesehn ist, hemmt die Äußerung des bösen Willens, keineswegs
den Willen, was unmöglich wäre. Dadurch geschieht es, daß höchst selten
ein Mensch seine ganze Entsetzlichkeit im Spiegel seiner Thaten erblickt.
Oder glaubt ihr wirklich, Robespierre, Bonaparte, der Kaiser von Marokko,
die Mörder, die ihr rädern seht, seien allein so schlecht unter allen?
Seht ihr nicht, daß viele dasselbe, als jene thäten, wenn sie nur könnten?
Mancher Verbrecher stirbt ruhiger auf dem Schafott, als mancher Nichtverbrecher
in den Armen der Seinen. Jener hat seinen Willen erkannt und gewendet.
Dieser hat ihn nicht wenden können, weil er ihn nie hat erkennen können.
Der Staat bezweckt ein Schlaraffenland, das dem wahren Zweck des Lebens,
der Erkenntnis des Willens in seiner Furchtbarkeit, grade entgegensteht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wie Hamlet, wenn er den Geist seines Vaters erblickt, die Augen starr
allein auf diesen heftet und alle Umstehenden unbeachtet lässt, --- so
haben alle die, welche eine große und wichtige Wahrheit zuerst erkannten,
nur diese ihr ganzes Leben hindurch im Auge behalten, ohne auf das derweilige
Treiben der Zeitgenossen zu achten, oder mit dem, was diese zu ihrem Gesichte
sagten, sich aufzuhalten. Denn eine solche Erkenntnis macht den Blick
gewissermaßen starr.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Eine Irrlehre, sei sie aus falscher Ansicht gefasst, oder aus schlechter
Absicht entsprungen, ist stets nur auf spezielle Umstände, folglich auf
eine gewisse Zeit berechnet; die Wahrheit allein auf alle Zeit; wenn sie
auch eine Weile verkannt, oder erstickt werden kann. Denn, sobald nur
ein wenig Licht von innen, oder ein wenig Luft von außen kommt, findet
sich jemand ein, sie zu verkündigen, oder zu verteidigen. Weil sie nämlich
nicht aus der Absicht irgend einer Partei entsprungen ist; so wird, zu
jeder Zeit jeder vorzügliche Kopf ihr Verfechter. Denn sie gleicht dem
Magneten, der stets und überall nach einem absolut bestimmten Weltpunkt
weist; die Irrlehre hingegen einer Statue, die mit der Hand auf eine andere
Statue hinweist, von welcher einmal getrennt sie alle Bedeutung verloren
hat.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In früher Jugend sitzen wir vor unserm bevorstehenden Lebenslauf, wie
die Kinder vor dem Theatervorhang, in froher und gespannter Erwartung
der Dinge, die da kommen sollen. Ein Glück, daß wir nicht wissen, was
wirklich kommen wird. Denn wer es weiß, dem könnten zuzeiten die Kinder
vorkommen wie unschuldige Delinquenten, die zwar nicht zum Tode, hingegen
zum Leben verurteilt sind, jedoch den Inhalt ihres Urteils noch nicht
vernommen haben.
--- Nichtsdestoweniger wünscht jeder sich ein hohes Alter, also einen
Zustand, darin es heißt: "Es ist heute schlecht und wird nun täglich
schlechter werden, ---
bis das Schlimmste kommt."
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In den Ergänzungen zur "Welt als Wille und Vorstellung" (Kap.
47, Bd. 6 S. 150 ff. dieser Gesamtausgabe) habe ich dargethan, daß der
Staat wesentlich eine bloße Schutzanstalt ist, gegen äußere Angriffe
des Ganzen und innere der Einzelnen untereinander. Hieraus folgt, daß
die Notwendigkeit des Staats, im letzten Grunde, auf der Ungerechtigkeit
des Menschengeschlechts beruht: ohne diese würde an keinen Staat gedacht
werden; da niemand Beeinträchtigung seiner Rechte zu fürchten hätte
und ein bloßer Verein gegen die Angriffe wilder Tiere, oder der Elemente,
nur eine schwache Ähnlichkeit mit einem Staate haben würde. Von diesem
Gesichtspunkt aus sieht man deutlich die Borniertheit und Plattheit der
Philosophaster, welche, in pompösen Redensarten, den Staat als den höchsten
Zweck und die Blüte des menschlichen Daseins darstellen und damit eine
Apotheose der Philisterei liefern.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ein eigentümlicher Fehler der Deutschen ist, daß sie, was vor ihren
Füßen liegt, in den Wolken suchen. Ein ausgezeichnetes Beispiel hievon
liefert die Behandlung des Naturrechts von den Philosophieprofessoren.
Um die einfachen menschlichen Lebensverhältnisse, die den Stoff desselben
ausmachen, also Recht und Unrecht, Besitz, Staat, Strafrecht u. v. m.
zu erklären, werden die überschwänglichsten, abstraktesten, folglich
weitesten und inhaltsleersten Begriffe herbeigeholt, und nun aus ihnen
bald dieser, bald jener Babelturm in die Wolken gebaut, je nach der speziellen
Grille des jedesmaligen Professors. Dadurch werden die klärsten, einfachsten,
und uns unmittelbar angehenden Lebensverhältnisse unverständlich gemacht,
zum großen Nachteil der jungen Leute, die in solcher Schule gebildet
werden; während die Sachen selbst höchst einfach und begreiflich sind;
wovon man sich überzeugen kann durch meine Darstellung derselben (über
das Fundament der Moral § 17 ; und Welt als Wille und Vorstellung §
62 ; Bd. 3, S. 195 ff. dieser Gesamtausgabe).
Aber bei gewissen Worten, wie da sind Recht, Freiheit, das Gute, das Sein
(dieser nichtssagende Infinitiv der Kopula) u. a. m. wird dem Deutschen
ganz schwindlich, er gerät alsbald in eine Art Delirium und fängt an,
sich in nichtssagenden, hochtrabenden Phrasen zu ergehn, indem er die
weitesten, folglich hohlsten Begriffe künstlich aneinanderreiht; statt
daß er die Realität ins Auge fassen und die Dinge und Verhältnisse
leibhaftig anschauen sollte, aus denen jene Begriffe abstrahiert sind
und die folglich ihren alleinigen wahren Inhalt ausmachen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es gibt einige Begriffe, die sehr selten, mit Klarheit und Bestimmtheit,
in irgend einem Kopfe vorhanden sind, sondern ihr Dasein bloß durch ihren
Namen fristen, der dann eigentlich nur die Stelle so eines Begriffs bezeichnet,
ohne den sie jedoch ganz verloren gehen würden. Der Art ist z.B. der
Begriff der Weisheit. Wie vage ist er in fast allen Köpfen! Man sehe
die Erklärungen der Philosophen.
"Weisheit" scheint mir nicht bloß theoretische, sondern auch
praktische Vollkommenheit zu bezeichnen. Ich würde sie definieren als
die vollendete, richtige Erkenntnis der Dinge, im ganzen und allgemeinen,
die den Menschen so völlig durchdrungen hat, daß sie nun auch in seinem
Handeln hervortritt, indem sie sein Thun überall leitet.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es wundert mich nicht, daß sie Langeweile haben, wann sie allein sind:
sie können nicht allein lachen; sogar erscheint solches ihnen närrisch.
— Ist denn das Lachen etwan nur ein Signal für andere und ein bloßes
Zeichen, wie das Wort? — Mangel an Phantasie und an Lebhaftigkeit des
Geistes Überhaupt, (dulness, άναισϑησια και βραϐυτης
φοχης, wie Theophr. Charact., c. 27 sagt), das ist es, was ihnen,
wenn allein, das Lachen verwehrt. Die Tiere lachen weder allein, noch
in Gesellschaft.
Myson, der Misanthrop, war, allein lachend, von so einem überrascht worden,
der ihn jetzt fragte, warum er denn lache, da er doch allein wäre? —
„Gerade darum lache ich,“ war die Antwort.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Was hauptsächlich meiner Philosophie den Eingang versperrt hat, ist,
daß ich verschmäht habe, von jenem Schibboleth Gebrauch zu machen, welches
seine Bedeutung längst verloren hat, aber als ein Tribut an die Landesreligion
von jeder Philosophie erlegt werden muß, die kathederfähig sein will.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Man hat geklagt, daß meine Philosophie traurig und trostlos wäre: aber
nichts ist so trostlos wie die Lehre, daß Himmel und Erde und konsekutiv
der Mensch aus Nichts geschaffen seien, denn da folgt wie Nacht auf Tag,
daß er zu Nichts wird, wann er vor unsern Augen stirbt. Vielmehr ist
der Anfang und Grund alles Tröstlichen die Lehre, dass der Mensch nicht
aus Nichts geworden ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Alle vom Staat irgend abhängigen Gelehrten in Europa sind heimlich verschworen
zu Gunsten des Theismus, d. h. sie unterdrücken sorgfältig jede Wahrheit,
die dem Theismus ungünstig wäre, und zwar mit der Angst und Sorgfalt,
die das schlechte Gewissen gibt. Wegen Ermangelung dieser Bestrebung,
wie auch der schuldigen Schonung jenes nichtswürdigen Treibens, und des
Respekts vor Strohköpfen, können mir vom Staat keine Ehrenbezeigungen
zu teil werden. Denn
"Sie thäten gern große Männer verehren, wenn solche nur auch zugleich
Lumpen wären."
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
"Aber die Juden sind das auserwählte Volk Gottes." --- Mag
sein; aber der Geschmack ist verschieden: mein auserwähltes Volk sind
sie nicht. Quid multa? Die Juden sind das auserwählte Volk ihres Gottes,
und er ist der auserwählte Gott seines Volkes: und das geht weiter niemanden
was an.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Lebenskraft ist eine unerklärliche und unvergängliche Naturkraft.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn es nicht eine eigentliche Naturkraft (Lebenskraft) gibt, der es wesentlich
ist, zweckmäßig zu verfahren, dann ist das ganze Leben ein falscher
Schein, eine Täuschung und an sich nicht weiter interessant
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Nur wer alt wird, erhält eine vollständige und angemessene Vorstellung
vom Leben, indem er es in seiner Ganzheit und seinem natürlichen Verlauf,
besonders aber nicht bloß, wie die Übrigen, von der Eingangs-, sondern
auch von der Ausgangsseite übersieht, wodurch er dann besonders die Nichtigkeit
desselben vollkommen erkennt; während die übrigen stets noch in dem
Wahne befangen sind, das Rechte werde noch erst kommen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Im weitern Sinne kann man auch sagen: die ersten vierzig Jahre unseres
Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu, der
uns den wahren Sinn und Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und allen
Feinheiten desselben, erst recht verstehn lehrt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Dies giebt dem Alten eine besondere Gemüthsruhe, in welcher er lächelnd
auf die Gaukeleien der Welt herabsieht. Er ist vollkommen enttäuscht
und weiß, daß das menschliche Leben, was man auch thun mag es herauszuputzen
und zu behängen, doch bald, durch allen solchen Jahrmarktsflitter, in
seiner Dürftigkeit durchscheint und, wie man es auch färbe und schmücke,
doch überall im Wesentlichen das selbe ist, ein Daseyn, dessen wahrer
Werth jedesmal nur nach der Abwesenheit der Schmerzen, nicht nach der
Abwesenheit der Genüsse, noch weniger des Prunkes, zu schätzen ist.
[...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Meisten freilich, als welche stets stumpf waren, werden im höhern
Alter mehr und mehr zu Automaten: sie denken, sagen und thun immer das
Selbe, und kein äußerer Eindruck vermag mehr etwas daran zu ändern,
oder etwas Neues aus ihnen hervorzurufen. Zu solchen Greisen zu reden,
ist wie in den Sand zu schreiben: Der Eindruck verlischt fast unmittelbar
darauf. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das Leben in den Jahren des Alters gleicht dem fünften Akt eines Trauerspiels:
man weiß, daß ein tragisches Ende nahe ist; aber man weiß noch nicht,
welches es seyn wird. Allerdings hat man, wenn man alt ist, nur noch den
Tod vor sich, aber wenn man jung ist, hat man das Leben vor sich; und
es frägt sich, welches von Beiden bedenklicher sei, und ob nicht, im
Ganzen genommen, das Leben eine Sache sei, die es besser ist hinter sich,
als vor sich zu haben ."
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
... die Genüsse sind und bleiben negativ: daß sie beglücken ist ein
Wahn, den der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. Die Schmerzen hingegen
werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maßstab des
Lebensglückes. Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit
der Langenweile; so ist das irdische Glück im wesentlichen erreicht:
denn das Übrige ist Chimäre.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ehrwürdig ist die Wahrheit; nicht was ihr entgegensteht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es ist in der Literatur nicht anders, als im Leben: Wohin auch man sich
wende, trifft man sogleich auf den inkorrigibeln Pöbel der Menschheit,
welcher überall legionenweise vorhanden ist, alles erfüllt und alles
beschmutzt, wie die Fliegen im Sommer. Daher die Unzahl schlechter Bücher,
dieses wuchernde Unkraut der Literatur, welches dem Weizen die Nahrung
entzieht, und ihn erstickt. Sie reißen nämlich Zeit, Geld und Aufmerksamkeit
des Publikums, welche von Rechts wegen den guten Büchern und ihren edlen
Zwecken gehören, an sich, während sie bloß in der Absicht, Geld einzutragen,
oder Ämter zu verschaffen, geschrieben sind. Sie sind also nicht bloß
unnütz, sondern positiv schädlich. Neun Zehntel unserer ganzen jetzigen
Literatur hat keinen anderen Zweck als dem Publiko einige Taler aus der
Tasche zu spielen: dazu haben sich Autor, Verleger und Rezensent fest
verschworen.
Ein verschmitzter, schlimmer und gewissenloser Streich ist es, den die
Brotschreiber und Vielschreiber treiben, indem sie um ein Paar Groschen
ihr schlechtes Geschreibsel liefern und den guten Geschmack der Leser
sowie die wahre Bildung des Zeitalters vernichten.
Daher ist in Hinsicht auf unsere Lektüre die Kunst, nicht zu lesen, höchst
wichtig. Sie besteht darin, dass man das, was zu jeder Zeit so eben das
größere Publikum beschäftigt oder gerade eben Lärm macht, nicht deshalb
auch in die Hand nehme. Man sollte, einfach gesagt, solche Bücher zum
Teufel schicken, deren erstes Lebensjahr zugleich ihr letztes ist.
Man bedenke alsdann, dass, wer für Narren schreibt, allezeit ein großes
Publikum findet, und wende die stets knapp gemessene Zeit ausschließlich
den Werken der großen, die übrige Menschheit turmhoch überragenden
Geister aller Zeiten und Völker zu, welche die Stimme des Ruhmes als
solche bezeichnet. Nur diese bilden und belehren wirklich.Vom Schlechten
kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen: Schlechte Bücher
sind intellektuelles Gift, sie verderben den Geist.
Weil die Leute, statt das Beste aller Zeiten, immer nur das Neueste lesen,
bleiben die jetzigen Schriftsteller im engen Kreise der zirkulierenden
Ideen, und das Zeitalter verschlammt immer tiefer in seinem eigenen Dreck.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Daß für unser Glück und unsern Genuß das Subjektive imgleich wesentlicher,
als das Objektive sei, bestätigt sich in allem: von dem an, daß Hunger
der beste Koch ist und der Greis die Göttin des Jünglings gleichgültig
ansieht, bis hinauf zum Leben des Genies und des Heiligen. Besonders überwiegt
die Gesundheit alle äußern Güter so sehr, daß wahrlich ein gesunder
Bettler glücklicher ist, als ein kranker König.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Natur steigert sich fortwährend, zunächst vom mechanischen und chemischen
Wirken des unorganischen Reiches zum Vegetabilischen und seinem dumpfen
Selbstgenuß, von da zum Thierreich, mit welchem die Intelligenz und das
Bewußtsein anbricht und nun von schwachen Anfängen stufenweise immer
höher steigt und endlich durch den letzten und größten Schritt bis
zum Menschen sich erhebt, in dessen Intellekt also die Natur den Gipfelpunkt
und das Ziel ihrer Produktionen erreicht, also das Vollendeteste und Schwierigste
liefert, was sie hervorzubringen vermag. Selbst innerhalb der menschlichen
Species aber stellt der Intellekt noch viele und merkliche Abstufungen
dar und gelangt höchst selten zur obersten, der eigentlich hohen Intelligenz.
Diese nun also ist im engem und strengem Sinne das schwierigste und höchste
Produkt der Natur, mithin das Seltenste und Werthvollste, was die Welt
aufzuweisen hat. In einer solchen Intelligenz tritt das klarste Bewußtsein
ein und stellt demgemäß die Welt sich deutlicher und vollständiger,
als irgend wo dar. Der damit Ausgestattete besitzt demnach das Edelste
und Köstlichste auf Erden und hat dem entsprechend eine Quelle von Genüssen,
gegen welche alle übrigen gering sind; so daß er von außen nichts weiter
bedarf, als nur die Muße, sich dieses Besitzes ungestört zu erfreuen
und seinen Diamanten auszuschleifen. Denn alle andern, also nicht intellektuellen
Genüsse sind niedrigerer Art: sie laufen sämtlich auf Willensbewegungen
hinaus, also auf Wünschen, Hoffen, Fürchten und Erreichen, gleichviel
auf was es gerichtet sei, wobei es nie ohne Schmerzen abgehn kann, und
zudem mit dem Erreichen, in der Regel, mehr oder weniger Enttäuschung
eintritt, statt daß bei den intellektuellen Genüssen die Wahrheit immer
klarer wird.
Im Reiche der Intelligenz waltet kein Schmerz, sondern Alles ist Erkenntniß.
Alle intellektuellen Genüsse sind nun aber Jedem nur vermittelst und
also nach Maaßgabe seiner eigenen Intelligenz zugänglich: denn "tout
l'esprit, qui est au monde, est inutile ^ celui qui n'en a point".
Ein wirklicher jenen Vorzug begleitender Nachteil aber ist, daß, in der
ganzen Natur, mit dem Grad der Intelligenz die Fähigkeit zum Schmerze
sich steigert, also ebenfalls erst hier ihre höchste Stufe erreicht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Übrigens gibt es in unserem Lebenslaufe noch etwas, welches über alles
hinausliegt. Es ist nämlich eine triviale und nur zu häufig bestätigte
Wahrheit, dass wir oft törrichter sind, als wir glauben: hingegen ist,
dass wir oft weiser sind, als wir selbst vermeinen … Es gibt etwas Weiseres
in uns, als der Kopf ist. Wir handeln nämlich, bei den großen Zügen,
den Hauptschritten unsers Lebenslaufes, nicht sowohl nach deutlicher Erkenntnis
des Rechten, als nach einem innern Impuls, man möchte sagen Instinkt,
der aus dem tiefsten Grunde unseres Wesens kommt …
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wer unter Menschen zu leben hat, darf keine Individualität verwerfen;
auch nicht die schlechteste, erbärmlichste oder lächerlichste. Er hat
sie vielmehr zu nehmen als ein Unabänderliches, welches, infolge eines
ewigen und metaphysischen Prinzips, so sein muss, wie es ist, und in den
argen Fällen soll er denken:
"Es muss auch solche Käuze geben." Hält er es anders, so tut
er Unrecht und fordert die Verstoßenen heraus, zum Kriege auf Tod und
Leben. Denn seine eigentliche Individualität, d. h. seinen moralischen
Charakter, seine Erkenntniskräfte, sein Temperament, seine Physiognomie
usw., kann keiner ändern.Verdammen wir nun sein Wesen ganz und gar, so
bleibt ihm nichts übrig, als in uns einen Todfeind zu bekämpfen: Denn
wir wollen ihm das Recht zu existieren nur unter der Bedingung zugestehen,
dass er ein Anderer werde, als er unabänderlich ist.
Darum also müssen wir, um unter Menschen leben zu können, jeden mit
seiner gegebenen Individualität bestehen und gelten lassen, keineswegs
aber auf ihre Änderung hoffen, noch sie, wie sie ist, schlechthin verdammen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der allgemeinste Überblick zeigt uns, als die beiden Feinde des menschlichen
Glückes, den Schmerz und die Langeweile. Dazu noch läßt sich bemerken,
daß, in dem Maaße, als es uns glückt, vom einen derselben uns zu entfernen,
wir dem andern uns nähern, und umgekehrt;
so daß unser Leben wirklich eine stärkere, oder schwächere Oscillation
zwischen ihnen darstellt. Dies entspringt daraus, daß beide in einem
doppelten Antagonismus zu einander stehn, einem äußern, oder objektiven,
und einem innern, oder subjektiven. Äußerlich nämlich gebiert Noth
und Entbehrung den Schmerz; hingegen Sicherheit und Überfluß die Langeweile.
Demgemäß sehn wir die niedere Volksklasse in einem beständigen Kampf
gegen die Noth, also den Schmerz; die reiche und vornehme Welt hingegen
in einem anhaltenden, oft wirklich verzweifelten Kampf gegen die Langeweile.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Demnach geschieht es nicht ohne Grund, daß man, vor allen Dingen, sich
gegenseitig nach dem Gesundheitszustande befragt und einander sich wohlzubefinden
wünscht: denn wirklich ist Dieses bei Weitem die Hauptsache zum menschlichen
Glück. Hieraus aber folgt, daß die größte aller Thorheiten ist, seine
Gesundheit aufzuopfern, für was es auch sei, für Erwerb, für Beförderung,
für Gelehrsamkeit, für Ruhm, geschweige für Wollust und flüchtige
Genüsse: vielmehr soll man ihr Alles nachsetzen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Unsern Wünschen ein Ziel stecken, unsere Begierden im Zaume halten, unsern
Zorn bändigen, stets eingedenk, daß dem einzelnen nur ein unendlich
kleiner Teil alles Wünschenswerten erreichbar ist, hingegen viele Übel
jeden treffen müssen, also, mit einem Worte: Sich enthalten und sich
zurückhalten - ist eine Regel, ohne deren Beobachtung weder Reichtum
noch Macht verhindern können, daß wir uns armselig fühlen. Dahin zielt
Horaz: Stets überlege dir und suche den Rat der Weisen, wie du dein Leben
in Ruhe zubringen kannst, damit dich nicht ständig rastlose Habsucht
plagt und foltert, noch die Angst, noch die Hoffnung auf Besitz unwichtiger
Dinge.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Für sein Tun und Lassen darf man keinen andern zum Muster nehmen; weil
Lage, Umstände, Verhältnisse nie die gleichen sind, und weil die Verschiedenheit
des Charakters auch der Handlung einen verschiedenen Anstrich gibt, daher:
Wenn zwei das gleiche tuen, ist es doch nicht das gleiche. Man muß nach
reiflicher Überlegung und scharfem Nachdenken, seinem eigenen Charakter
gemäß handeln. Also auch im Praktischen ist Originalität unerläßlich:
sonst paßt was man tut nicht zu dem, was man ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wie Papiergeld statt des Silbers, so kursieren in der Welt statt der wahren
Achtung und der wahren Freundschaft die äußerlichen Demonstrationen
und möglichst natürlich mimisierten Gebärden derselben. Indessen läßt
sich andererseits auch fragen, ob es denn Leute gebe, welche jene wirklich
verdienten. Jedenfalls gebe ich mehr auf das Schwanzwedeln eines ehrlichen
Hundes, als auf hundert solche Demonstrationen und Gebärden.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wer selbst ein Ganzes ist, will nicht als Glied sich fügen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn in schweren, grauenhaften Träumen die Beängstigung den höchsten
Grad erreicht; so bringt eben sie selbst uns zum Erwachen, durch welches
alle jene Ungeheuer der Nacht verschwinden.
Dasselbe geschieht im Traume des Lebens, wenn der höchste Grad der Beängstigung
uns nötigt, ihn abzubrechen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Da müssen wir denn hören, Selbstmord sei die größte Feigheit, sei
nur im Wahnsinn möglich und dergleichen Abgeschmacktheiten mehr oder
auch die ganz sinnlose Frage, der Selbstmord sei Unrecht, während doch
offenbar jeder auf nichts in der Welt ein so unbestreitbares Recht hat
wie auf seine eigene Person und Leben.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
....
Dies Alles beruht darauf, daß jede Wirklichkeit, d. h. jede erfüllte
Gegenwart, aus zwei Hälften besteht, dem Subjekt und dem Objekt, wiewohl
in so nothwendiger und enger Verbindung, wie Oxygen und Hydrogen im Wasser.
Bei völlig gleicher objektiver Hälfte, aber verschiedener subjektiver,
ist daher, so gut wie im umgekehrten Fall, die gegenwärtige Wirklichkeit
eine ganz andere: die schönste und beste objektive Hälfte, bei stumpfer,
schlechter subjektiver, giebt doch nur eine schlechte Wirklichkeit und
Gegenwart; gleich einer schönen Gegend in schlechtem Wetter, oder im
Reflex einer schlechten Camera obscura. Oder planer zu reden: Jeder steckt
in seinem Bewußtsein, wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in
demselben: daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
-Schopenhauers Gedicht an Kant-
"Ich sah Dir nach in Deinen blauen Himmel,
Im blauen Himmel dort verschwand Dein Flug.
Ich blieb zurück in dem Gewimmel,
Zum Troste mir Dein Wort, zum Trost Dein Buch.-
Da such' ich mir die Oede zu beleben
Durch Deiner Worte geisterfüllten Klang:
Sie sind mir alle fremd, die mich umgeben,
Die Welt ist öde und das Leben lang."
Denn Kants Lehre bringt in jedem Kopf, der sie gefaßt hat, eine fundamentale
Veränderung hervor, die so groß ist, daß sie für die geistige Widergeburt
gelten kann. […] Wer hingegen der Kantischen Philosophie sich nicht
bemeistert hat, ist, was sonst er auch getrieben haben mag, gleichsam
im Stande der Unschuld, nämlich in demjenigen natürlichen und kindlichen
Realismus befangen geblieben, in welchem wir Alle geboren sind und der
zu allem Möglichen, nur nicht zur Philosophie befähigt. […] Die Kantische
Lehre also wird man vergeblich irgend wo anders suchen, als in Kants eigenen
Werken: diese aber sind durchweg belehrend, selbst da wo er irrt, selbst
da wo er fehlt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Gesetzt es würde uns einmal ein deutlicher Blick in das Reich der Möglichkeit
und über alle Ketten der Ursachen und Wirkungen gestattet, es träte
der Erdgeist hervor und zeigte uns in einem Bilde die vortrefflichsten
Individuen, Welterleuchter und Helden, die der Zufall vor der Zeit ihrer
Wirksamkeit zerstört hat, - dann die großen Begebenheiten, welche die
Weltgeschichte geändert und Perioden der höchsten Kultur und Aufklärung
herbeigeführt haben würden, die aber das blindeste Ungefähr, der unbedeutendste
Zufall, bei ihrer Entstehung hemmte, endlich die herrlichsten Kräfte
großer Individuen, welche ganze Weltalter befruchtet haben würden, die
sie aber, durch Irrtum oder Leidenschaft verleitet, oder durch Nothwendigkeit
gezwungen, an unwürdigen und unfruchbaren Gegenständen nutzlos verschwendeten,
oder gar spielend vergeudeten: - sähen wir das Alles, wir würden schaudern
und wehklagen über die verlorenen Schätze ganzer Weltalter.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ohne tägliche gehörige Bewegung kann man nicht gesund bleiben: alle
Lebensprozesse erfordern, um gehörig vollzogen zu werden, Bewegung sowohl
der Teile, darin sie vorgehen, als des Ganzen.
Das Leben besteht in der Bewegung und hat sein Wesen in ihr. Im ganzen
Innern des Organismus herrscht unaufhörliche, rasche Bewegung: das Herz,
in seiner komplizierten doppelten Systole und Diastole, schlägt heftig
und unermütlich; mit 28 seiner Schläge hat es die gesamte Blutmasse
durch den ganzen großen und kleinen Kreislauf hindurch getrieben; die
Lunge pumpt ohne Unterlaß wie eine Dampfmaschine; die Gedärme winden
sich stets im motus peristalticus; alle Drüsen saugen und secerniren
beständig, selbst das Gehirn hat eine doppelte Bewegung mit jedem Pulsschlag
und jedem Atemzug.
Wenn nun hierbei, wie es bei der ganz und gar sitzenden Lebensweise unzähliger
Menschen der Fall ist, die äußere Bewegung so gut wie ganz fehlt, so
entsteht ein schreiendes und verderbliches Mißverhältnis zwischen der
äußeren Ruhe und dem inneren Tumult.Sogar die Bäume bedürfen, um zu
gedeihen, der Bewegung durch den Wind.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn in schweren, grauenhaften Träumen die Beängstigung den höchsten
Grad erreicht; so bringt eben sie selbst uns zum Erwachen, durch welches
alle jene Ungeheuer der Nacht verschwinden.
Dasselbe geschieht im Traume des Lebens, wenn der höchste Grad der Beängstigung
uns nötigt, ihn abzubrechen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen,
welche nur dadurch bestehen können, dass eines das andere verzehrt, wo
daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine
Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, ... dieser Welt hat man
das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den
möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wer die Spieler, die auf der Weltbühne agieren, mit ihren Leiden betrachtet,
wird nicht disponiert sein, Hallelujahs anzustimmen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Optimismus ist in den Religionen wie in der Philosophie ein Grundirrtum,
der aller Wahrheit den Weg vertritt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Optimismus ist im Grunde das unberechtigte Selbstlob des eigentlichen
Urhebers der Welt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das Bewußtseyn ist die bloße Oberfläche unseres Geistes, von welchem,
wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schaale kennen.
Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen,
kleinen, größern und großen Widerwärtigkeiten, mit seinen getäuschten
Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so
deutlich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, daß es
schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden
lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich
zu seyn.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Auch wird unsere Scheu vor jenem kolossalen Gedanken sich mindern, wenn
wir uns erinnern, daß das Subjekt des großen Lebenstraumes in gewissem
Sinne nur eines ist, der Wille zum Leben, und dass alle Vielheit der Erscheinungen
durch Raum und Zeit bedingt ist. Es ist ein großer Traum, den jenes eine
Wesen träumt: aber so, daß alle seine Personen ihn mitträumen. Daher
greift alles ineinander und passt zueinander. Geht man nun darauf ein,
nimmt man jene doppelte Kette aller Begebenheiten an, vermöge deren jedes
Wesen einerseits seiner selbst wegen daist, seiner Natur gemäß mit Notwendigkeit
handelt und wirkt und seinen eigenen Gang geht, andererseits aber auch
für die Auffassung eines fremden Wesens und die Einwirkung auf dasselbe
so ganz bestimmt und geeignet ist wie die Bilder in dessen Träumen -
so wird man dieses auf die ganze Natur, also auch auf Tiere und erkenntnislose
Wesen auszudehnen haben.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn man hingegen sieht, wie fast Alles, wonach Menschen, ihr Leben lang,
mit rastloser Anstrengung und unter tausend Gefahren und Mühsäligkeiten,
unermüdlich streben, zum letzten Zwecke hat, sich dadurch in der Meinung
Anderer zu erhöhen, indem nämlich nicht nur Aemter, Titel und Orden,
sondern auch Reichthum und selbst Wissenschaft und Kunst, im Grunde und
hauptsächlich deshalb angestrebt werden, und der größere Respekt Anderer
das letzte Ziel ist, darauf man hinarbeitet; so beweist Dies leider nur
die Größe der menschlichen Thorheit.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn man nun endlich noch Jedem die entsetzlichen Schmerzen und Quaalen,
denen sein Leben beständig offen steht, vor die Augen bringen wollte;
so würde ihn Grausen ergreifen: und wenn man den verstocktesten Optimisten
durch die Krankenhospitäler, Lazarethe und chirurgische Marterkammern,
durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder
und Gerichtsstädten führen, dann alle die finstersten Behausungen des
Elends, wo es sich vor den Blicken kalter Neugier verkriecht, ihm öffnet
und zum Schluß ihn in den Hungerthurm des Ugolino blicken lassen wollte;
so würde sicherlich auch er zuletzt einsehen, welcher Art dieser meilleur
des mondes possibles ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
"In der Sphäre des Denkens bleiben Absurdität und Perversität
die Herren der Welt, und ihre Herrschaft ist nur für kurze Zeit ausgesetzt."
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Sogar an Abrichtungsfähigkeit übertrifft der Mensch alle Tiere. Die
Moslem sind abgerichtet, fünfmal des Tages, das Gesicht gegen Mekka gerichtet,
zu beten: thun es unverbrüchlich. Christen sind abgerichtet, bei gewissen
Gelegenheiten ein Kreuz zu schlagen, sich zu verneigen u. dgl.; wie denn
überhaupt die Religion das rechte Meisterstück der Abrichtung ist, nämlich
die Abrichtung der Denkfähigkeit; daher man bekanntlich nicht früh genug
damit anfangen kann. Es gibt keine Absurdität, die so handgreiflich wäre,
daß man sie nicht allen Menschen fest in den Kopf setzen könnte, wenn
man nur schon vor ihrem sechsten Jahre anfinge, sie ihnen einzuprägen,
indem man unablässig und mit feierlichstem Ernst sie ihnen vorsagte.
Denn, wie die Abrichtung der Tiere, so gelingt auch die des Menschen nur
in früher Jugend vollkommen.
Edelleute sind abgerichtet, kein anderes, als ihr Ehrenwort, heilig zu
halten, an den fratzenhaften Kodex der ritterlichen Ehre, ganz ernsthaft,
steif und fest zu glauben, ihn erforderlichenfalls mit ihrem Tode zu besiegeln
und den König wirklich als ein Wesen höherer Art anzusehn. - Unsere
Höflichkeitsbezeugungen und Komplimente, besonders die respektvollen
Attentions gegen die Damen, beruhen auf Abrichtung: unsere Achtung vor
Geburt, Stand und Titel desgleichen. Ebenso unser abgemessen stufenweises
Uebelnehmen gegen uns gerichteter Aeußerungen: Engländer sind abgerichtet,
den Vorwurf, daß sie keine gentlemen seien, noch mehr aber den der Lüge,
Franzosen den der Feigheit (lâche), Deutsche den der Dummheit für ein
todeswürdiges Verbrechen zu halten, u. s. w. - Viele Leute sind zu einer
unverbrüchlichen Ehrlichkeit in einer Art abgerichtet, während sie in
allen übrigen wenig davon aufzuweisen haben. So stiehlt mancher kein
Geld, aber alles unmittelbar Genießbare. Mancher Kaufmann betrügt, ohne
Skrupel; aber stehlen würde er schlechterdings nicht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
.....
Es dürfen meine Zeitgenossen nicht glauben, daß ich jetzt für sie arbeite:
wir haben nichts miteinander zu thun; wir kennen einander nicht; wir gehen
fremd einander vorüber. - Ich schreibe für die einzelnen, mir gleichen,
die hie und da im Laufe der Zeit leben und denken, und durch die zurückgelassenen
Werke miteinander kommunizieren, und dadurch einer der Trost des andern
sind.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der wirksamste Trost, bei jedem Unglück, in jedem Leiden, ist, hinzusehen
auf die andern, die noch unglücklicher sind, als wir: und dies kann jeder.
Was aber ergibt sich daraus für das Ganze ? ---
Wir gleichen den Lämmern, die auf der Wiese spielen, während der Metzger
schon eines und das andere von ihnen mit den Augen auswählt: denn wir
wissen nicht, in unsern guten Tagen, welches Unheil eben jetzt das Schicksal
uns bereitet, --- Krankheit, Verfolgung, Verarmung, Verstümmelung, Erblindung,
Wahnsinn, Tod u.s.w. ---
Die Geschichte zeigt uns das Leben der Völker, und findet nichts, als
Kriege und Empörungen zu erzählen: die friedlichen Jahre erscheinen
nur als kurze Pausen, Zwischenakte, dann und wann einmal. Und ebenso ist
das Leben des Einzelnen ein fortwährender Kampf, nicht etwan bloß metaphorisch
mit der Not, oder mit der Langeweile;
sondern auch wirklich mit andern. Er findet überall den Widersacher,
lebt in beständigem Kampfe und stirbt, die Waffen in der Hand. ---
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Unbewußt treffend ist der, in allen europäischen Sprachen übliche Gebrauch
des Wortes Person zur Bezeichnung des menschlichen Individuums: denn persona
bedeutet eigentlich eine Schauspielermaske, und allerdings zeigt keiner
sich wie er ist, sondern jeder trägt eine Maske und spielt eine Rolle.
--- Ueberhaupt ist das ganze gesellschaftliche Leben ein fortwährendes
Komödienspielen. Dies macht es gehaltvollen Leuten insipid; während
Plattköpfe sich so recht darin gefallen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Geduld, patientia, besonders aber das spanische sufrimiento, heißt so
von leiden, ist mithin Passivität, das Gegenteil von Aktivität des Geistes,
mit der sie, wo diese groß ist, sich schwer vereinigen läßt. Sie ist
die angeborene Tugend der Phlegmatici, wie auch der Geistesträgen und
Geistesarmen, und der Weiber. Daß sie dennoch so sehr nützlich und nötig
ist, deutet auf eine traurige Beschaffenheit der Welt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Was die Menschen hartherzig macht, ist dieses, daß jeder an seinen eigenen
Plagen genug zu tragen hat, oder doch es meint. Daher macht ein ungewohnter
glücklicher Zustand die meisten teilnehmend und wohltätig. Aber ein
anhaltender, stets dagewesener, wirkt oft umgekehrt, indem er sie dem
Leiden so sehr entfremdet, daß sie nicht mehr daran teilnehmen können:
daher kommt es, daß bisweilen die Armen sich hilfreicher erweisen, als
die Reichen. Was hingegen die Menschen so sehr neugierig macht, wie wir
an ihrem Gucken und Spionieren nach dem Treiben anderer sehen, ist der
dem Leiden entgegengesetzte Pol des Lebens, die Langeweile; --- wiewohl
auch oft der Neid dabei mitwirkt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Freude, das Allgemeine und Wesentliche der Welt, von irgend einer
Seite, unmittelbar und anschaulich, richtig und scharf aufzufassen, ist
so groß; daß der, dem sie wird, alle andern Zwecke vergißt, alles stehen
und liegen läßt, um durch Aufzeichnung des Resultats solcher Erkenntnis
in bloßen abstrakten Begriffen, wenigstens eine trockne farblose Mumie
von ihr, oder auch einen groben Abdruck derselben aufzubewahren, zunächst
für sich und nach Gelegenheit für andre, falls welche dergleichen zu
schätzen wissen sollten.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wer für sein Vaterland in den Tod geht, hat die Täuschung überwunden,
die das Dasein auf die eigene Person beschränkt: er dehnt es aus auf
den Menschenhaufen seines Vaterlandes (und dadurch auf die Spezies), in
welchem (als der Spezies) er fortlebt. ---
Dasselbe geschieht eigentlich bei jedem Opfer, das man andern bringt:
man erweitert sein Dasein auf die Gattung, --- wenn auch vorderhand nur
auf einen Teil derselben, den man eben vor Augen hat. Die Verneinung des
Willens zum Leben allererst tritt aus der Gattung heraus; daher die Lehrer
der Askese, nachdem man diese übt, die guten Werke als überflüssig
und gleichgültig betrachten, --- noch mehr die Tempelzeremonien.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wie der schönste Menschenkörper in seinem Innern Kot und mephitischen
Dunst verschließt, so hat der edelste Charakter einzelne böse Züge
und das größte Genie Spuren von Beschränktheit und Wahnsinn.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Bücher werden geschrieben, bald über diesen, bald über jenen großen
Geist der Vorzeit, und das Publikum liest sie, nicht aber jenen selbst;
weil es nur frisch gedrucktes lesen will, und weil similis simili gaudet,
und ihm das seichte, fade Geträtsche eines heutigen Flachkopfs homogener
und gemütlicher ist, als die Gedanken des großen Geistes. Ich aber danke
dem Schicksal, daß es mich schon in der Jugend auf ein schönes Epigramm
von A. W. Schlegel hingeführt hat, welches seitdem mein Leitstern wurde:
"Leset fleißig die Alten, die wahren eigentlich Alten:
Was die Neuen davon sagen, bedeutet nicht viel."
O, wie ist doch ein Alltagskopf dem andern so ähnlich! Wie sind sie doch
alle in einer Form gegossen! Wie fällt doch jedem von ihnen dasselbe
bei der gleichen Gelegenheit ein, und nichts anderes! Dazu nun noch ihre
niedrigen persönlichen Absichten. Und das nichtswürdige Geträtsche
solcher Wichte liest ein stupides Publikum, wenn es nur heute gedruckt
ist, und läßt die großen Geister auf den Bücherbrettern ruhen.
Unglaublich ist doch die Thorheit und Verkehrtheit des Publikums, welches
die edelsten, seltensten Geister in jeder Art, aus allen Zeiten und Ländern,
ungelesen läßt, um die täglich erscheinenden Schreibereien der Alltagsköpfe,
wie sie jedes Jahr in zahlloser Menge, den Fliegen gleich, ausbrütet,
zu lesen, --- bloß weil sie heute gedruckt und noch naß von der Presse
sind. Vielmehr sollten diese Produktionen schon am Tage ihrer Geburt so
verlassen und verachtet dastehn, wie sie es nach wenigen Jahren und dann
auf immer sein werden, ein bloßer Stoff zum Lachen über vergangene Zeiten
und deren Flausen. ---
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Unwissenheit degradiert den Menschen erst dann, wann sie in Gesellschaft
des Reichtums angetroffen wird. Den Armen bändigt seine Armut und Not;
seine Leistungen ersetzen bei ihm das Wissen und beschäftigen seine Gedanken.
Hingegen Reiche, welche unwissend sind, leben bloß ihren Lüsten und
gleichen dem Vieh; wie man dies täglich sehen kann. Hiezu kommt nun noch
der Vorwurf, daß man Reichtum und Muße nicht benutzt habe zu dem, was
ihnen den allergrößten Wert verleiht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Offenbarung.
Die ephemeren Geschlechter der Menschen entstehn und vergehn in rascher
Succession, während die Individuen unter Angst, Not und Schmerz dem Tode
in die Arme tanzen. Dabei fragen sie unermüdlich, was es mit ihnen sei,
und was die ganze tragikomische Posse zu bedeuten habe, und rufen den
Himmel an, um Antwort. Aber der Himmel bleibt stumm. Hingegen kommen Pfaffen
mit Offenbarungen. Der aber ist nur ein großes Kind, welcher im Ernst
denken kann, daß jemals Wesen, die keine Menschen waren, unserm Geschlecht
Aufschlüsse über sein und der Welt Dasein und Zweck gegeben hätten.
Es gibt keine andere Offenbarung, als die Gedanken der Weisen; wenn auch
diese, dem Lose alles Menschlichen gemäß, dem Irrtum unterworfen, auch
oft in wunderliche Allegorien und Mythen eingekleidet sind, wo sie dann
Religionen heißen. Insofern ist es also einerlei, ob einer im Verlaß
auf eigene, oder auf fremde Gedanken, lebt und stirbt: denn immer sind
es nur menschliche Gedanken, denen er vertraut, und menschliches Bedünken.
Jedoch haben die Menschen, in der Regel, die Schwäche, lieber andern,
welche übernatürliche Quellen vorgeben, als ihrem eigenen Kopfe zu trauen.
Fassen wir nun aber die so überaus große intellektuelle Ungleichheit
zwischen Mensch und Mensch ins Auge; so können allenfalls wohl die Gedanken
des einen dem andern gewissermaßen als Offenbarungen gelten. ---
Hingegen das Grundgeheimnis und die Urlist aller Pfaffen, auf der ganzen
Erde und zu allen Zeiten, mögen sie brahmanische, oder mohammedanische,
buddhaistische, oder christliche sein, ist folgendes. Sie haben die große
Stärke und Unvertilgbarkeit des metaphysischen Bedürfnisses des Menschen
richtig erkannt und wohl gefaßt: nun geben sie vor, die Befriedigung
desselben zu besitzen, indem das Wort des großen Rätsels ihnen, auf
außerordentlichem Wege, direkt zugekommen wäre. Dies nun den Menschen
einmal eingeredet, können sie solche leiten und beherrschen, nach Herzenslust.
Von den Regenten gehen daher die klügeren eine Allianz mit ihnen ein:
die andern werden selbst von ihnen beherrscht. Kommt aber einmal, als
die seltenste aller Ausnahmen, ein Philosoph auf den Thron, so entsteht
die ungelegenste Störung der ganzen Komödie.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Ovidische Vers
Pronaque cum spectent animalia cetera terram, --- gilt zwar im eigentlichen
und physischen Sinne nur von den Tieren; allein im figürlichen und geistigen
Sinne leider auch von den allermeisten Menschen. Ihr Sinnen, Denken und
Trachten geht gänzlich auf im Streben nach physischem Genuß und Wohlsein,
oder doch im persönlichen Interesse, dessen Sphäre zwar oft vielerei
begreift, welches alles jedoch zuletzt nur durch die Beziehung auf jenes
erstere seine Wichtigkeit erhält: darüber hinaus geht es nicht. Hievon
zeugt nicht allein ihre Lebensweise und ihr Gespräch, sondern sogar schon
ihr bloßer Anblick, ihre Physiognomien und deren Ausdruck, ihr Gang,
ihre Gestikulation: Alles an ihnen ruft:
in terram prona! --- Nicht von ihnen demnach, sondern allein von den edleren
und höher begabten Naturen, den denkenden und wirklich um sich schauenden
Menschen, die nur als Ausnahmen unter dem Geschlechte vorkommen, gelten
die darauffolgenden Verse:
Os homini sublime dedit, coelumque tueri Jussit, et erectos ad sidera
tollere vultus.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Warum ist "gemein" ein Ausdruck der Verachtung? "ungemein,
außerordentlich, ausgezeichnet" des Beifalls? Warum ist alles gemeine
verächtlich?
Gemein bedeutet ursprünglich was Allen, d. h. der ganzen Spezies, eigen
und gemeinsam, also mit der Spezies schon gesetzt ist. Demnach ist wer
weiter keine Eigenschaften, als die der Menschenspezies überhaupt, hat,
ein gemeiner Mensch. "Gewöhnlicher Mensch" ist ein viel gelinderer
und mehr auf das Intellektuelle gerichteter Ausdruck, während jener erstere
mehr auf das Moralische geht. Welchen Wert kann denn auch wohl ein Wesen
haben, welches weiter nichts ist, als eben Millionen seinesgleichen? Millionen?
vielmehr eine Unendlichkeit, eine endlose Zahl von Wesen, welche die Natur,
aus unerschöpflicher Quelle, unaufhörlich hervorsprudelt, in secula
seculorum, so freigebig damit, wie der Schmied mit den umhersprühenden
Eisenschlacken. Sogar wird es fühlbar, daß, gerechterweise, ein Wesen,
welches keine andern Eigenschaften, als eben nur die der Spezies hat,
auch auf kein anderes Dasein Anspruch machen darf, als auf das in der
Spezies und durch dieselbe. Ich habe mehrmals (z.B. Grundpr. d. Ethik,
S. 48; Bd.7, S. 63 dieser Gesamtausgabe; "Welt a. W. u. V."
Bd. 1, S. 338; Bd. 3, S. 155 dieser Gesamtausgabe) erörtert, daß, während
die Tiere nur Gattungscharakter haben, dem Menschen allein der eigentliche
Individualcharakter zukommt. Jedoch ist in den meisten nur wenig wirklich
Individuelles: sie lassen sich fast gänzlich nach Klassen sortieren.
Ce sont des espéces. Ihr Wollen und Denken, wie ihre Physiognomien, ist
das der ganzen Spezies, allenfalls der Klasse von Menschen, der sie angehören,
und ist eben darum trivial, alltäglich, gemein, tausendmal vorhanden.
Auch läßt meistens ihr Reden und Thun sich ziemlich genau vorhersagen.
Sie haben kein eigentümliches Gepräge: sie sind Fabrikware. Sollte denn
nicht, wie ihr Wesen, so auch ihr Dasein in dem der Spezies aufgehn? Der
Fluch der Gemeinheit stellt den Menschen dem Tiere darin nahe, daß er
ihm Wesen und Dasein nur in der Spezies zugesteht. Von selbst aber versteht
sich, daß jedes Hohe, Große, Edele, seiner Natur zufolge, isoliert dastehn
wird in einer Welt, wo man, das Niedrige und Verwerfliche zu bezeichnen,
keinen bessern Ausdruck finden konnte, als den, der das in der Regel Vorhandene
besagt: "gemein".
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Bonaparte ist wohl eigentlich nicht schlechter, als viele Menschen, um
nicht zu sagen, als die meisten. Er hat eben den ganz gewöhnlichen Egoismus,
sein Wohl auf Kosten anderer zu suchen. Was ihn auszeichnet, ist bloß
die größere Kraft, diesem Willen zu genügen, größerer Verstand, Vernunft,
Mut, wozu der Zufall ihm noch einen günstigen Spielraum schenkte. Durch
alles dies that er für seinen Egoismus, was tausend andre für den ihrigen
wohl möchten, aber nicht können. Jeder schwache Bube, der durch kleine
Schlechtigkeiten einen geringen Vorteil zum Nachteil andrer, wenn auch
dieser Nachteil ebenso gering ist, sich verschafft, ist ebenso schlecht,
als Bonaparte.
Die, welche eine Vergeltung nach dem Tode wähnen, würden verlangen,
daß Bonaparte durch unsägliche Qualen alle unzählbare Leiden büßte,
die er verursacht hat. Aber er ist nicht strafbarer, als alle die, welche
denselben Willen haben, nur nicht mit derselben Kraft. Dadurch, daß ihm
diese seltne Kraft beigegeben ist, hat er die ganze Bosheit des menschlichen
Willens offenbart: und die Leiden seines Zeitalters, als die notwendige
andre Seite davon, offenbaren den Jammer, der mit dem bösen Wille, dessen
Erscheinung im ganzen diese Welt ist, unzertrennlich verknüpft ist. Eben
dieses aber, daß erkannt werde, mit welchem namenlosen Jammer der Wille
zum Leben verknüpft und eigentlich eins ist, ist der Zweck der Welt.
Bonapartes Erscheinung trägt also viel zu diesem Zweck bei. Daß die
Welt ein fades Schlaraffenland sei, ist nicht ihr Zweck; sondern daß
sie ein Trauerspiel sei, in welchem der Wille zum Leben sich erkenne und
sich wende. Bonaparte ist nur ein gewaltiger Spiegel des menschlichen
Willens zum Leben.
Der Unterschied zwischen dem, der das Leiden verursacht, und dem, der
es leidet, ist nur in der Erscheinung. Es ist das alles ein Wille zum
Leben, der mit großen Leiden eins ist, durch deren Erkenntnis er sich
wenden und enden kann.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Der Wille hingegen wird von allem diesem Werden, Wechsel und Wandel
nicht mitgetroffen, sondern ist, vom Anfang bis zum Ende, unveränderlich
der selbe. Das Wollen braucht nicht, wie das Erkennen, gelernt zu werden,
sondern geht sogleich vollkommen von Statten. Das Neugeborene bewegt sich
ungestüm, tobt und schreit: es will auf das heftigste; obschon es noch
nicht weiß, was es will. Denn das Medium der Motive, der Intellekt, ist
noch ganz unentwickelt: der Wille ist über die Außenwelt, wo seine Gegenstände
liegen, im Dunkeln, und tobt jetzt wie ein Gefangener gegen die Wände
und Gitter seines Kerkers. Doch allmälig wird es Licht: alsbald geben
die Grundzüge des allgemeinen menschlichen Wollens und zugleich die hier
vorhandene individuelle Modifikation derselben sich kund. Der schon hervortretende
Charakter zeigt sich zwar erst in schwachen und schwankenden Zügen, wegen
der mangelhaften Dienstleistung des Intellekts, der ihm die Motive vorzuhalten
hat: aber für den aufmerksamen Beobachter kündigt er bald seine vollständige
Gegenwart an, und in Kurzem wird sie unverkennbar. Die Charakterzüge
treten hervor, welche auf das ganze Leben bleibend sind: die Hauptrichtungen
des Willens, die leicht erregbaren Affekte, die vorherrschende Leidenschaft,
sprechen sich aus. Daher verhalten die Vorfälle in der Schule sich zu
denen des künftigen Lebenslaufes meistens wie das stumme Vorspiel, welches
dem im Hamlet bei Hofe aufzuführenden Drama vorhergeht und dessen Inhalt
pantomimisch verkündet, zu diesem selbst. Keineswegs aber lassen sich
eben so aus den im Knaben sich zeigenden intellektuellen Fähigkeiten
die künftigen prognosticiren: vielmehr werden die ingenia praecocia,
die Wunderkinder, in der Regel Flachköpfe; das Genie hingegen ist in
der Kindheit oft von langsamen Begriffen und faßt schwer, eben weil es
tief faßt. Diesem entspricht es, daß Jeder lachend und ohne Rückhalt
die Albernheiten und Dummheiten seiner Kindheit erzählt, z. B. Goethe,
wie er alles Kochgeschirr zum Fenster hinausgeworfen (Dichtung und Wahrheit,
Bd. 1, S. 7): denn man weiß, daß alles Dieses nur das Veränderliche
betrifft. Hingegen die schlechten Züge, die boshaften und hinterlistigen
Streiche seiner Jugend wird ein kluger Mann nicht zum Besten geben: denn
er fühlt, daß sie auch von seinem gegenwärtigen Charakter noch Zeugniß
ablegen. Man hat mir erzählt, daß der Kranioskop und Menschenforscher
Gall, wann er mit einem ihm noch unbekannten Mann in Verbindung zu treten
hatte, diesen auf seine Jugendjahre und Jugendstreiche zu sprechen brachte,
um, wo möglich, daraus die Züge seines Charakters ihm abzulauschen;
weil dieser auch jetzt noch derselbe seyn mußte. Eben hierauf beruht
es, daß, während wir auf die Thorheiten und den Unverstand unserer Jugendjahre
gleichgültig, ja mit lächelndem Wohlgefallen zurücksehen, die schlechten
Charakterzüge eben jener Zeit, die damals begangenen Bosheiten und Frevel,
selbst im späten Alter als unauslöschliche Vorwürfe dastehen und unser
Gewissen beängstigen. - Wie nun also der Charakter sich fertig einstellt,
so bleibt er auch bis ins späte Alter unverändert. Der Angriff des Alters,
welcher die intellektuellen Kräfte allmälig verzehrt, läßt die moralischen
Eigenschaften unberührt. Die Güte des Herzens macht den Greis noch verehrt
und geliebt, wann sein Kopf schon die Schwächen zeigt, die ihn dem Kindesalter
wieder zu nähern anfangen. Sanftmuth, Geduld, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit,
Uneigennützigkeit, Menschenfreundlichkeit u. s. w. erhalten sich durch
das ganze Leben und gehen nicht durch Altersschwäche verloren: in jedem
hellen Augenblick des abgelebten Greises treten sie unvermindert hervor,
wie die Sonne aus Winterwolken. Und andererseits bleibt Bosheit, Tücke,
Habsucht, Hartherzigkeit, Falschheit, Egoismus und Schlechtigkeit jeder
Art auch bis ins späteste Alter unvermindert. Wir würden Dem nicht glauben,
sondern ihn auslachen, der uns sagte: "In frühern Jahren war ich
ein boshafter Schurke, jetzt aber bin ich ein redlicher und edelmüthiger
Mann." [...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Rationalismus.
Der Mittelpunkt und das Herz des Christentums ist die Lehre vom Sündenfall,
von der Erbsünde, von der Heillosigkeit unsers natürlichen Zustandes
und der Verderbtheit des natürlichen Menschen, verbunden mit der Vertretung
und Versöhnung durch den Erlöser, deren man teilhaft wird durch den
Glauben an ihn. Dadurch nun aber zeigt dasselbe sich als Pessimismus,
ist also dem Optimismus des Judentums, wie auch des echten Kindes desselben,
des Islams, gerade entgegengesetzt, hingegen dem Brahmanismus und Buddhaismus
verwandt. --- Dadurch, daß im Adam alle gesündigt haben und verdammt
sind, im Heiland hingegen alle erlöst werden, ist auch ausgedrückt,
daß das eigentliche Wesen und die wahre Wurzel des Menschen nicht im
Individuo liegt, sondern in der Spezies, welche die (platonische) Idee
des Menschen ist, deren auseinandergezogene Erscheinung in der Zeit die
Individuen sind. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Bisher haben die Philosophen sich viel Mühe gegeben, die Freiheit des
Willens zu lehren: ich aber werde die Allmacht des Willens lehren.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Was die alte Zeit hauptsächlich vor der neuen voraus hatte, war vielleicht
dieses, daß in der alten Zeit (Bonapartes Ausdruck zu gebrauchen) les
paroles aux choses gingen, in der neuen nicht. Ich meine dies: in der
alten Zeit war der Charakter des öffentlichen Lebens, des Staats und
der Religion, wie des Privatlebens entschiedene Bejahung des Willens zum
Leben: in der neuen Zeit ist er Verneinung jenes Willens, da diese der
Charakter des Christentums ist: aber nun wird teils jener Verneinung selbst
öffentlich abgedungen, weil sie zu sehr mit dem Charakter der Menschheit
streitet; teils wird heimlich bejaht, was öffentlich verneint wird: daher
ist Halbheit und Falschheit überall im Spiel: daher steht die neue Zeit
so kleinlich hinter der alten.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Natur ist aristokratischer als alles, was man auf Erden kennt: denn
jeder Unterschied, den Rang oder Reichtum in Europa, oder die Kasten in
Indien zwischen Menschen festsetzen, ist klein im Vergleich des Abstandes,
den in moralischer und intellektueller Hinsicht die Natur unwiderruflich
eingesetzt hat, und eben wie in andern Aristokratien, so auch in ihrer,
kommen zehntausend Plebejer auf einen Edlen, und Millionen auf einen Fürsten,
die große Menge ist Pack, plebs, mob, rabble, la canaille.
Daher aber, beiläufig gesagt, sollen auch ihre Patrizier und Edele, so
wenig als die der Staaten, sich unter das Pack mischen, sondern je höher
sie stehn, desto abgesonderter und unzugänglich sein.
Sogar könnte man jene erwähnten, durch menschliche Einrichtungen herbeigeführten
Rangunterschiede gewissermaßen als eine Parodie oder falsche Stellvertretung
dieser natürlichen betrachten; sofern nämlich die äußern Zeichen der
ersteren, wie die Ehrfurchtsbezeigungen von der einen, und die Aeußerungen
der Ueberlegenheit von der andern Seite, eigentlich nur in Hinsicht auf
die natürliche Aristokratie passend und ernstlich gemeint sein können
(ja nur durch die Anerkennung derselben entstanden sein müssen, da sie
alle etwas ganz anderes anzudeuten scheinen als eine bloße Ueberlegenheit
an Macht, für deren Anerkennung sie offenbar nicht erfunden sind.), während
sie bei der menschlichen nur zum Schein gezeigt werden: so daß diese
sich zu jener verhält, wie Flittergold zum echten, oder ein Theaterkönig
zu einem wirklichen.
Uebrigens aber findet unter den Menschen jeder Rangesunterschied der willkürlichen
Art willige Anerkennung, nur allein der natürliche nicht: Jeder ist bereit,
den andern für vornehmer oder reicher als sich, anzuerkennen und demgemäß
zu venerieren; aber den ungleich größern Unterschied, den die Natur
zwischen Menschen unabänderlich eingesetzt hat, will keiner anerkennen,
sondern an Geist, Urteil, Einsicht stellt jeder sich jedem gleich: daher
kommen in der Gesellschaft gerade die Vorzüglichsten zu kurz; weshalb
sie solche zu meiden pflegen.
Vielleicht wäre es kein übles Thema für einen Maler, einmal den Kontrast
der natürlichen und menschlichen Aristokratie darzustellen, etwa einen
Fürsten mit allen Abzeichen seines Vorzuges und einer Physiognomie vom
allerletzten Range, in irgend einem Zwiesprach oder Verflechtung mit einer
Physiognomie, die die größte geistige Ueberlegenheit sichtbar machte,
aber in Lumpen gehüllt.
Eine radikale Verbesserung der menschlichen Gesellschaft und dadurch des
menschlichen Zustandes überhaupt könnte dauernd nur dadurch zu stande
kommen, daß man die positive und konventionelle Rangliste nach der der
Natur regelte, so das die Parias der Natur den unwürdigsten Beschäftigungen
oblägen, die Sudra den rein mechanischen, die Vaysias der höhern Industrie,
und nur die echten Kschatrias Staatsmänner, Heerführer und Fürsten
wären, Künste und Wissenschaften aber allein in den Händen der echten
Brahminen wären; während jetzt die konventionelle Rangliste so selten
mit der natürlichen zusammentrifft, ja so häufig im schreiendsten Widerspruch
mit ihr steht. Aber dann erst wäre die vita vitalis. Freilich sind die
Schwierigkeiten unabsehbar. Es wäre nötig, daß jedes Kind seine Bestimmung
nicht nach dem Stande der Eltern, sondern nach dem Ausspruch des tiefsten
Menschenkenners empfinge.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Natura ist ein richtiger, aber euphemischer Ausdruck: mit gleichem Rechte
könnte es Mortura heißen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ich gebrauche oft das Wort Niaiserie, weil es kein deutsches Aequivalent
dafür gibt. Dies muß doch wohl daher kommen, daß der Begriff davon
in Deutschland nicht vorhanden ist; wovon der Grund dem ähnlich sein
mag, aus welchem wir die Harmonie der Sphären nicht vernehmen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Lichtenberg hat über hundert deutsche Ausdrücke für Betrunkensein aufgezählt;
kein Wunder, da die Deutschen von jeher als Säufer berühmt waren: aber
merkwürdig ist, daß in der Sprache der für die ehrlichste von allen
geltenden deutschen Nation, vielleicht mehr, als in irgend einer andern,
Ausdrücke für Betrügen sind; und zwar haben sie meistens einen triumphierenden
Anstrich, vielleicht weil man die Sache für sehr schwer hielt: z. B.
Betrügen, Täuschen, Hintergehen, Mystifizieren, Anführen, Beschuppen,
Beschummeln, Hänseln, Bescheißen, Anschmieren, Prellen, zum besten haben,
einem etwas weismachen, ihm etwas aufbinden, ihm einen Zopf machen, ihm
ein X für ein V machen, ihn versohlen, ihn hinters Licht führen, ihn
zum Narren machen, ihn narren, ihm eine Nase drehen, ihn in April schicken,
ihn einseifen, übers Ohr hauen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Worte und Begriffe werden immer trocken sein: denn das ist ihre Natur.
Das wäre thörichte Hoffnung, wenn wir erwarten wollten, die Worte und
der abstrakte Gedanken sollten das werden und leisten, was die lebendige
Anschauung war und leistete, die den Gedanken hervorrief: er selbst ist
nur ihre Mumie, und die Worte der Deckel des Mumiensarges. Hier ist die
Grenze der geistigen Mitteilung: das Beste schließt sie aus. --- Aber
Worte und Begriffe, so trocken auch ihre Mitteilung war, dienen, wenn
wir sie einmal gefaßt haben, zu verstehn was wir nachher anschauen, zusammenzubringen
was zusammengehört u. dgl. m. --- so wie das blecherne Pflanzenfutteral
des Botanisierenden zwar selbst lebloses Metall ist, aber dient die Blumen,
die er findet, zu Haufe zu tragen und aufzubehalten.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es ist bemerkenswert, wie Eitelkeit, vanitas, vanité zuerst Leerheit,
Nichtigkeit, und dann Wunsch nach Bewunderung anderer bedeutet; so daß
dieses letztere, das Leben in der Meinung anderer, die avaritia laudis,
hiedurch als das Leere und Nichtige par excellence bezeichnet wird, durch
einen sehr bedeutungsvollen Sprachgebrauch; denn es ist das nichtigste
von allen Gütern.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Mich haben die Unterrichtsministerien nicht brauchen können: und ich
danke dem Himmel, daß ich kein solcher bin, den sie brauchen könnten.
Sie können eigentlich nur solche brauchen, die sich brauchen lassen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Meine Zeitgenossen haben, durch die gänzliche Vernachlässigung und Nichtbeachtung
meiner Leistungen und derweiliges Celebrieren des Mediokren und Schlechten,
alles mögliche gethan, mich an mir selbst irre zu machen. Glücklicherweise
ist es ihnen nicht gelungen: sonst würde ich zu arbeiten aufgehört haben,
wie ich hätte müssen, wenn ich durch meine Arbeiten zugleich meinen
Unterhalt zu erwerben gehabt hätte.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Goethe erzählte mir neulich, er habe am Hofe der Herzogin Amalie viele
seiner damals soeben geschriebenen Stücke von den Hofleuten aufführen
lassen, ohne daß irgend einer mehr als seine eigene Rolle gekannt hätte,
und das Stück in seinem Zusammenhang allen unbekannt und daher bei der
Aufführung auch den Spielenden neu war. ---
Ist unser Leben etwas andres --- als eine solche Komödie? Der Philosoph
ist einer, der willig den Statisten macht, um desto besser auf den Zusammenhang
achten zu können.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Kantische Philosophie lehrt, daß das Weltende nicht außer uns, sondern
in uns zu suchen ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der eine ist mehr mit dem Eindruck, den er auf andre macht, beschäftigt;
der andre mehr mit dem Eindruck, den andre auf ihn machen: jener hat subjektive,
dieser objektive Stimmung: jener ist seinem ganzen Dasein nach mehr eine
bloße Vorstellung; dieser mehr Vorstellendes.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Alle Teilnahme des Publikums wirkt leicht störend: der Tadel kann schwache
Gemüter zur falschen Nachgiebigkeit, starke zur falschen Uebertreibung
ihrer Opposition verleiten. Das Lob ist noch gefährlicher, indem es uns
verführt, dem Urteil des Lobenden ein Gewicht zu leihen und wir uns nun
bequemen, den erlangten, oft schiefen Beifall durch Willfahren zu erhalten.
Vor beiden Gefahren hat mich die gänzliche Nichtbeachtung von seiten
meiner Zeitgenossen bewahrt. Ich konnte völlig ungestört meine Sache
allein ihrer selbst wegen lieben, betreiben und vervollkommnen, mich rein
erhaltend von allem äußern Einfluß, und meine Zeitgenossen blieben
mir fremd, wie ich ihnen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Erkenntnisform der Kausalität ist sehr tauglich, alle Dinge in der
Welt zu verstehen, jedoch nicht das Dasein der Welt selbst.
Objektiv ausgedrückt: jedes Ding in der Welt hat eine Ursach (weil es
infolge einer Veränderung ist, was es ist), aber die Welt selbst hat
keine: denn das Gesetz der Kausalität steht und fällt mit ihr.
Dies ist ein Hauptresultat der wohlverstandenen Kantischen Philosophie
--- aber dasselbe hat nicht angeschlagen: sie reden noch immer von einem
Grund der Welt, um nicht Ursach zu sagen: meine Abhandlung haben sie liegen
lassen: ja mein Werk ist liegen geblieben! während das Unbedeutende und
Schlechte Aufsehn machte! --- Alles nur, weil sie Theismus wollen, Theismus!
(Mit dem aber kann euch die Wahrheit nicht dienen: ihr müsst ihn bei
der Lüge suchen.) Vom lieben Gott wollen sie erzählt haben. Und weil
ich von dem nichts zu berichten wußte --- kann ich auf die Nachwelt warten:
Das allein ist die Ursach: hinc illae lacrimae! Ich hab es mit der Wahrheit
gehalten und nicht mit dem lieben Gott. Er aber hilft den Seinen. ---
Dabei ist es ihnen eigentlich nur um das Wort zu thun: denn auch Pantheismus
lassen sie sich gefallen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In meinem 17. Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer
des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit,
Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich
aus der Welt sprach, überwand bald die auch mir eingeprägten jüdischen
Dogmen, und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen
Wesens sein könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Dasein
gerufen, um am Anblick ihrer Qual sich zu weiden: darauf deuten die Data,
und der Glaube, daß es so sei, gewann die Oberhand. --- Allerdings spricht
aus dem menschlichen Dasein die Bestimmung des Leidens: es ist tief ins
Leiden eingesenkt, entgeht ihm nicht, sein Fortgang und Ausgang ist durchweg
tragisch: eine gewisse Absichtlichkeit hierin ist nicht zu verkennen.
Nun ist ja aber das Leiden der δεύτερος πλους, (der „zweite
Weg“), das Surrogat der Tugend und Heiligkeit; durch selbiges geläutert
gelangen wir zuletzt zur Verneinung des Willens zum Leben, zur Rückkehr
vom Irrweg, zur Erlösung: daher eben hat jene geheime Macht, die unser
Schicksal leitet, im Volksglauben mythisch als Vorsehung personifiziert,
es allerdings darauf abgesehn, uns Leiden auf Leiden zu bereiten, weshalb
meinem ganz einseitigen, aber so weit er sah richtigen Blick in der Jugend,
die Welt sich als ein Werk des Teufels darstellte. An sich aber ist diese
geheime Macht und Allmacht unser eigener Wille, auf einem Standpunkt,
der nicht ins Bewußtsein fällt: wie ich ausführlich auseinandergesetzt
habe: und das Leiden ist allerdings zunächst Zweck des Lebens, gleich
als ob es das Werk eines Teufels wäre, dieser Zweck aber ist nicht der
letzte, er ist selbst Mittel, ist Gnadenmittel, ist als solches von uns
selbst, wie gesagt, angeordnet zu unserm wahren und letzten Besten.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Die Naturphilosophen sind nur eine besondre Klasse Narren, Naturnarren,
wie es Kleidernarren, Pferdenarren, Büchernarren gibt, d. h. Leute, die
irgend ein Relatives zum Absoluten erheben und eben dies drüber vergessen.
Die Pythagoreer waren Mathematiknarren. Nun ist die Natur ein schön Ding,
und es ist von keinem so sehr zu verzeihen, wenn man sich drin vergafft;
aber sie bleibt ein Ding, wenn auch das größte. Die Entdeckung ihrer
Wunder hat auf die Naturphilosophen gewirkt, wie die der mathematischen
auf die Pythagoreer. Die Naturphilosophen gleichen Kindern, die über
die Schönheit eines physikalischen Geräts den Gebrauch vergessen, über
den Einband das Buch. Es mußte freilich das schönste Gerät sein, mit
dem das große Experiment des Lebens --- was auch das Leben sei --- gemacht
werden konnte. Die Natur ist ja das allein schlechthin Rechte, Notwendige,
eben der Gegensatz des Willens, der irren können muß, sie ist der feste
Punkt, der Kern des Lebens, das ewig Treue, Unschuldige, gleich Kindern,
die noch nicht sündigen können.---
Aber versuch es einmal, ganz Natur zu sein: es ist entsetzlich zu denken:
du kannst nicht Geistesruhe haben, wenn du nicht entschlossen bist, nötigenfalls
dich, und d. h. alle Natur für dich zu zerstören.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Meine ganze Philosophie läßt sich zusammenfassen in dem einen Ausdruck:
die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ohne Zweifel schließen die meisten auf die Wertlosigkeit meiner Philosophie
aus der geringen Beachtung, die sie gefunden. Aber sie könnte nicht verfehlt
haben, bei ihrem Erscheinen das größte Aufsehn zu erregen, und dann
eines stets zunehmenden Beifalls sich zu erfreuen, wenn es Leute gäbe,
welche die Wahrheit suchten: allein die, welche sich heutzutage mit der
Philosophie beschäftigen, suchen nichts anderes, als die Professuren
derselben: zu diesen aber wäre meine Philosophie ein falscher Weg, da
sie keineswegs es darauf abgesehn hat, eine Stütze des lieben Christentums
zu sein, vielmehr diese Rücksicht, als etwas ihren Zwecken Fremdes, ganz
unbeachtet läßt. Ach, wie steht sie in diesem Punkt zurück gegen die
Hegelei, welche deklariert, mit dem Christentum geradezu identisch und
bloß ein etwas anders zugerichtetes Christentum zu sein! und mir vorkommt,
wie der Kandidat in "Der gerade Weg ist der beste", welcher
deklariert, die Witwe des verstorbenen Pfarrers unbesehens und auf der
Stelle heiraten zu wollen. ---
Gebt doch den armen Jungen ein Stück Brot, daß sie nicht die Philosophie
mit ihren Tagelöhnerbemühungen beschmutzen! Geht es doch her, als lebten
wir im ersten und nicht im letzten Jahrhundert des Christentums. Aber
ihr Kathederhelden, ihr Philosophen des flüchtigen Tags und der bethörten
Menge, übergeht ihr mich nur mit Stillschweigen! Die Nachwelt wird mich
nicht mit Stillschweigen übergehn. Wenn euere niedrigen Verabredungen
ausgestorben und euer heuchlerischer Wechselgesang verstummt sein wird:
--- dann wird ein ganz anderer Maßstab des Bedeutenden und Unbedeutenden
angelegt werden, als am heutigen armseligen Tage. Freilich ist die Hauptursache
der Vernachlässigung meiner Lehre, daß gerade zu meiner Zeit an die
Stelle der Philosophie und des Denkens eine verfinsternde protestantisch
- jesuitische, auf Verdummung der Köpfe angelegte offizielle Afterweisheit
gesetzt wurde, --- jene beispiellose Niederträchtigkeit der Hegelei.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In meiner Jugend machte die Vernachlässigung, die ich in der Gesellschaft
erfuhr, und der Vorzug, den man den Alltäglichen, Platten, Dürftigen,
vor mir gab, mich an mir selber irre: bis ich, 26 Jahr alt, den Helvetius
las und nun begriff, daß die Homogeneität jene vereinigte und die Heterogeneität
mich ausschied, daß der Platte und Niedrige dem Platten und Niedrigen
angemessen und die Ueberlegenheit verhaßt war. Dasselbe ist mir in der
philosophischen Litteratur begegnet, und die Lösung des Phänomens ist
im wesentlichen genau dieselbe, wie ich dies mit jedem Jahr deutlicher
einsehe. Hier wie dort ist das Verkehrte, Schlechte, Platte, Absurde den
gemeinen Köpfen angemessen und homogen: das Echte, Vorzügliche, Ungemeine
kann gerade als solches bei ihnen keinen Beifall finden, ist ihnen ganz
heterogen, dazu ist die Ueberlegenheit verhaßt und gefürchtet:
Helvetius: Il n'y a que I'esprit qui sente I'esprit; mais les gens ordinaires
ont un instinct prompt et sür, pour connaitre et pour fuir les gens d'esprit;
Chamfort: La sottise ne serait pas tout-a-fait la sottise, si elle ne
craignait pas I'esprit (Vol. IV, p. 58);
und Lichtenberg: Es gibt Leute, denen ein Mann von Kopf verhaßter ist
als der deklarierteste Schurke (sic fere): also "fliehen, --- fürchten
und hassen", --- Das sind die Empfindungen, die bei ihnen der Geist
hervorruft.
Daß ich in beiden Fällen auf einige Zeit an mir selber irre wurde, lag
daran, daß ich von der Größe der Erbärmlichkeit der Menschen keinen
Begriff hatte, noch haben konnte, denn a priori war er mir nicht gegeben
und a posteriori konnte er erst durch die Erfahrung kommen, welche eben
die ist, die ich hier ausspreche.
In beiden Fällen erhielt ich dann und wann einen Trost durch das große
Lob, ja die Verehrung Einzelner, welche gegen die allgemeine Vernachlässigung
desto greller hervortrat. Dies trug bei, mich zu orientieren.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
......
Das Talent arbeitet um Geld und Ruhm: hingegen ist die Triebfeder, welche
das Genie zur Ausarbeitung seiner Werke bewegt, nicht so leicht anzugeben.
Geld wird ihm selten dafür. Der Ruhm ist es nicht: so etwas können nur
Franzosen meinen. Der Ruhm ist zu unsicher und, in der Nähe betrachtet,
von zu geringem Wert:
Responsura tuo nunquam est par fama labori.
Ebenfalls ist es nicht geradezu das eigene Ergötzen: denn dieses wird
von der großen Anstrengung fast überwogen. Vielmehr ist es ein Instinkt
ganz eigener Art, vermöge dessen das geniale Individuum getrieben wird,
sein Schauen und Fühlen in dauernden Werken auszudrücken, ohne sich
dabei eines ferneren Motivs bewußt zu sein. Im ganzen genommen, geschieht
es aus derselben Notwendigkeit, mit welcher der Baum seine Früchte trägt,
und erfordert von außen nichts weiter, als einen Boden, auf dem das Individuum
gedeihen kann. Näher betrachtet, ist es als ob in einem solchen Individuum
der Wille zum Leben, als Geist der Menschengattung, sich bewußt würde,
hier eine größere Klarheit des Intellekts, durch einen seltenen Zufall,
auf eine kurze Spanne Zeit, erlangt zu haben und nun wenigstens die Resultate,
oder Produkte, jenes klaren Schauens und Denkens, für die ganze Gattung,
die ja auch dieses Individuums eigenstes Wesen ist, zu erwerben trachtete,
damit das Licht, welches davon ausgeht, nachmals wohlthätig einbrechen
möge in die Dunkelheit und Dumpfheit des gewöhnlichen Menschenbewußtseins.
Hieraus also entsteht jener Instinkt, welcher das Genie treibt, ohne Rücksicht
auf Belohnung, Beifall, oder Teilnahme, vielmehr mit Vernachlässigung
der Sorge für sein persönliches Wohl, emsig und einsam, mit größter
Anstrengung seine Werke zu vollenden, dabei mehr an die Nachwelt, als
an die Mitwelt, durch welche es nur irre geleitet werden würde, zu denken;
weil jene ein größerer Teil der Gattung ist und weil im Laufe der Zeit
die wenigen Urteilsfähigen einzeln herankommen. Es steht unterdessen
meistens mit ihm wie Goethe seinen Künstler klagen lässt:
"Ein Fürst, der die Talente schätzte,
Ein Freund, der sich mit mir ergötzte,
Die haben leider mir gefehlt.
Im Kloster fand ich dumpfe Gönner:
So hab` ich, emsig, ohne Kenner
Und ohne Schüler mich gequält."
Sein Werk, als ein heiliges Depositum und die wahre Frucht seines Daseins,
zum Eigentum der Menschheit zu machen, es niederlegend für eine besser
urteilende Nachwelt, dies wird ihm dann zum Zweck, der allen andern Zwecken
vorgeht und für den er die Dornenkrone trägt, welche einst zum Lorbeerkranze
ausschlagen soll. Auf die Vollendung und Sicherstellung seines Werkes
konzentriert sein Streben sich ebenso entschieden, wie das des Insekts,
in seiner letzten Gestalt, auf die Sicherstellung seiner Eier und Vorsorge
für die Brut, deren Dasein es nie erlebt; es deponiert die Eier da, wo
sie, wie es sicher weiß, einst Leben und Nahrung finden werden, und stirbt
getrost.
Anhang.
A. Das bisherige Mißlingen der Philosophie ist notwendig und daraus erklärlich,
daß dieselbe, statt sich auf das tiefere Verständnis der gegebenen Welt
zu beschränken, sogleich darüber hinaus will und die letzten Gründe
alles Daseins, die ewigen Verhältnisse aufzufinden sucht, welche zu denken
unser Intellekt ganz unfähig ist, dessen Fassungskraft durchaus nur für
das taugt, was die Philosophen bald endliche Dinge, bald Erscheinungen
genannt haben, kurzum die flüchtigen Gestalten dieser Welt und das, was
für unsre Person, unsre Zwecke und unsre Erhaltung taugt: er ist immanent.
Daher soll seine Philosophie auch immanent sein und nicht sich versteigern
zu überweltlichen Dingen, sondern sich darauf beschränken die gegebene
Welt von Grund aus zu verstehn: die gibt Stoff genug.
B. Wenn es so ist, so haben wir an unserm Intellekt ein armseliges Geschenk
der Natur: wenn er bloß taugt, die Verhältnisse zu fassen, die unsere
erbärmliche, individuelle Existenz betreffen und bloß während der kurzen
Spanne unsers zeitlichen Daseins bestehn, hingegen das, was allein wert
ist, ein denkendes Wesen zu interessieren, - die Erklärung unsers Daseins
überhaupt, und die Auslegung der Verhältnisse der Welt im ganzen, kurz
die Lösung des Rätsels dieses Lebenstraumes, -- wenn dies alles gar
nicht in ihn hineingeht und er es nimmermehr, auch wenn es ihm dargelegt
würde, zu fassen vermöchte - dann finde ich den Intellekt nicht wert,
ihn auszubilden und mit ihm mich zu beschäftigen: er ist ein Ding, nicht
wert, sich danach zu bücken.
A. Mein Freund, wenn wir mit der Natur hadern, behalten wir gewöhnlich
unrecht. Bedenke, Natura nihil facit frustra nec supervacaneum (et nihil
largitur). Wir sind eben bloß zeitliche, endliche, vergängliche, traumartige,
wie Schatten vorüberfliegende Wesen; was sollte solchen ein Intellekt,
der unendliche, ewige, absolute Verhältnisse faßte? Und wie sollte ein
solcher Intellekt diese Verhältnisse wieder verlassen, um sich zu den
für uns allein realen, allein uns wirtlich betreffenden, kleinen Verhältnissen
unsers ephemeren Daseins zu wenden und noch für diese zu taugen? Die
Natur würde durch Verleihung eines solchen Intellekts nicht nur ein unermeßlich
großes Frustra gemacht, sondern ihren Zwecken mit uns geradezu entgegen
gearbeitet haben. Denn was würde es taugen, wie Shakespeare sagt:
we fools of nature, so horridly to shake our disposition. Whith thoughts
beyond the reaches of our souls. - (Hamlet, act l, sc. 4.)
Würde eine solche vollkommene und erschöpfende metaphysische Einsicht
uns nicht zu aller physischen, zu allem unsern Thun und Treiben unfähig
machen, vielleicht uns für immer in ein erstarrendes Entsetzen versenken,
wie den, der ein Gespenst gesehn? --
B. Es ist aber eine verruchte petitio principii, die du machst, daß wir
bloß zeitliche, vergängliche, endliche Wesen sind: wir sind zugleich
unendlich, ewig, das ursprüngliche Prinzip der Natur selbst: daher ist
es wohl der Mühe wert, unablässig zu suchen, "ob nicht Natur zuletzt
sich doch ergründe".
A. Nach deiner eigenen Metaphysik sind wir das nur in gewissem Sinne,
als Ding an sich, nicht als Erscheinung, als inneres Prinzip der Welt,
nicht als Individuen, als Wille zum Leben, nicht als Subjekte des individuellen
Erkennens. Hier ist nur von unserer intelligenten Natur die Rede, nicht
vom Willen, und als Intelligenzen sind wir individuell und endlich; demgemäß
ist auch unser Intellekt ein solcher. Der Zweck unsers Lebens (daß ich
mir einen metaphorischen Ausdruck erlaube) ist ein praktischer, kein theoretischer:
unser Thun, nicht unser Erkennen gehört der Ewigkeit an: dieses Thun
zu leiten und zugleich unserm Willen einen Spiegel vorzuhalten, ist unser
Intellekt da, und dies leistet er. Ein mehreres würde ihn höchst wahrscheinlich
hiezu untauglich machen: sehn wir doch schon das Genie, diesen kleinen
Ueberschuß von Intellekt, der Laufbahn des damit begabten Individuums
hinderlich sein, und es äußerlich unglücklich machen, wenn es auch
innerlich beglücken mag.
B. Wohl, daß du mich an das Genie erinnerst! es wirft zum Teil die Thatsachen
um, die du rechtfertigen willst: bei ihm ist die theoretische Seite abnorm
überwiegend über die praktische. Wenn es auch nicht die ewigen Verhältnisse
fassen kann, so sieht es doch schon etwas tiefer in die Dinge dieser Welt,
attamen est quodam prodire tenus. Und allerdings macht schon dies den
damit begünstigten Intellekt zum Auffassen der endlichen, irdischen Verhältnisse
weniger tauglich und einem Teleskop im Theater vergleichbar. Hier scheint
der Punkt zu sein, wo wir uns einigen, und bei dem unsere gemeinsame Betrachtung
stille steht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Vermöge des endlichen Maßes der menschlichen Kräfte überhaupt ist
jeder große Geist dies nur unter der Bedingung, daß er, auch intellektuell,
irgend eine entschieden schwache Seite habe, also eine Fähigkeit, in
welcher er bisweilen sogar den mittelmäßigen Köpfen nachsteht. Es wird
die sein, welche seiner hervorstechenden Fähigkeit hätte im Wege stehn
können: doch wird es immer schwer halten, sie, selbst beim gegebenen
Einzelnen, mit einem Worte zu bezeichnen. Eher läßt es sich indirekt
ausdrücken: z. B. Platos schwache Seite ist gerade die, worin des Aristoteles
Stärke besteht; und vice versa. Kants schwache Seite ist das, worin Goethe
groß ist; und vice versa.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Was gewesen ist, das ist nicht mehr; ist ebensowenig, wie das, was nie
gewesen ist. Aber alles, was ist, ist im nächsten Augenblick schon gewesen.
Daher hat vor der bedeutendesten Vergangenheit die unbedeutendeste Gegenwart
die Wirklichkeit voraus; wodurch sie zu jener sich verhält, wie etwas
zu nichts. --- Man ist mit einemmale, zu seiner Verwunderung, da, nachdem
man, zahllose Jahrtausende hindurch, nicht gewesen, und nach einer kurzen
Zeit ebenso lange wieder nicht zu sein hat. - Das ist nimmermehr richtig,
sagt das Herz: und selbst dem rohen Verstande muß aus Betrachtungen dieser
Art eine Ahnung der Idealität der Zeit aufgehn. Diese aber, nebst der
des Raumes, ist der Schlüssel zu aller wahren Metaphysik; weil durch
dieselbe für eine ganz andre Ordnung der Dinge, als die der Natur ist,
Platz gewonnen wird. Daher ist Kant so groß.
Jedem Vorgang unsers Lebens gehört nur auf einen Augenblick das Ist:
sodann für immer das War. Jeden Abend sind wir um einen Tag ärmer. Wir
würden vielleicht, beim Anblick dieses Ablaufens unsrer kurzen Zeitspanne,
rasend werden; wenn nicht im tiefsten Grunde unsres Wesens ein heimliches
Bewußtsein läge, daß uns der nie zu erschöpfende Born der Ewigkeit
gehört, um immerdar die Zeit des Lebens daraus erneuern zu können.
Auf Betrachtungen, wie die obigen, kann man allerdings die Lehre gründen,
daß die Gegenwart zu genießen und dies zum Zwecke seines Lebens zu machen,
die größte Weisheit sei; weil ja jene allein real, alles andere nur
Gedankenspiel wäre. Aber ebensogut könnte man es die größte Thorheit
nennen: denn was im nächsten Augenblicke nicht mehr ist, was so gänzlich
verschwindet, wie ein Traum, ist nimmermehr eines ernstlichen Strebens
wert.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wer etwas tiefer zu denken fähig ist wird bald absehn, daß die menschlichen
Begierden nicht erst auf dem Punkte anfangen können, sündlich zu sein,
wo sie, in ihren individuellen Richtungen einander zufällig durchkreuzend,
Uebel von der einen und Böses von der andern Seite veranlassen; sondern
daß, wenn dieses ist, sie auch schon ursprünglich und ihrem Wesen nach
sündlich und verwerflich sein müssen, folglich der ganze Wille zum Leben
selbst ein verwerflicher ist. Ist ja doch aller Greuel und Jammer, davon
die Welt voll ist, bloß das notwendige Resultat der gesamten Charaktere,
in welchen der Wille zum Leben sich objektiviert, unter den an der ununterbrochenen
Kette der Notwendigkeit eintretenden Umständen, welche ihnen die Motive
liefern; also der bloße Kommentar zur Bejahung des Willens zum Leben.
(Vergl. Theologia, deutsch, S. 93.) --- Daß unser Dasein selbst eine
Schuld impliziert, beweist der Tod.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn nicht der nächste und unmittelbare Zweck unsers Lebens das Leiden
ist; so ist unser Dasein das Zweckwidrigste auf der Welt. Denn es ist
absurd, anzunehmen, daß der endlose, aus der dem Leben wesentlichen Not
entspringende Schmerz, davon die Welt überall voll ist, zwecklos und
rein zufällig sein sollte. Jedes einzelne Unglück erscheint zwar als
eine Ausnahme; aber das Unglück überhaupt ist die Regel.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wie kann man nur, beim Anblick des Todes eines Menschen, vermeinen, hier
werde ein Ding an sich selbst zu nichts? Daß vielmehr nur eine Erscheinung,
in der Zeit, dieser Form aller Erscheinungen, ihr Ende finde, ohne daß
das Ding an sich selbst dadurch angefochten werde, ist eine unmittelbare,
intuitive Erkenntnis jedes Menschen; daher man es zu allen Zeiten, in
den verschiedensten Formen, und Ausdrücken, die aber alle, der Erscheinung
entnommen, in ihrem eigentlichen Sinn, sich nur auf diese beziehn, auszusprechen
bemüht gewesen ist. Jeder fühlt, daß er etwas anderes ist, als ein
von einem Andern einst aus nichts geschaffenes Wesen. Daraus entsteht
ihm die Zuversicht, daß der Tod wohl seinem Leben, jedoch nicht seinem
Dasein ein Ende machen kann. Wer da meint, sein Dasein sei auf sein jetziges
Leben beschränkt, hält sich für ein belebtes Nichts: denn vor 30 Jahren
war er nichts; und über 30 Jahre ist er wieder nichts. Aus meinem Anfangssatz
"die Welt ist meine Vorstellung" folgt zunächst: "erst
bin ich und dann die Welt". Dies sollte man wohl festhalten, als
Antidoton gegen Verwechselung des Todes mit der Vernichtung. (Zu glauben,
das Leben wäre ein Roman, zu welchem, wie zu Schillers Geisterseher,
die Fortsetzung mangelt, zumal er oft, wie Sternes Sentimental Journey,
mitten im Konzert abbricht - ist, ästhetisch wie moralisch ein ganz unverdaulicher
Gedanke.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der einleuchtendeste und zugleich einfachste Beweis der Idealität des
Raumes ist, daß wir den Raum nicht, wie alles andere, in Gedanken aufheben
können. Bloß ausleeren können wir ihn: alles, alles, alles können
wir aus dem Raume wegdenken, es verschwinden lassen, können uns auch
sehr wohl vorstellen, der Raum zwischen den Fixsternen sei absolut leer,
u. dgl. m. Nur den Raum selbst können wir auf keine Weise los werden:
was wir auch thun, wohin wir uns auch stellen mögen; er ist da und hat
nirgends ein Ende: denn er liegt allem unserm Vorstellen zum Grunde und
ist die erste Bedingung desselben. Dies beweist ganz sicher, daß er unserm
Intellekt selbst angehört, ein integrierender Teil desselben ist und
zwar der, welcher den ersten Grundfaden zum Gewebe desselben, auf welches
danach die bunte Objektenwelt aufgetragen wird, liefert. Denn er stellt
sich dar, sobald ein Objekt vorgestellt werden soll, und begleitet nachher
alle Bewegungen, Wendungen und Versuche des anschauenden Intellekts so
beharrlich, wie die Brille, welche ich auf der Nase habe, alle Wendungen
und Bewegungen meiner Person, oder wie der Schatten seinen Körper begleitet.
Bemerke ich, daß etwas überall und unter allen Umständen bei mir ist,
so schließe ich, daß es mir anhängt: so z. B. wenn ein besonderer Geruch,
dem ich entgehn möchte, sich vorfindet, wohin ich auch komme. Nicht anders
ist es mit dem Raume: was ich auch denken, welche Welt ich mir auch vorstellen
möge; der Raum ist stets zuerst da und will nicht weichen. Ist nun derselbe,
wie hieraus offenbar hervorgeht, eine Funktion, ja eine Grundfunktion
meines Intellekts selbst; so erstreckt sich die hieraus folgende Idealität
auch auf alles Räumliche, d. h. alles darin sich Darstellende: dieses
mag immerhin auch an sich selbst ein objektives Dasein haben; aber sofern
es räumlich ist, also sofern es Gestalt, Größe und Bewegung hat, ist
es subjektiv bestimmt. Auch die so genauen und richtig zutreffenden astronomischen
Berechnungen sind nur dadurch möglich, daß der Raum eigentlich in unserm
Kopf ist. Folglich erkennen wir die Dinge nicht, wie sie an sich sind,
sondern nur wie sie erscheinen. Dies ist des großen Kants große Lehre.
Daß der unendliche Raum unabhängig von uns, also absolut objektiv und
an sich selbst vorhanden wäre, und ein bloßes Abbild desselben, als
eines Unendlichen, durch die Augen in unsern Kopf gelangte, ist der absurdeste
aller Gedanken, aber in einem gewissen Sinne der fruchtbarste; weil, wer
der Absurdität desselben deutlich inne wird, eben damit das bloße Erscheinungsdasein
dieser Welt unmittelbar erkennt, indem er sie als ein bloßes Gehirnphänomen
auffaßt, welches, als solches, mit dem Tode des Gehirns verschwindet,
um eine ganz andere, die Welt der Dinge an sich, übrig zu lassen. Daß
der Kopf im Raume sei hält ihn nicht ab, einzusehn, daß der Raum doch
nur im Kopfe ist. (Wenn ich sage "in einer andern Welt", so
ist es großer Unverstand, zu fragen, "wo ist denn die andere Welt?"
Denn der Raum, der allem Wo erst einen Sinn erteilt, gehört eben mit
zu dieser Welt; außerhalb derselben gibt es kein Wo. --- Friede, Ruhe
und Glückseligkeit wohnt allein da, wo es kein Wo und kein Wann gibt.)
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Was für die äußere Körperwelt das Licht, das ist für die innere Welt
des Bewußtseins der Intellekt. Denn dieser verhält sich zum Willen,
also auch zum Organismus, der ja bloß der objektiv angeschaute Wille
ist, ungefähr so, wie das Licht zum brennbaren Körper und dem Oxygen,
bei deren Vereinigung es ausbricht. Und wie dieses um so reiner ist, je
weniger es sich mit dem Rauche des brennenden Körpers vermischt; so auch
ist der Intellekt um so reiner, je vollkommener er vom Willen, dem er
entsprossen, gesondert ist. In kühnerer Metapher ließe sich sogar sagen:
das Leben ist bekanntlich ein Verbrennungsprozeß: die bei demselben stattfindende
Lichtentwickelung ist der Intellekt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn auf der Welt Gerechtigkeit herrschte, wäre es hinreichend, sein
Haus gebaut zu haben, und es bedürfte keines anderen Schutzes, als dieses
offenbaren Eigentumsrechts. Aber weil das Unrecht an der Tagesordnung
ist; so ist erfordert, daß, wer das Haus gebaut hat, auch im stande sei,
es zu schützen. Sonst ist sein Recht de facto unvollkommen: der Angreifer
hat nämlich Faustrecht, welches geradezu der Rechtsbegriff des Spinoza
ist, der kein anderes Recht anerkennt, sondern sagt: unusquisque tantum
juris habet, quantum potentia valet (Tract. pol. c. 2, § 8) und uniuscujusque
jus potentia ejus definitur (Eth. IV, pr. 37, sch. 1). — Die Anleitung
zu diesem Rechtsbegriff scheint ihm gegeben zu haben Hobbes, namentlich
De cive c. 1, § l4, welcher Stelle dieser die seltsame Erläuterung hinzufügt,
daß das Recht des lieben Gottes auf alle Dinge doch auch nur auf seiner
Allmacht beruhe. — In der bürgerlichen Welt ist nun zwar dieser Rechtsbegriff,
wie in der Theorie, so auch in der Praxis, abgeschafft; in der politischen
aber in erster allein: in praxi gilt er hier fortwährend. Die Folgen
der Vernachlässigung dieser Regel sehen wir eben jetzt in China: Rebellen
von innen und die Europäer von außen, und steht das größte Reich der
Welt wehrlos da und muß es büßen, die Künste des Friedens allein und
nicht auch die des Krieges kultiviert zu haben. — Zwischen dem Wirken
der schaffenden Natur und dem der Menschen ist eine eigentümliche, aber
nicht zufällige, sondern auf der Identität des Willens in beiden beruhende
Analogie. Nachdem, in der gesamten tierischen Natur, die von der Pflanzenwelt
zehrenden Tiere aufgetreten waren, erschienen in jeder Tierklasse, notwendig
zuletzt, die Raubtiere, um von jenen ersteren, als ihrer Beute, zu leben.
Ebenso nun, nachdem die Menschen, ehrlich und im Schweiß ihres Angesichts,
dem Boden abgewonnen haben, was zum Unterhalt eines Volkes nötig ist,
treten allemal, bei einigen derselben, eine Anzahl Menschen zusammen,
die, statt den Boden urbar zu machen und von seinem Ertrag zu leben, es
vorziehen, ihre Haut zu Markte zu tragen und Leben, Gesundheit und Freiheit
aufs Spiel zu setzen, um über die, welche den redlich erworbenen Besitz
innehaben, herzufallen und die Früchte ihrer Arbeit sich anzueignen.
Diese Raubtiere des menschlichen Geschlechts sind die erobernden Völker,
welche wir, von den ältesten Zeiten bis auf die neuesten, überall auftreten
sehn, mit wechselndem Glück, indem ihr jeweiliges Gelingen und Mißlingen
durchweg den Stoff der Weltgeschichte liefert; daher eben Voltaire recht
hat zu sagen: Dans toutes les guerres il ne s´agit que de voler. Daß
sie sich der Sache schämen, geht daraus hervor, daß jede Regierung laut
beteuert, nie anders, als zur Selbstverteidigung, die Waffen ergreifen
zu wollen. Statt aber die Sache mit öffentlichen, offiziellen Lügen
zu beschönigen, die fast noch mehr, als jene selbst, empören, sollten
sie sich, frech und frei, auf die Lehre des Machiavelli berufen. Aus dieser
nämlich läßt sich entnehmen, daß zwar zwischen Individuen, und in
der Moral und Rechtslehre für diese, der Grundsatz quod tibi fieri non
vis, alteri ne feceris allerdings gilt; hingegen zwischen Völkern und
in der Politik der umgekehrte: quod tibi fieri non vis, id alteri tu feceris.
Willst du nicht unterjocht werden; so unterjoche beizeiten den Nachbar:
sobald nämlich seine Schwäche dir die Gelegenheit darbietet. Denn, läßt
du diese vorübergehn; so wird sie einmal sich als Ueberläuferin im fremden
Lager zeigen: dann wird jener dich unterjochen; wenn auch die jetzige
Unterlassungssünde nicht von der Generation, die sie beging, sondern
von den folgenden abgebüßt werden sollte. Dieser Machiavellistische
Grundsatz ist für die Raublust immer noch eine viel anständigere Hülle,
als der ganz durchsichtige Lappen palpabelster Lügen in Präsidentenreden,
und gar solcher, welche auf die bekannte Geschichte vom Kaninchen, welches
den Hund angegriffen haben soll, hinauslaufen. Im Grunde sieht jeder Staat
den andern als eine Räuberhorde an, die über ihn herfallen wird, sobald
die Gelegenheit kommt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Grundcharakter aller Dinge ist Vergänglichkeit: wir sehn in der Natur
alles, vom Metall bis zum Organismus, teils durch sein Dasein selbst,
teils durch den Konflikt mit anderem, sich aufreiben und verzehren. Wie
könnte dabei die Natur das Erhalten der Formen und Erneuern der Individuen,
die zahllose Wiederholung des Lebensprozesses, eine unendliche Zeit hindurch,
aushalten, ohne zu ermüden; wenn nicht ihr eigener Kern ein Zeitloses
und dadurch völlig Unverwüstliches wäre, ein Ding an sich, ganz anderer
Art, als seine Erscheinungen, ein allem Physischen heterogenes Metaphysisches?
- Dieses ist der Wille in uns und in allem.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Weil jegliches Wesen in der Natur zugleich Erscheinung und Ding an sich,
oder auch natura naturata und natura naturans, ist; so ist es demgemäß
einer zwiefachen Erklärung fähig, einer physischen und einer metaphysischen.
Die physische ist allemal aus der Ursache; die metaphysische allemal aus
dem Willen: denn dieser ist es, der in der erkenntnislosen Natur sich
darstellt als Naturkraft, höher hinauf als Lebenskraft, in Tier und Mensch
aber den Namen Willen erhält. Streng genommen, wäre demnach, an einem
gegebenen Menschen, der Grad und die Richtung seiner Intelligenz und die
moralische Beschaffenheit seines Charakters möglicherweise auch rein
physisch abzuleiten, nämlich erstere aus der Beschaffenheit seines Gehirns
und Nervensystems, nebst daraus einwirkendem Blutumlauf; letztere aus
der Beschaffenheit und Zusammenwirkung seines Herzens, Gefäßsystems,
Blutes, Lungen, Leber, Milz, Nieren, Intestina, Genitalia u. s. w., wozu
aber freilich eine noch viel genauere Kenntnis der Gesetze, welche den
rapport du physique au moral regeln, als selbst Bichat und Cabanis besaßen,
erfordert wäre. Sodann ließe beides sich noch auf die entferntere physische
Ursache, nämlich die Beschaffenheit seiner Eltern, zurückführen; indem
diese nur zu einem ihnen gleichen Wesen, nicht aber zu einem höhern und
bessern, den Keim liefern konnten. Metaphysisch hingegen müßte derselbe
Mensch erklärt werden als die Erscheinung seines eigenen, völlig freien
und ursprünglichen Willens, der den ihm angemessenen Intellekt sich schuf;
daher denn alle seine Thaten, so notwendig sie auch aus seinem Charakter,
im Konflikt mit den gegebenen Motiven, hervorgehn, und dieser wieder als
das Resultat seiner Korporisation auftritt, dennoch ihm gänzlich beizumessen
sind. Metaphysisch ist nun aber auch der Unterschied zwischen ihm und
seinen Eltern kein absoluter.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Unterschied zwischen dem Genie und den Normalköpfen ist allerdings
nur ein quantitativer, sofern er ein Unterschied des Grades ist: dennoch
wird man versucht, ihn als qualitativ anzusehn, wenn man betrachtet, wie
die gewöhnlichen Köpfe, trotz ihrer individuellen Verschiedenheit, doch
eine gewisse gemeinsame Richtung ihres Denkens haben, vermöge welcher,
bei gleichem Anlaß, ihrer aller Gedanken sofort denselben Weg einschlagen
und in dasselbe Gleis geraten: daher die häufige, nicht auf Wahrheit
sich stützende Uebereinstimmung ihrer Urteile, welche so weit geht, daß
gewisse Grundansichten von ihnen zu allen Zeiten festgehalten, immer wiederholt
und von neuem vorgebracht werden, während denselben die großen Geister
jeder Zeit, offen oder verdeckt, sich widersetzen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Natur ist der Wille, sofern er sich selbst außer sich erblickt; wozu
sein Standpunkt ein individueller Intellekt sein muß. Dieser ist ebenfalls
sein Produkt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Ueberall und zu allen Zeiten hat es viel Unzufriedenheit mit den Regierungen,
Gesetzen und öffentlichen Einrichtungen gegeben; großenteils aber nur,
weil man stets bereit ist, diesen das Elend zur Last zu legen, welches
dem menschlichen Dasein selbst unzertrennlich anhängt, indem es, mythisch
zu reden, der Fluch ist, den Adam empfing, und mit ihm sein ganzes Geschlecht.
Jedoch nie ist jene falsche Vorspiegelung auf lügenhaftere und frechere
Weise gemacht worden, als von den Demagogen der "Jetztzeit".
Diese, nämlich sind, als Feinde des Christentums, Optimisten; die Welt
ist ihnen ,,Selbstzweck" und daher an sich selbst, d. h. ihrer natürlichen
Beschaffenheit nach, ganz vortrefflich eingerichtet, ein rechter Wohnplatz
der Glückseligkeit. Die nun hiegegen schreienden, kolossalen Uebel der
Welt schreiben sie gänzlich den Regierungen zu: thäten nämlich nur
diese ihre Schuldigkeit; so würde der Himmel auf Erden existieren, d.
h. alle würden ohne Mühe und Not vollauf fressen, saufen, sich propagieren
und krepieren können: denn dies ist die Paraphrase ihres ,,Selbstzweck"
und das Ziel des "unendlichen Fortschritts der Menschheit",
den sie in pomphasten Phrasen unermüdlich verkündigen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wie der Bach keine Strudel macht, solange er auf keine Hindernisse trifft,
so bringt die menschliche, wie die tierische Natur es mit sich, daß wir
alles, was unserm Willen gemäß geht, nicht recht merken und inne werden.
Sollen wir es merken; so muß es nicht sogleich unserm Willen gemäß
gegangen sein, sondern irgend einen Anstoß gefunden haben. -- Hingegen
alles, was unserm Willen sich entgegenstellt, ihn durchkreuzt, ihm widerstrebt,
also alles Unangenehme und Schmerzliche empfinden wir unmittelbar, sogleich
und sehr deutlich. Wie wir die Gesundheit unsers ganzen Leibes nicht fühlen,
sondern nur die kleine Stelle, wo uns der Schuh drückt; so denken wir
auch nicht an unsre gesamten, vollkommen wohl gehenden Angelegenheiten,
sondern an irgend eine unbedeutende Kleinigkeit, die uns verdrießt. --
Hierauf beruht die, von mir öfter hervorgehobene Negativität des Wohlseins
und Glücks, im Gegensatz der Positivität des Schmerzes. Ich kenne demnach
keine größere Absurdität, als die der meisten metaphysischen Systeme,
welche das Uebel für etwas Negatives erklären; während es gerade das
Positive, das Sich-selbst-fühlbar-machende ist. Besonders stark ist hierin
Leibniz, welcher (Thèod. § 153) die Sache durch ein handgreifliches
und erbärmliches Sophisma zu erhärten bestrebt ist. Hingegen das Gute,
d. h. alles Glück und alle Befriedigung, ist das Negative, nämlich das
bloße Aufheben des Wunsches und Endigen einer Pein. Hiezu stimmt auch
dies, daß wir, in der Regel, die Freuden weit unter, die Schmerzen weit
über unsere Erwartungen finden. --- Wer die Behauptung, daß, in der
Welt, der Genuß den Schmerz Überwiegt, oder wenigstens sie einander
die Wage halten, in der Kürze prüfen will, vergleiche die Empfindung
des Tieres, welches ein anderes frißt, mit der dieses andern. --
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Natur unsers Intellekts zufolge sollen die Begriffe durch Abstraktion
aus den Anschauungen entstehn, mithin diese früher dasein, als jene.
Wenn es nun wirklich diesen Gang nimmt, wie es der Fall ist bei dem, der
bloß die eigene Erfahrung zum Lehrer und zum Buche hat; so weiß der
Mensch ganz gut, welche Anschauungen es sind, die unter jeden seiner Begriffe
gehören und von demselben vertreten werden: er kennt beide genau und
behandelt demnach alles ihm Vorkommende richtig. Wir können diesen Weg
die natürliche Erziehung nennen.
Hingegen bei der künstlichen Erziehung wird, durch Vorsagen, Lehren und
Lesen, der Kopf voll Begriffe gepfropft, bevor noch eine irgend ausgebreitete
Bekanntschaft mit der anschaulichen Welt da ist. Die Anschauungen zu allen
jenen Begriffen soll nun die Erfahrung nachbringen: bis dahin aber werden
dieselben falsch angewendet und demnach die Dinge und Menschen falsch
beurteilt, falsch gesehn, falsch behandelt. So geschieht es, daß die
Erziehung schiefe Köpfe macht, und daher kommt es, daß wir in der Jugend,
nach langem Lernen und Lesen, oft teils einfältig, teils verschroben
in die Welt treten und nun bald ängstlich, bald vermessen uns darin benehmen;
weil wir den Kopf voll Begriffe haben, die wir jetzt anzuwenden bemüht
sind, aber fast immer sie verkehrt anbringen. Dies ist die Folge jenes
ὑστεϱον πϱοτεϱον, durch welches wir, dem natürlichen
Entwickelungsgange unsers Geistes gerade entgegen, zuerst die Begriffe
und zuletzt die Anschauungen erhalten, indem die Erzieher, statt die Fähigkeit
selbst zu erkennen, zu urteilen und zu denken im Knaben zu entwickeln,
bloß bemüht sind, ihm den Kopf voll fremder, fertiger Gedanken zu stopfen.
Nachmals hat dann eine lange Erfahrung alle jene, durch falsche Anwendung
der Begriffe entstandenen Urteile zu berichtigen. Dies gelingt selten
ganz. Daher haben so wenige Gelehrte den gesunden Menschenverstand, wie
er bei ganz Ungelehrten häufig ist.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Die Weisheit, welche in einem Menschen bloß theoretisch da ist, ohne
praktisch zu werden, gleicht der gefüllten Rose, welche durch Farbe und
Geruch andere ergötzt, aber abfällt, ohne Frucht angesetzt zu haben.
Keine Rose ohne Dornen. -- Aber manche Dornen ohne Rosen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Hund ist, mit Recht, das Symbol der Treue: unter den Pflanzen aber
sollte es die Tanne sein. Denn sie allein harrt mit uns aus, zur schlimmen,
wie zur guten Zeit, und verläßt uns nicht mit der Gunst der Sonne, wie
alle andern Bäume, Pflanzen, Insekten und Vögel, - um wiederzukehren,
wann der Himmel uns wieder lacht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In Hinsicht auf die Schätzung der Größe eines Menschen gilt für die
geistige das umgekehrte Gesetz der physischen: diese wird durch die Ferne
verkleinert, jene vergrößert.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Zum Symbol der Unverschämtheit und Dummdreistigkeit sollte man die Fliege
nehmen. Denn während alle Tiere den Menschen über alles scheuen und
schon von ferne vor ihm fliehen, setzt sie sich ihm auf die Nase.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wie die zahlreichste Bibliothek, wenn ungeordnet, nicht so viel Nutzen
schafft, als eine sehr mäßige, aber wohlgeordnete; ebenso ist die größte
Menge von Kenntnissen, wenn nicht eigenes Denken sie durchgearbeitet hat,
viel weniger wert, als eine weit geringere, die aber vielfältig durchdacht
worden. Denn erst durch das allseitige Kombinieren dessen, was man weiß,
durch das Vergleichen jeder Wahrheit mit jeder andern, eignet man sein
eignes Wissen sich vollständig an und bekommt es in seine Gewalt. Durchdenken
kann man nur was man weiß; daher man etwas lernen soll; aber man weiß
auch nur was man durchdacht hat. Nun aber kann man sich zwar willkürlich
applizieren auf Lesen und Lernen; auf das Denken hingegen eigentlich nicht.
Dieses nämlich muß, wie das Feuer durch einen Luftzug, angefacht und
unterhalten werden durch irgend ein Interesse am Gegenstande desselben;
welches entweder ein rein objektives, oder aber bloß ein subjektives
sein mag. Das letztere ist allein bei unsern persönlichen Angelegenheiten
vorhanden; das erstere aber nur für die von Natur denkenden Köpfe, denen
das Denken so natürlich ist, wie das Atmen, welche aber sehr selten sind.
Daher ist es mit den meisten Gelehrten so wenig.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Verschiedenheit zwischen der Wirkung, welche das Selbstdenken, und
der, welche das Lesen auf den Geist hat, ist unglaublich groß; daher
sie die ursprüngliche Verschiedenheit der Köpfe, vermöge welcher man
zum einen, oder zum andern getrieben wird, noch immerfort vergrößert.
Das Lesen nämlich zwingt dem Geiste Gedanken auf, die der Richtung und
Stimmung, welche er für den Augenblick hat, so fremd und heterogen sind,
wie das Petschaft dem Lack, welchem es sein Siegel aufdrückt. Der Geist
erleidet dabei totalen Zwang von außen, jetzt dies, oder jenes zu denken,
wozu er so eben gar keinen Trieb, noch Stimmung hat. --- Hingegen beim
Selbstdenken folgt er seinem selbsteigenen Triebe, wie diesen für den
Augenblick entweder die äußere Umgebung, oder irgend eine Erinnerung
näher bestimmt hat. Die anschauliche Umgebung nämlich dringt dem Geiste
nicht einen bestimmten Gedanken auf, wie das Lesen; sondern gibt ihm bloß
Stoff und Anlaß zu denken, was seiner Natur und gegenwärtigen Stimmung
gemäß ist. --- Daher nun nimmt das viele Lesen dem Geiste alle Elastizität;
wie ein fortdauernd drückendes Gewicht sie einer Springfeder nimmt; und
ist, um keine eigenen Gedanken zu haben, das sicherste Mittel, daß man
in jeder freien Minute sogleich ein Buch zur Hand nehme. Diese Praxis
ist der Grund, warum die Gelehrsamkeit die meisten Menschen noch geistloser
und einfältiger macht, als sie schon von Natur sind,
und auch ihrer Schriftstellerei allen Erfolg benimmt: sie bleiben, wie
schon Pope sagt:
For ever reading, never to be read. Pope, Dunciad. III, 194.
Die Gelehrten sind die, welche in den Büchern gelesen haben; die Denker,
die Genies, die Welterleuchter und Förderer des Menschengeschlechts sind
aber die, welche unmittelbar im Buche der Welt gelesen haben.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Fabel von der Pandora ist mir von jeher nicht klar gewesen, ja, ungereimt
und verkehrt vorgekommen. Ich vermute, daß sie schon vom Hesiodus selbst
mißverstanden und verdreht worden ist. Nicht alle Uebel, sondern alle
Güter der Welt hat die Pandora, wie es schon ihr Name anzeigt, in der
Büchse. Als Epimetheus diese voreilig öffnet, fliegen die Güter auf
und davon: die Hoffnung allein wird noch gerettet und bleibt uns zurück.
— Endlich habe ich denn die Befriedigung gehabt, ein paar Stellen der
Alten zu finden, welche dieser meiner Ansicht gemäß sind, nämlich ein
Epigramm in der Anthologie (Delectus epigr. graec. ed. Jacobs, cap. VII,
ep. 84) und eine daselbst citierte Stelle des Babrius, welche gleich anhebt:
Ζευς εν πιϑω τα Χρηϧτα παντα ουλλεξας.
(Babr. fab. 58.)
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Daß die Eule der Vogel der Athene ist, mag die nächtlichen Studien der
Gelehrten zum Anlaß haben.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es ist nicht ohne Grund und Sinn, daß der Mythos den Kronos Steine verschlingen
und verdauen läßt: denn das sonst ganz Unverdauliche, alle Betrübnis,
Aerger, Verlust, Kränkung, verdaut allein die Zeit.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Werke aller wirklich befähigten Köpfe unterscheiden sich von den
übrigen durch den Charakter der Entschiedenheit und Bestimmtheit, nebst
daraus entspringender Deutlichkeit und Klarheit, weil solche Köpfe allemal
bestimmt und deutlich wußten was sie ausdrücken wollten, --- es mag
nun in Prosa, in Versen oder in Tönen gewesen sein. Diese Entschiedenheit
und Klarheit mangelt den übrigen, und daran sind sie sogleich zu erkennen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Leute, welche so eifrig und eilig sind, strittige Fragen durch Anführung
von Autoritäten zu entscheiden, sind eigentlich froh, wann sie, statt
eigenen Verstandes und Einsicht, daran es fehlt, fremde ins Feld stellen
können. Ihre Zahl ist Legio. Denn, wie Seneca sagt: unus quisque mavult
credere, quam judicare. Bei ihren Kontroversen ist danach die gemeinsam
erwählte Waffe Autoritäten: damit schlagen sie aufeinander los, und
wer etwan hineingeraten ist, thut nicht wohl, sich dagegen mit Gründen
und Argumenten wehren zu wollen: denn gegen diese Waffe sind sie gehörnte
Siegfriede, eingetaucht in die Flut der Unfähigkeit zu denken und zu
urteilen: sie werden ihm daher ihre Autoritäten als ein argumentum ad
verecundiam entgegenhalten und dann victoria schreien.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Im Grunde haben nur die eigenen Grundgedanken Wahrheit und Leben: denn
nur sie versteht man recht eigentlich und ganz. Fremde, gelesene Gedanken
sind die Ueberbleibsel eines fremden Mahles, die abgelegten Kleider eines
fremden Gastes.
Zum eigenen, in uns aufsteigenden Gedanken verhält der fremde, gelesene,
sich wie der Abdruck einer Pflanze der Vorwelt im Stein zur blühenden
Pflanze des Frühlings.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Daß, gleichen Schrittes mit der Vermehrung der Begriffe, der Wortvorrat
einer Sprache vermehrt werde, ist recht und sogar notwendig. Wenn hingegen
letzteres ohne ersteres geschieht; so ist es bloß ein Zeichen der Geistesarmut,
die doch etwas zu Markte bringen möchte und, da sie keine neuen Gedanken
hat, mit neuen Worten kommt.
Diese Art der Sprachbereicherung ist jetzt sehr an der Tagesordnung und
ein Zeichen der Zeit. Aber neue Worte für alte Begriffe sind wie eine
neue Farbe auf ein altes Kleid gebracht. ---
Beiläufig und bloß weil das Beispiel gerade vorliegt sei hier bemerkt,
daß man ,,ersteres und letzteres" nur dann anwenden soll, wann,
wie oben, jeder dieser Ausdrücke mehrere Worte vertritt, nicht aber,
wann nur eines; als wo es besser ist, dieses eine zu wiederholen; welches
überhaupt zu thun die Griechen keinen Anstand nehmen, während die Franzosen
am ängstlichsten sind, es zu vermeiden. Die Deutschen verrennen sich
in ihr ersteres und letzteres bisweilen dermaßen, daß man nicht mehr
weiß, was hinten und was vorne ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
[...] Aber wissen die Herren auch, was es an der Zeit ist? - Eine längst
prophezeite Epoche ist eingetreten: die Kirche wankt, wankt so stark,
daß es sich frägt, ob sie den Schwerpunkt wiederfinden werde: denn der
Glaube ist abhanden gekommen. Ist es doch mit dem Licht der Offenbarung
wie mit andern Lichtern: einige Dunkelheit ist die Bedingung. Die Zahl
derer, welche ein gewisser Grad und Umfang von Kenntnissen zum Glauben
unfähig macht, ist bedenklich groß geworden. Dies bezeugt die allgemeine
Verbreitung des platten Rationalismus, der sein Bulldoggsgesicht immer
breiter auslegt. Die tiefen Mysterien des Christentums, über welche die
Jahrhunderte gebrütet und gestritten haben, schickt er sich ganz gelassen
an, mit seiner Schneiderelle auszumessen und dünkt sich wunderklug dabei.
Vor allem ist das christliche Kerndogma, die Lehre von der Erbsünde,
bei den rationalistischen Plattköpfen zum Kinderspott geworden; weil
eben ihnen nichts klärer und gewisser dünkt, als daß das Dasein eines
jeden mit seiner Geburt angefangen habe, daher er unmöglich verschuldet
auf die Welt gekommen sein könne. Wie scharfsinnig! - Und wie, wenn Verarmung
und Vernachlässigung überhand nehmen, dann die Wölfe anfangen sich
im Dorfe zu zeigen; so erhebt, unter diesen Umständen, der stets bereitliegende
Materialismus das Haupt und kommt, mit seinem Begleiter, dem Bestialismus
(von gewissen Leuten Humanismus genannt), an der Hand, heran. - Mit der
Unfähigkeit zum Glauben wächst das Bedürfnis der Erkenntnis. Es gibt
einen Siedepunkt auf der Skala der Kultur, wo aller Glaube, alle Offenbarung,
alle Autoritäten sich verflüchtigen, der Mensch nach eigener Einsicht
verlangt, belehrt, aber auch überzeugt sein will. Das Gängelband der
Kindheit ist von ihm gefallen: er will auf eigenen Beinen stehn. Dabei
aber ist sein metaphysisches Bedürfnis (Welt als W. und V., Bd. 2, Kap.17)
so unvertilgbar, wie irgend ein physisches. Dann wird es ernst mit dem
Verlangen nach Philosophie, und die bedürftige Menschheit ruft alle denkenden
Geister, die sie jemals aus ihrem Schoß erzeugt hat, an. Mit hohlem Wortkram
und impotenten Bemühungen geistiger Kastraten ist da nicht mehr auszureichen;
sondern es bedarf dann einer ernstlich gemeinten, d. h. einer auf Wahrheit,
nicht auf Gehalte und Honorare gerichteten Philosophie, die daher nicht
frägt, ob sie Ministern oder Räten gefalle, oder dieser oder jener Kirchenpartei
der Zeit in ihren Kram passe; sondern an den Tag legt, daß der Beruf
der Philosophie ein ganz anderer sei, als eine Erwerbsquelle für die
Armen am Geiste abzugeben. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Man wird es nicht müde, der Metaphysik ihre so geringen Fortschritte,
im Angesicht der so großen der physikalischen Wissenschaften vorzuwerfen.
Schon Voltaire ruft aus: 0 mètaphysique! nous sommes aussi avancès que
du tems des premiers Druides. (Mèl. d. phil. ch. 9.) Aber, welche andere
Wissenschaft hat denn, wie sie, allezeit einen Antagonisten ex officio,
einen bestellten fistalischen Ankläger, einen kings champion in vollem
Harnisch, der auf die Wehr- und Waffenlose eindringt, zum beständigen
Hemmnis gehabt? Nimmer wird sie ihre wahren Kräfte zeigen, ihre Riesenschritte
thun können, solange ihr, unter Drohungen, zugemutet wird, sich den,
auf die so kleine Kapazität des so großen Haufens berechneten Dogmen
anzupassen. Erst bindet man uns die Arme, und dann verhöhnt man uns,
daß wir nichts leisten können.
Die Religionen haben sich der metaphysischen Anlage des Menschen bemächtigt,
indem sie teils solche durch frühzeitiges Einprägen ihrer Dogmen lähmen,
teils alle freien und unbefangenen Aeußerungen derselben verbieten und
verpönen, so daß dem Menschen über die wichtigsten und interessantesten
Angelegenheiten, über sein Dasein selbst, das freie Forschen teils direkt
verboten, teils indirekt gehindert, teils subjektiv durch jene Lähmung
unmöglich gemacht wird, und dergestalt die erhabenste seiner Anlagen
in Fesseln liegt.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Was der Auffindung der Wahrheit am meisten entgegensteht ist nicht der
aus den Dingen hervorgehende und zum Irrtum verleitende falsche Schein,
noch auch unmittelbar die Schwäche des Verstandes; sondern es ist die
vorgefaßte Meinung, das Vorurteil, welches, als ein After - a - priori
der Wahrheit sich entgegenstellt und dann einem widrigen Winde gleicht,
der das Schiff von der Richtung, in der allein das Land liegt, zurücktreibt;
so daß jetzt Steuer und Segel vergeblich thätig sind.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn man die vielen und mannigfaltigen Anstalten zum Lehren und Lernen
und das so große Gedränge von Schülern und Meistern sieht, könnte
man glauben, daß es dem Menschengeschlechte gar sehr um Einsicht und
Wahrheit zu thun sei. Aber auch hier trügt der Schein. Jene lehren, um
Geld zu verdienen und streben nicht nach Weisheit, sondern nach dem Schein
und Kredit derselben: und diese lernen nicht, um Kenntnis und Einsicht
zu erlangen, sondern um schwätzen zu können und sich ein Ansehn zu geben.
Alle dreißig Jahre nämlich tritt so ein neues Geschlecht auf, ein Guck-in-die-Welt,
der von nichts weiß und nun die Resultate des durch die Jahrtausende
angesammelten menschlichen Wissens, summarisch, in aller Geschwindigkeit
in sich fressen und dann klüger als alle Vergangenheit sein will. Zu
diesem Zweck bezieht er Universitäten und greift nach den Büchern, und
zwar nach den neuesten, als seinen Zeit- und Altersgenossen. Nur alles
kurz und neu! wie er selbst neu ist. Dann urteilt er darauf los. - Die
eigentlichen Brotstudien habe ich hier nicht einmal in Rechnung gebracht.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Vielleicht kann man den Geist der Alten dadurch charakterisieren, daß
sie durchgängig und in allen Dingen bestrebt waren, so nahe als möglich
der Natur zu bleiben; und dagegen den Geist der neuen Zeit durch das Bestreben,
so weit als möglich von der Natur sich zu entfernen. Man betrachte die
Kleidung, die Sitten, die Geräte, die Wohnungen, die Gefäße, die Kunst,
die Religion, die Lebensweise der Alten und Neuen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Zum Sprachverderb zähle ich auch den immer allgemeiner werdenden verkehrten
Gebrauch des Wortes Frauen statt Weiber, wodurch abermals die Sprache
verarmt: denn Frau heißt uxor und Weib mulier*) (Mädchen sind keine
Frauen, sondern wollen es werden); wenn auch im 13. Jahrhundert eine solche
Verwechselung schon einmal dagewesen sein oder sogar erst später die
Benennungen gesondert sein sollten. Die Weiber wollen nicht mehr Weiber
heißen, aus demselben Grunde, aus welchem die Juden Israeliten**) und
die Schneider Kleidermacher genannt werden wollen, und Kaufleute ihr Comptoir
Bureau titulieren, jeder Spaß oder Witz Humor heißen will, weil nämlich
dem Worte beigemessen wird, was nicht ihm, sondern der Sache anhängt.
Nicht das Wort hat der Sache Geringschätzung zugezogen, sondern umgekehrt;
-- daher nach zweihundert Jahren die Beteiligten abermals auf Vertauschung
der Wörter antragen würden.
Aber keinenfalls darf die deutsche Sprache, einer Weibergrille halber
um ein Wort ärmer werden. Daher lasse man den Weibern und ihren schalen
Theetischlitteraten die Sache nicht durchgehn: vielmehr bedenke man, daß
das Weiberunwesen oder Damentum in Europa uns am Ende dem Mormonismus
in die Arme führen kann***).
*) Die deutsche Sprache hat, wie die lateinische, den Vorzug für genus
und species, für mulier und uxor zwei entsprechende Worte zu haben.
**) Obgleich es seit dem Könige Salamanasser, glorreichen Andenkens,
keine Israeliten mehr gibt.
***) Kürzlich wurde vorgeschlagen, daß, weil das Wort Litterat in Mißkredit
geraten sei, diese Herren sich statt dessen Schriftverfasser nennen sollten.
Es ist mit ganzen Klassen wie mit dem Einzelnen: wenn einer seinen Namen
ändert, so kommt es daher, daß er den frühen nicht mehr mit Ehren tragen
kann: aber er bleibt derselbe und wird dem neuen Namen nicht mehr Ehre
machen als dem alten. --- Das Wort Weib hat jedenfalls nichts verschuldet,
weder durch Klang noch durch Etymologie.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Beifall des heutigen philosophischen Publikums kann für mich keinen
Wert haben: denn dasselbe hat gezeigt, daß es für das Echte, das wirklich
Gute, das tief Gedachte, gar keinen Sinn hat, daß ihm hingegen das Schlechte,
das Gedunsene, auf bloßen Schein Berechnete, ja das ganz Unsinnige, Hegels
Geschreibe, wichtig vorkommt und gefällt. Wie sollte mich der Beifall
desselben je freuen können? --- Er muß mir sein, ich gebrauche Hagedorns
Worte:
"Wie wenn mich ein Jude grüßt
Und mir eine Hure lächelt."
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Studierende und Studierte aller Art und jedes Alters gehn in der Regel
nur auf Kunde aus; nicht auf Einsicht. Sie setzen ihre Ehre darin, von
allem Kunde zu haben, von allen Steinen, oder Pflanzen, oder Bataillen,
oder Experimenten und samt und sonders von allen Büchern. Daß die Kunde
ein bloßes Mittel zur Einsicht sei, an sich aber wenig, oder keinen Wert
habe, fällt ihnen nicht ein, ist hingegen die Denkungsart, welche den
philosophischen Kopf charakterisiert. Bei der imposanten Gelehrsamkeit
jener Vielwisser sage ich mir bisweilen: O, wie wenig muß doch einer
zu denken gehabt haben, damit er so viel hat lesen können! Sogar wenn
vom ältern Plinius berichtet wird, daß er beständig las, oder sich
vorlesen ließ, bei Tische, auf Reisen, im Bade, so dringt sich mir die
Frage auf, ob denn der Mann so großen Mangel an eigenen Gedanken gehabt
habe, daß ihm ohne Unterlaß fremde eingeflößt werden mußten, wie
dem an der Auszehrung Leidenden ein consommè, ihn am Leben zu erhalten.
Und von seinem Selbstdenken mir hohe Begriffe zu geben ist weder seine
urteilslose Leichtgläubigkeit, noch sein unaussprechlich widerwärtiger,
schwer verständlicher, papiersparender Kollektaneenstil geeignet.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Uebrigens ist es in der Gelehrtenrepublik, wie in andern Republiken: man
liebt einen schlichten Mann, der still vor sich hingeht und nicht klüger
sein will, als die andern. Gegen die excentrischen Köpfe, als welche
Gefahr drohen, vereinigt man sich und hat, o welche! Majorität auf seiner
Seite.
In der Gelehrtenrepublik geht es, im ganzen genommen, so her, wie in der
Republik Mexiko, als in welcher jeder bloß auf seinen Vorteil bedacht
ist, Ansehn und Macht für sich suchend, ganz unbekümmert um das Ganze,
welches darüber zu Grunde geht. Ebenso sucht in der Gelehrtenrepublik
jeder nur sich geltend zu machen, um Ansehn zu gewinnen: das einzige,
worin sie alle übereinstimmen, ist, einen wirklich eminenten Kopf, wenn
er sich zeigen sollte, nicht aufkommen zu lassen; da er allen zugleich
gefährlich wird. Wie das Ganze der Wissenschaften dabei fährt, ist leicht
abzusehn.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die Perücke ist doch das wohlgewählte Symbol des reinen Gelehrten als
solchen. Sie ziert den Kopf mit einem reichlichen Maße fremden Haares,
bei Ermangelung des eigenen; wie die Gelehrsamkeit in seiner Ausstattung
mit einer großen Menge fremder Gedanken besteht, welche denn freilich
ihn nicht so wohl und natürlich kleiden, noch so brauchbar in allen Fällen
und allen Zwecken angepaßt sind, noch so fest wurzeln, noch, wenn verbraucht,
sogleich durch andere aus derselben Quelle ersetzt werden, wie die dem
selbsteigenen Grund und Boden entsprossenen; weshalb eben Sterne, im Tristram
Shandy, so unverschämt ist, zu behaupten: An ounce of a mans own wit
is worth a tun of other people's. (Eine Unze eigenen Geistes ist so viel
wert, wie zweitausend Pfund von andrer Leute ihrem.) -
Wirklich verhält auch die vollendeteste Gelehrsamkeit sich zum Genie,
wie ein Herbarium zur stets sich neu erzeugenden, ewig frischen, ewig
jungen, ewig wechselnden Pflanzenwelt, und keinen größeren Kontrast
gibt es, als den zwischen der Gelehrsamkeit des Kommentators und der kindlichen
Naivetät des Alten.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Den bei weitem allermeisten Gelehrten ist ihre Wissenschaft Mittel, nicht
Zweck. Darum werden sie nie etwas Großes darin leisten; weil hiezu erfordert
ist, daß sie dem, der sie treibt, Zweck sei und alles andere, ja, sein
Dasein selbst, nur Mittel. Denn alles was man nicht seiner selbst wegen
treibt, treibt man nur halb, und die wahre Vortrefflichkeit kann, bei
Werken jeder Art, nur das erlangen, was seiner selbst wegen hervorgebracht
wurde und nicht als Mittel zu ferneren Zwecken. Ebenso wird zu neuen und
großen Grundeinsichten nur der es bringen, der zum unmittelbaren Zweck
seiner Studien Erlangung eigener Erkenntnis hat, unbekümmert um fremde.
Die Gelehrten aber, wie sie in der Regel sind, studieren zu dem Zweck,
lehren und schreiben zu können. Daher gleicht ihr Kopf einem Magen und
Gedärmen, daraus die Speisen unverdaut wieder abgehn. Ebendeshalb wird
auch ihr Lehren und Schreiben wenig nützen. Denn andre nähren kann man
nicht mit unverdauten Abgängen, sondern nur mit der Milch, die aus dem
eigenen Blute sich abgesondert hat.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der deutsche Gelehrte ist aber auch zu arm, um redlich und ehrenhaft sein
zu können. Daher ist drehen, winden, sich accommodieren und seine Ueberzeugung
verleugnen, lehren und schreiben was er nicht glaubt, kriechen, schmeicheln,
Partei machen und Kameradschaft schließen, Minister, Große, Kollegen,
Studenten, Buchhändler, Recensenten, kurz, alles eher, als die Wahrheit
und fremdes Verdienst, berücksichtigen, - sein Gang und seine Methode.
Er wird dadurch meistens ein rücksichtsvoller Lump. Infolge davon hat
denn auch, in der deutschen Litteratur überhaupt und der Philosophie
insbesondere, die Unredlichkeit so sehr die Oberhand gewonnen, daß zu
hoffen steht, es werde damit den Punkt erreichen, wo sie, als unfähig,
noch irgend jemanden zu täuschen, unwirksam wird.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Zwischen Professoren und unabhängigen Gelehrten besteht, von alters her,
ein gewisser Antagonismus, der vielleicht in etwas durch den zwischen
Hunden und Wölfen erläutert werden könnte.
Professoren haben, durch ihre Lage, große Vorteile, um zur Kunde ihrer
Zeitgenossen zu gelangen. Dagegen haben unabhängige Gelehrte, durch ihre
Lage, große Vorteile, um zur Kunde der Nachwelt zu gelangen; weil es
dazu, unter andern und viel selteneren Dingen, auch einer gewissen Muße
und Unabhängigkeit bedarf.
Da es lange dauert, ehe die Menschheit herausfindet, wem sie ihre Aufmerksamkeit
zu schenken hat; so können beide nebeneinander wirken.
Im ganzen genommen, ist die Stallfütterung der Professuren am geeignetesten
für die Wiederkäuer. Hingegen die, welche aus den Händen der Natur
die eigene Beute empfangen, befinden sich besser im Freien.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe,
ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrtum, die eigentliche
Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch das, was der Glaube
als den Antichrist personifiziert hat. Dennoch und allen Religionen zum
Trotz, als welche sämtlich das Gegenteil davon behaupten und solches
in ihrer mythischen Weise zu begründen suchen, stirbt jener Grundirrtum
nie ganz auf Erden aus, sondern erhebt immer, von Zeit zu Zeit, sein Haupt
von neuem, bis ihn die allgemeine Indignation abermals zwingt, sich zu
verstecken.
So sicher aber auch das Gefühl einer moralischen Bedeutung der Welt und
des Lebens ist; so ist dennoch die Verdeutlichung derselben und die Enträtselung
des Widerspruchs zwischen ihr und dem Laufe der Welt so schwierig, daß
es mir aufbehalten bleiben konnte, das wahre, allein echte und reine,
daher überall und allezeit wirksame Fundament der Moralität, nebst dem
Ziele, welchem es zuführt, darzulegen; wobei ich zu sehr die Wirklichkeit
des moralischen Hergangs auf meiner Seite habe, als daß ich zu besorgen
hätte, diese Lehre könne jemals noch wieder durch eine andere ersetzt
und verdrängt werden.
Solange jedoch selbst meine Ethik noch von den Professoren unbeachtet
bleibt, gilt auf den Universitäten das Kantische Moralprinzip, und unter
seinen verschiedenen Formen ist die der „Würde des Menschen“ jetzt
am beliebtesten. Die Leerheit derselben habe ich bereits in meiner Abhandlung
über das Fundament der Moral § 8, S. 169 (Bd. 7, S. 194 dieser Gesamtausgabe),
dargethan. Daher hier nur so viel. Wenn man überhaupt früge, worauf
denn diese angebliche Würde des Menschen beruhe; so würde die Antwort
bald dahin gehn, daß es auf seiner Moralität sei. Also die Moralität
auf der Würde, und die Würde auf der Moralität — Aber hievon auch
abgesehn, scheint mir der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches,
am Geiste so beschränktes, am Körper so verletzbares und hinfälliges
Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar zu sein:
Quid superbit homo? cujus conceptio culpa,
Nasci poena, labor vita, necesse mori!
Daher möchte ich, im Gegensatz zu besagter Form des Kantischen Moralprinzips,
folgende Regel aufstellen: bei jedem Menschen, mit dem man in Berührung
kommt, unternehme man nicht eine objektive Abschätzung desselben nach
Wert und Würde, ziehe also nicht die Schlechtigkeit seines Willens, noch
die Beschränktheit seines Verstandes und die Verkehrtheit seiner Begriffe
in Betrachtung; da ersteres leicht Haß, letzteres Verachtung gegen ihn
erwecken könnte: sondern man fasse allein seine Leiden, seine Not, seine
Angst, seine Schmerzen ins Auge: — da wird man sich stets mit ihm verwandt
fühlen, mit ihm sympathisieren und, statt Haß oder Verachtung, jenes
Mitleid mit ihm empfinden, welches allein die αγαπη ist, zu der das
Evangelium aufruft. Um keinen Haß, keine Verachtung gegen ihn aufkommen
zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen „Würde“,
sondern, umgekehrt, der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Wie sehr beschränkt und dürftig der normale menschliche Intellekt sei
und wie gering die Klarheit des Bewußtseins, läßt sich daran ermessen,
daß, ungeachtet der ephemeren kürze des in endlose Zeit hineingeworfenen
Menschenlebens, der Mißlichkeit unsers Daseins, der zahllosen, sich überall
aufdringenden Rätsel, des bedeutsamen Charakters so vieler Erscheinungen
und dabei des durchweg Ungenügenden des Lebens, - dennoch nicht alle
beständig und unablässig philosophieren, ja, nicht einmal viele, oder
auch nur einige, nur wenige; nein, nur hin und wieder einer, nur die gänzlichen
Ausnahmen - Die übrigen leben in diesem Traum dahin, nicht so gar viel
anders, als die Tiere, von denen sie sich am Ende nur durch die Vorsorge
auf einige Jahre im voraus unterscheiden. Für das sich bei ihnen etwan
meldende metaphysische Bedürfnis ist von oben und zum voraus gesorgt,
durch die Religionen; und diese, wie sie auch seien, genügen. - Indessen
könnte es doch sein, daß im stillen viel mehr philosophiert wird, als
es den Anschein hat; wenn es gleich auch danach ausfallen mag. Denn wahrhaftig
eine mißliche Lage ist die unsrige! eine Spanne Zeit zu leben, voll Mühe,
Not, Angst und Schmerz, ohne im mindesten zu wissen, woher, wohin und
wozu, und dabei nun noch die Pfaffen aller Farben, mit ihren respektiven
Offenbarungen über die Sache, nebst Drohungen gegen Ungläubige.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Es ist ganz natürlich, daß wir gegen jede neue Ansicht, über deren
Gegenstand wir irgend ein Urteil uns schon festgestellt haben, uns abwehrend
und verneinend verhalten. Denn sie dringt feindlich in das vorläufig
abgeschlossene System unserer Ueberzeugungen, erschüttert die dadurch
erlangte Beruhigung, mutet uns neue Bemühungen zu und erklärt alte für
verloren. Demgemäß ist eine uns von Irrtümern zurückbringende Wahrheit
einer Arznei zu vergleichen, sowohl durch ihren bittern und widerlichen
Geschmack, als auch dadurch, daß sie nicht im Augenblick des Einnehmens,
sondern erst nach einiger Zeit ihre Wirkung äußert. Sehn wir also schon
das Individuum hartnäckig im Festhalten seiner Irrtümer; so ist es die
Masse und Menge der Menschen noch viel mehr: an ihren einmal gefaßten
Meinungen können Erfahrung und Belehrung sich jahrhundertelang vergeblich
abarbeiten. Daher gibt es denn auch gewisse allgemein beliebte und fest
accreditierte, täglich von unzählbaren mit Selbstgenügen nachgesprochene
Irrtümer, von denen ich ein Verzeichnis angefangen habe, welches fortzuführen
ich andre bitte. *)
1. Selbstmord ist eine feige Handlung.
2. Wer andern mißtraut ist selbst unredlich.
3. Verdienst und Genie sind aufrichtig bescheiden.
4. Die Wahnsinnigen sind überaus unglücklich.
5. Die Philosophie läßt sich nicht lernen, sondern nur das Philosophieren.
(Ist das Gegenteil der Wahrheit.)
6. Es ist leichter eine gute Tragödie, als eine gute Komödie zu schreiben.
7. Das dem Baco von Verulam Nachgesprochene: Ein wenig Philosophie führt
von Gott ab; ein vieles zu ihm zurück.
8. Knowledge is power. Den Teufel auch! Einer kann sehr viel Kenntnis
haben, ohne darum die mindeste
Macht zu besitzen, während ein anderer die höchste Gewalt hat, bei
blutwenigen Kenntnissen. Daher spricht Herodot sehr richtig das
Gegenteil jenes Satzes aus: έχϑιστη
δε όδυνη έστι των έν άνϑρωποιοι αύτη, πολλα
φρονεοντα μηδενος χρατεειν (IX, 16). —
Daß hin und wieder einem seine
Kenntnisse Gewalt über andere geben, z. B. wenn er ihr Geheimnis weiß,
oder sie nicht hinter das seinige kommen können u. s. w.,
berechtigt noch nicht zu jenem Ausspruch.
Die meisten derselben sagen sie einander nur so nach, ohne sonderlich
viel dabei zu denken, und bloß, weil sie, als sie solche zuerst vernahmen,
gefunden haben, daß sie gar weise klängen.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
*) 9. Der Optimismus ist alternativlos. (Ist selbstverständlich
eine Lüge, und die Gleichsetzung des verschmähten Pessimismus mit Schwermut
und Depression auch keine Wahrheit; denn dieser ist zwar illusionszerstörend,
jener hingegen realitätsverdrängend, und, aktuell aus global viral gehendem
Anlaß erwähnenswert, nicht nur einer naturwidrigen Überpopulation,
sondern durch sein grenzenloses, überhebliches und lärmendes Ausleben
seiner selbst, einer Pandemie äußerst zuvorkommend.)
10. Die Hoffnung stirbt zuletzt. (Der Wille stirbt zuletzt, wenn überhaupt.
Denn er ist das Primäre, das Gehirn und sein Bewußtsein, nebst der Illusion
Hoffnung, das Sekundäre.)
11. Die Liebe ist die stärkste Kraft. (Leider falsch, auch hier ist es
"nur" der blinde, lieblose
Wille.)
12. Das Leben muß weitergehen. (Das Leben wird, selbst wenn die Hoffnung
gestorben ist, weitergehen. Entweder für die plagende Menschenmasse,
unweigerlich auf Kosten weiterer Species der Flora und Fauna, oder, sollte
das Menschengeschlecht diese Bühne, wie und wann auch immer, gänzlich
verlassen, für die übriggebliebene Natur. Weitergehen muß das Leben,
zumindest theoretisch, als elendes Menschengeschlechte, gar noch auf einem
anderen Planeten wo die Ödnis schon seine Natur ist, jedoch nicht.)
13. Arthur Schopenhauer war ein Misanthrop.
14. Arbeit macht Frei.
15. Mir fällt die Decke auf den Kopf. (Sicherlich ist nach diesem geäußerten,
unbedacht den Raum und die Zeit im philosophischen Sinne "auf den
Kopf" stellenden Ausspruch, wirklich schon dem entsprechenden Verfasser
jene auf den selben gefallen,
überwiegend in Erdbeben- und Kriegsgebieten, also er direkt sieht oder
/ und hört, oder ahnt daß das Erwähnte sogleich geschieht; doch im
Allgemeinen wird bzw. ist damit
nur indirekt verhalten ausgedrückt, was allein in dem eigenen Kopfe für
eine Situation herrscht, und nicht darüber; nämlich gewiß eine Vorstellung
von Leere, bis zur Schädeldecke und ohne Zutun von außen, große Langeweile,
welche sie stets hinaus zu ihresgleichen,
oft nur wieder unter andere Decken treibt.)
16. Die Würde des Menschen ist unantastbar. (Würden die "Würdigen"
Schopenhauer's Beschreibung dieser Würde lesen, sie würden diesen Satz,
hier, verstehen.)
[...] Aber noch auf etwas anderes,
von beschwerlicheren Folgen, als dieses kleine unschuldige Reich der Zwecke,
welches man, als vollkommen harmlos, ruhig liegen lassen kann, leitet
Kanten seine Autonomie des Willens, nämlich auf den Begriff der Würde
des Menschen. Diese nämlich beruht bloß auf dessen Autonomie, und besteht
darin, daß das Gesetz, dem er folgen soll, von ihm selbst gegeben ist,
— also er zu demselben in dem Verhältnis steht, wie die konstitutionellen
Unterthanen zu dem ihrigen. — Das möchte als Ausschmückung des Kantischen
Moralsystems immerhin dastehen. Allein dieser Ausdruck „Würde des Menschen“,
einmal von Kant ausgesprochen, wurde nachher das Schiboleth aller rat=
und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen, oder
wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen
imponierenden Ausdruck „Würde des Menschen“ versteckten, klug darauf
rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angethan
sehen und demnach damit zufrieden gestellt sein würde*). Wir wollen jedoch
auch diesen Begriff etwas näher untersuchen und auf Realität prüfen.
— Kant (S. 70; — R., S. 66) definiert Würde als „einen unbedingten,
unvergleichbaren Wert“. Dies ist eine Erklärung, die durch ihren erhabenen
Klang dermaßen imponiert, daß nicht leicht einer sich untersteht, heranzutreten,
um sie in der Nähe zu untersuchen, wo er dann finden würde, daß eben
auch sie nur eine hohle Hyperbel ist, in deren Innerem, als nagender Wurm,
die contradictio in adjecto nistet. Jeder Wert ist die Schätzung einer
Sache im Vergleich mit einer anderen, also ein Vergleichungsbegriff, mithin
relativ, und diese Relativität macht eben das Wesen des Begriffes Wert
aus. Schon die Stoiker haben (nach Diog. Laert., L. VII, c. 106) richtig
gelehrt: τήν ϐε άξίαν είναι άμοιβήν ϐοκιμάστου,
ήν άν ϐ έμπειρος τών πραγμάτων τάξη· ϐμοιον
είπεϊν, άηείβεσϑαι πυρούς πρός τάς σύν
ήμιόνφ κριϑάς (existimationem esse probati remunerationem,
quamcunque statuerit peritus rerum; quod hujusmodi est, ac si dicas, commutare
cum hordeo, adjecto mulo, triticum). Ein unvergleichbarer, unbedingter,
absoluter Wert, dergleichen die Würde sein soll, ist demnach, wie so
vieles in der Philosophie, die mit Worten gestellte Aufgabe zu einem Gedanken,
der sich gar nicht Denken läßt, so wenig wie die höchste Zahl, oder
der größte Raum.
„Doch eben wo Begriffe
fehlen,
Da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein.“
So war denn auch hier an der „Würde des Menschen“ ein höchst willkommenes
Wort auf die Bahn geworfen, an welchem nunmehr jede, durch alle Klassen
der Pflichten und alle Fälle der Kasuistik ausgesponnene Moral ein breites
Fundament fand, von welchem herab sie mit Behagen weiter predigen konnte.
*) Der erste, der den Begriff der „Würde des Menschen“ ausdrücklich
und ausschließlich zum Grundstein der Ethik gemacht und diese demnach
ausgeführt hat, scheint gewesen zu sein G. W. Block, in seiner „neuen
Grundlegung der Philosophie der Sitten“, 1802. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Aussprüche der Vernunft nennt jeder gewisse Sätze, die er ohne Untersuchung
für wahr hält und davon er sich so fest überzeugt glaubt, daß sogar,
wenn er es wollte, er es nicht dahin bringen könnte, sie ernstlich zu
prüfen, als wozu er sie einstweilen in Zweifel ziehen müßte. In diesen
festen Kredit sind sie bei ihm dadurch gekommen, daß, als er anfing zu
reden und zu denken, sie ihm anhaltend vorgesagt und dadurch eingeimpft
wurden; daher denn seine Gewohnheit sie zu denken ebenso alt ist, wie
die Gewohnheit überhaupt zu denken; wodurch es kommt, daß er beides
nicht mehr trennen kann; ja, sie sind mit seinem Gehirn verwachsen. Das
hier Gesagte ist so wahr, daß es mit Beispielen zu belegen einerseits
überflüssig und andererseits bedenklich wäre.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Auf verschiedenen Teilen der Erde ist unter gleichen oder analogen, klimatischen,
topographischen und atmosphärischen Bedingungen das gleiche, oder analoge,
Pflanzen- und Tiergeschlecht entstanden. Daher sind einige Spezies einander
sehr ähnlich, ohne jedoch identisch zu sein (und dies ist der eigentliche
Begriff des Genus), und zerfallen manche in Rassen und Varietäten, die
nicht auseinander entstanden sein können, wiewohl die Spezies dieselbe
bleibt. Denn Einheit der Spezies impliziert keineswegs Einheit des Ursprungs
und Abstammung von einem einzigen Paar. Diese ist überhaupt eine absurde
Annahme. Wer wird glauben, daß alle Eichen von einer einzigen ersten
Eiche, alle Mäuse von einem ersten Mäusepaar, alle Wölfe vom ersten
Wolfe abstammen? Sondern die Natur wiederholt, unter gleichen Umständen,
aber an verschiedenen Orten, denselben Prozeß und ist viel zu vorsichtig,
als daß sie die Existenz einer Spezies, zumal der obern Geschlechter,
ganz prekär sein ließe, indem sie dieselbe auf eine einzige Karte stellte
und dadurch ihr schwer gelungenes Werk tausend Zufällen preisgäbe. Vielmehr
weiß sie was sie will, will es entschieden, und demgemäß geht sie zu
Werke. Die Gelegenheit aber ist nie eine ganz einzige und alleinige. So
wenig nun der nie abgerichtete afrikanische Elefant, dessen Ohren, sehr
breit und lang, den Nacken bedecken, und dessen Weibchen ebenfalls Stoßzähne
hat, abstammen kann von dem so gelehrigen und intelligenten asiatischen
Elefanten, dessen Weibchen keine Stoßzähne hat und dessen Ohren bei
weitem nicht so groß sind; - und so wenig der amerikanische Alligator
vom Krokodil des Nils abstammt, da beide sich durch die Zähne und die
Zahl der Schilder auf dem Nacken unterscheiden: --- ebensowenig kann der
Neger von der Kaukasischen Rasse abstammen.
Jedoch ist das Menschengeschlecht höchst wahrscheinlich nur an drei Stellen
entstanden; weil wir nur drei bestimmt gesonderte Typen, die auf ursprüngliche
Rassen deuten, haben: den kaukasischen, den mongolischen und den äthiopischen
Typus. Und zwar hat diese Entstehung nur in der Alten Welt stattfinden
können. Denn in Australien hat die Natur es zu gar keinen Affen, in Amerika
aber nur zu langgeschwänzten Meerkatzen, nicht aber zu den kurzgeschwänzten,
geschweige zu den obersten, den ungeschwänzten Affengeschlechtern bringen
können, welche die letzte Stufe, vor dem Menschen, einnehmen. Natura
non facit saltus. Ferner hat die Entstehung des Menschen nur zwischen
den Wendekreisen eintreten können; weil in den andern Zonen der neu entstandene
Mensch im ersten Winter umgekommen wäre. Denn er war, wenn auch wohl
nicht ohne mütterliche Pflege, doch ohne Belehrung herangewachsen und
hatte von keinen Vorfahren Kenntnisse ererbt. Also mußte der Säugling
der Natur zuerst an ihrem warmen Busen ruhen, ehe sie ihn in die rauhe
Welt hinausschicken durfte. In den heißen Zonen nun aber ist der Mensch
schwarz, oder wenigstens dunkelbraun. Dies also ist, ohne Unterschied
der Rasse, die wahre, natürliche und eigentümliche Farbe des Menschengeschlechts
und nie hat es eine von Natur weiße Rasse gegeben: ja, von einer solchen
zu reden und die Menschen, kindischer Weise, in die weiße, gelbe und
schwarze Rasse einzuteilen, wie noch in allen Büchern geschieht, zeugt
von großer Befangenheit und Mangel an Nachdenken. Schon in den Ergänzungen
zur "Welt als Wille und Vorstellung", Kap. 44, S. 550 (Bd. 6,
S. 103 ff. dieser Gesamtausgabe), habe ich den Gegenstand kurz erörtert
und es ausgesprochen, daß nie ein weißer Mensch ursprünglich aus dem
Schoße der Natur hervorgegangen ist. Nur zwischen den Wendekreisen ist
der Mensch zu Hause, und da ist er überall schwarz, oder dunkelbraun;
bloß in Amerika nicht durchgängig, weil dieser Weltteil größtenteils
von bereits abgeblichenen Nationen, hauptsächlich Chinesen, bevölkert
worden ist. Inzwischen sind die Wilden in den brasilianischen Wäldern
doch schwarzbraun*): Erst nachdem der Mensch außerhalb der ihm allein
natürlichen, zwischen den Wendekreisen gelegenen Heimat, lange Zeit hindurch
sich fortgepflanzt hat und, infolge dieser Vermehrung, sein Geschlecht
sich bis in die kälteren Zonen verbreitet, wird er hell und endlich weiß.
Also erst infolge des klimatischen Einflusses der gemäßigten und kalten
Zonen ist der europäische Menschenstamm allmählich weiß geworden. Wie
langsam dies geht, sehn wir an den Zigeunern, einem Hindustamm, der seit
dem Anfange des 15. Jahrhunderts in Europa nomadisiert und dessen Farbe
noch ziemlich die Mitte hält zwischen der der Hindu und der unsrigen;
desgleichen an den Negersklavenfamilien, welche seit 300 Jahren in Nordamerika
sich fortpflanzen und bloß etwas heller geworden sind: indessen werden
diese dadurch aufgehalten, daß sie doch zwischendurch mit frischen, ebenholzschwarzen
Ankömmlingen sich vermischen; eine Erneuerung, welche den Zigeunern nicht
zu teil wird. Die nächste physische Ursache dieses Verbleichens des aus
seiner natürlichen Heimat verbannten Menschen vermute ich darin, daß,
im heißen Klima, Licht und Wärme aus dem rete Malpighi eine langsame,
aber beständige Desoxydation der bei uns unzersetzt durch die Poren entweichenden
Kohlensäure hervorbringen, welche alsdann so viel Karbon zurückläßt,
als zur Färbung der Haut ausreicht: der spezifische Geruch der Neger
hängt wahrscheinlich damit zusammen. Daß bei weißen Völkern die untern,
angestrengt arbeitenden Klassen durchgängig dunkler sind, als die höhern
Stände, erklärt sich daraus, daß sie mehr schwitzen, welches, in viel
schwächerem Grade, dem heißen Klima analog wirkt. Demnach nun muß jedenfalls
der Adam unserer Rasse schwarz gedacht werden, und lächerlich ist es,
wenn Maler diesen ersten Menschen weiß, in der durch Verbleichung entstandenen
Farbe, darstellen: da ferner Jehovah ihn nach seinem eigenen Bild geschaffen
hat, so ist auf Kunstwerken auch dieser schwarz darzustellen; wobei man
ihm jedoch den herkömmlichen weißen Bart lassen kann; da die Dünnbärtigkeit
nicht der schwarzen Farbe, sondern bloß der äthiopischen Rasse anhängt.
Sind ja doch auch die ältesten Madonnenbilder, wie man sie im Orient
und auch noch in einigen alten italienischen Kirchen antrifft, mitsamt
dem Christkinde von schwarzer Gesichtsfarbe. In der That ist das ganze
auserwählte Volk Gottes schwarz, oder doch dunkelbraun gewesen und ist
noch jetzt dunkler, als wir, die wir von früher eingewanderten heidnischen
Völkerschaften abstammen. Das jetzige Syrien aber ist von Mischlingen,
die zum Teil aus Nordasien stammen (wie z. B. die Turkomannen), bevölkert
worden. Imgleichen wird auch Buddha bisweilen schwarz dargestellt, und
sogar auch Konfuzius. (S. Davis, The Chinese, Vol. 2, p. 66.) Daß die
weiße Gesichtsfarbe eine Ausartung und unnatürlich sei, bezeugt der
Ekel und Widerwille, den, bei einigen Völkern des innern Afrikas der
erste Anblick derselben erregt hat: sie erscheint diesen Völkern als
eine krankhafte Verkümmerung. Einen Reisenden in Afrika bewirteten Negermädchen
sehr freundlich mit Milch und sangen dazu: ,,Armer Fremdling, wie dauerst
du uns, daß du so weiß bist!" Eine Note zu Byrons Don Juan (Canto
XII. stanza 70) berichtet folgendes: Major Denham says, that when he first
saw European women after his travels in Afrika, they appeared to him to
have unnatural sickly countenances, (Major Denham sagt, daß als er, nach
seinen Reisen in Afrika, zuerst wieder europäische Weiber sah, sie ihm
unnatürlich krankhafte Gesichter zu haben schienen.) - Inzwischen reden,
nach Büffons Vorgang (S. Flourens, Buffon, Histoire de ses traveaux et
de ses idees, Paris 1844. p. 160 sq.), die Ethnographen noch immer ganz
getrost von der weißen, der gelben, der roten und der schwarzen Rasse,
indem sie ihren Einteilungen hauptsächlich die Farbe zum Grunde legen,
während, in Wahrheit, diese gar nichts Wesentliches ist und ihr Unterschied
keinen andern Ursprung hat, als die größere oder geringere, und frühere
oder spätere Entfernung eines Stammes von der heißen Zone, als in welcher
allein das Menschengeschlecht indigen ist und daher außerhalb ihrer nur
unter künstlicher Pflege, indem es, wie die exotischen Pflanzen, im Treibhause
überwintert, bestehn kann, dabei aber allmählich, und zwar zunächst
in der Farbe, ausartet. Daß, nach der Abbleichung, die Farbe der mongolischen
Rasse etwas gelblicher ausfällt, als die der kaukasischen, kann allerdings
in einem Rassenunterschiede begründet sein. - Daß die höchste Zivilisation
und Kultur sich, - abgesehn von den alten Hindu und Aegyptern, - ausschließlich
bei den weißen Nationen findet und sogar bei manchen dunkeln Völkern
die herrschende Kaste, oder Stamm, von hellerer Farbe, als die übrigen,
daher augenscheinlich eingewandert ist, - z. B. die Brahmanen, die Inkas,
die Herrscher auf den Südseeinseln, --- dies beruht darauf, daß die
Not die Mutter der Künste ist; weil nämlich die früh nach Norden ausgewanderten
und dort allmählich weißgebleichten Stämme daselbst im Kampfe mit der
durch das Klima herbeigeführten, vielgestalteten Not alle ihre intellektuellen
Kräfte haben entwickeln und alle Künste erfinden und ausbilden müssen,
um die Kargheit der Natur zu kompensieren. Daraus ist ihre hohe Zivilisation
hervorgegangen.
Wie die dunkle Farbe, so auch ist dem Menschen die vegetabilische Nahrung
die natürliche. Aber wie jener, so bleibt er auch dieser nur im tropischen
Klima getreu. Als er sich in die kälteren Zonen verbreitete, mußte er
dem ihm unnatürlichen Klima durch eine ihm unnatürliche Nahrung entgegenwirken.
Im eigentlichen Norden kann man ohne Fleischspeise gar nicht bestehn:
man hat mir gesagt, daß schon in Kopenhagen eine sechswöchentliche Gefängnisstrafe
bei Wasser und Brot, wenn im strengsten Sinn und ohne Ausnahme vollzogen,
als lebensgefährlich betrachtet werde. Der Mensch ist also zugleich weiß
und karnivor geworden. Eben dadurch aber, wie auch durch die stärkere
Bekleidung, hat er eine gewisse unreine und ekelhafte Beschaffenheit angenommen,
welche die andern Tiere, wenigstens in ihrem Naturzustande, nicht haben,
und der er durch beständige, besondere Reinlichkeit entgegenarbeiten
muß, um nicht widerwärtig zu sein: daher solches auch nur der wohlhabenderen,
bequemer lebenden Klasse, der deshalb im Italienischen treffend benannten
gente pulita, zusteht**). Eine andere Folge der stärkeren Bekleidung
ist, daß, während alle Tiere in ihrer natürlichen Gestalt, Bedeckung
und Farbe einhergehend, einen naturgemäßen, erfreulichen und ästhetischen
Anblick gewähren, der Mensch, in seiner mannigfaltigen, oft sehr wunderlichen
und abenteuerlichen, zudem auch oft ärmlichen und lumpigen Bekleidung,
unter ihnen als eine Karikatur umhergeht, eine Gestalt, die nicht zum
Ganzen paßt, nicht hinein gehört, indem sie nicht, wie alle übrigen,
das Werk der Natur, sondern eines Schneiders ist, und somit eine impertinente
Unterbrechung des harmonischen Ganzen der Welt abgibt. Der edle Sinn und
Geschmack der Alten suchte diesen Uebelstand dadurch zu mildern, daß
die Bekleidung möglichst leicht war und so gestaltet, daß sie nicht,
eng anschließend, mit dem Leibe zu eins verschmolz, sondern als ein Fremdes
aufliegend gesondert blieb und die menschliche Gestalt in allen Teilen
möglichst deutlich erkennen ließ. Durch den entgegengesetzten Sinn ist
die Kleidung des Mittelalters und der neuen Zeit geschmacklos, barbarisch
und widerwärtig. Aber das Widerwärtigste ist die heutige Kleidung der,
Damen genannten, Weiber, welche, der Geschmacklosigkeit ihrer Urgroßmütter
nachgeahmt, die möglichst große Entstellung der Menschengestalt liefert,
und dazu noch unter dem Gepäck des Reifrocks, der ihre Breite der Höhe
gleich macht, eine Anhäufung unsauberer Evaporationen vermuten läßt,
wodurch sie nicht nur häßlich und widerwärtig, sondern auch ekelhaft
sind.
*) Die Wilden sind nicht Urmenschen, so wenig als die wilden Hunde in
Südamerika Urhunde: sondern diese sind verwilderte Hunde und jene verwilderte
Menschen, Abkömmlinge dahin verirrter oder verschlagener Menschen aus
einem kultivierten Stamm, dessen Kultur unter sich zu erhalten sie unfähig
waren.
**) Eine wohl noch nicht bemerkte physische Verschiedenheit des Menschen
von den Tieren ist, daß das Weiße der Selerotica beständig sichtbar
bleibt. Kapitän Mathew sagt, es wäre bei den Buschmännern, die jetzt
in London gezeigt werden, nicht der Fall, ihre Augen seien rund und ließen
nicht daß Weiße sehen. Bei Goethe war umgekehrt das Weiße auch über
der Iris meistens sichtbar.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Jedoch, wie unser Leib auseinanderplatzen müßte, wenn der Druck der
Atmosphäre von ihm genommen wäre; - so würde, wenn der Druck der Not,
Mühseligkeit, Widerwärtigkeit und Vereitelung der Bestrebungen vom Leben
der Menschen weggenommen wäre, ihr Uebermut sich steigern, wenn auch
nicht bis zum Platzen, doch bis zu den Erscheinungen der zügellosesten
Narrheit, ja, Raserei. - Sogar bedarf jeder allezeit eines gewissen Quantums
Sorge, oder Schmerz, oder Not, wie das Schiff des Ballasts, um fest und
gerade zu gehn.
Arbeit, Plage, Mühe und Not ist allerdings, ihr ganzes Leben hindurch,
das Los fast aller Menschen. Aber, wenn alle Wünsche, kaum entstanden,
auch schon erfüllt wären; womit sollte dann das menschliche Leben ausgefüllt,
womit die Zeit zugebracht werden? Man versetze dies Geschlecht in ein
Schlaraffenland, wo alles von selbst wüchse und die Tauben gebraten herumflögen,
auch jeder seine Heißgeliebte alsbald fände, und ohne Schwierigkeit
erhielte. - Da werden die Menschen zum Teil vor Langerweile sterben, oder
sich aufhängen, zum Teil aber einander bekriegen, würgen und morden,
und so sich mehr Leiden verursachen, als jetzt die Natur ihnen auflegt.
- Also für ein solches Geschlecht paßt kein anderer Schauplatz, kein
anderes Dasein.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
In der gegenwärtigen, geistig impotenten und sich durch die Verehrung
des Schlechten, in jeder Gattung auszeichnenden Periode, — welche sich
recht passend mit dem selbstfabrizierten, so prätensiösen, wie kakophonischen
Worte „Jetztzeit“ bezeichnet, als wäre ihr Jetzt das Jetzt ϰατ`
εξοχην, das Jetzt, welches heranzubringen alle andern Jetzt allein
dagewesen, — entblöden denn auch die Pantheisten sich nicht, zu sagen,
das Leben sei, wie sie es nennen, „Selbstweck“. --- Wenn dieses unser
Dasein der letzte Zweck der Welt wäre; so wäre es der albernste Zweck,
der je gesetzt worden: möchten nun wir selbst, oder ein anderer ihn gesetzt
haben. —
Das Leben stellt sich zunächst dar als eine Aufgabe, nämlich die, es
zu erhalten, de gagner sa vie. Ist diese gelöst, so ist das Gewonnene
eine Last, und es tritt die zweite Aufgabe ein, darüber zu disponieren,
um nämlich die Langeweile abzuwehren, die über jedes gesicherte Leben,
wie ein lauernder Raubvogel, herfällt. Also ist die erste Aufgabe, etwas
zu gewinnen, und die zweite, dasselbe, nachdem es gewonnen ist, unfühlbar
zu machen, indem es sonst eine Last ist. ---
Daß das menschliche Dasein eine Art Verirrung sein müsse, geht zur Genüge
aus der einfachen Bemerkung hervor, daß der Mensch ein Konkrement von
Bedürfnissen ist, deren schwer zu erlangende Befriedigung ihm doch nichts
gewährt, als einen schmerzlosen Zustand, in welchem er nur noch der Langenweile
preisgegeben ist, welche dann geradezu beweist, daß das Dasein an sich
selbst keinen Wert hat: denn sie ist eben nur die Empfindung der Leerheit
desselben. Wenn nämlich das Leben, in dem Verlangen nach welchem unser
Wesen und Dasein besteht, einen positiven Wert und realen Gehalt in sich
selbst hätte; so könnte es gar keine Langeweile geben: sondern das bloße
Dasein, an sich selbst, müßte uns erfüllen und befriedigen. Nun aber
werden wir unsers Daseins nicht anders froh, als entweder im Streben,
wo die Ferne und die Hindernisse das Ziel als befriedigend uns vorspiegeln,
— welche Illusion nach der Erreichung verschwindet; — oder aber in
einer rein intellektuellen Beschäftigung, in welcher wir jedoch eigentlich
aus dem Leben heraustreten, um es von außen zu betrachten, gleich Zuschauern
in den Logen. Sogar der Sinnengenuß selbst besteht in einem fortwährenden
Streben und hört auf, sobald sein Ziel erreicht ist. So oft wir nun nicht
in einem jener beiden Fälle begriffen, sondern auf das Dasein selbst
zurückgewiesen sind, werden wir von der Gehaltlosigkeit und Nichtigkeit
desselben überführt, — und das ist die Langeweile. — Sogar das uns
inwohnende und unvertilgbare, begierige Haschen nach dem Wunderbaren zeigt
an, wie gern wir die so langweilige, natürliche Ordnung des Verlaufs
der Dinge unterbrochen sähen. --- Auch die Pracht und Herrlichkeit der
Großen, in ihrem Prunk und ihren Festen, ist doch im Grunde nichts, als
ein vergebliches Bemühen, über die wesentliche Armseligkeit unsers Daseins
hinauszukommen. Denn was sind, beim Lichte betrachtet, Edelsteine, Perlen,
Federn, roter Samt bei vielen Kerzen, Tänzer und Springer, Masken-An-
und -Aufzüge u. dgl. m.?
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Daß die vollkommenste Erscheinung des Willens zum Leben, die sich in
dem so überaus künstlich komplizierten Getriebe des menschlichen Organismus
darstellt, zu Staub zerfallen muß und so ihr ganzes Wesen und Streben
am Ende augenfällig der Vernichtung anheim gegeben wird, --- dies ist
die naive Aussage der allezeit wahren und aufrichtigen Natur, daß das
ganze Streben dieses Willens ein wesentlich nichtiges sei. Wäre es etwas
an sich Wertvolles, etwas, das unbedingt sein sollte; so würde es nicht
das Nichtsein zum Ziele haben. — Das Gefühl hievon liegt auch Goethes
schönem Liede:
„Hoch auf dem alten Turme
steht
Des Helden edler Geist,“
zum Grunde. — Die Notwendigkeit des Todes ist zunächst daraus abzuleiten,
daß der Mensch eine bloße Erscheinung, kein Ding an sich, also kein
οντως ον ist. Denn, wäre er dieses, so könnte er nicht vergehn.
Daß aber nur in Erscheinungen dieser Art das ihnen zum Grunde liegende
Ding an sich sich darstellen kann, ist eine Folge der Beschaffenheit desselben.
Welch ein Abstand ist doch zwischen unserm Anfang und unserm Ende! jener
in dem Wahn der Begier und dem Entzücken der Wollust; dieses in der Zerstörung
aller Organe und dem Moderdufte der Leichen. Auch geht der Weg zwischen
beiden, in Hinsicht auf Wohlsein und Lebensgenuß, stetig bergab: die
seelig träumende Kindheit, die fröhliche Jugend, das mühselige Mannesalter,
das gebrechliche, oft jämmerliche Greisentum, die Marter der letzten
Krankheit und endlich der Todeskampf; — sieht es nicht geradezu aus,
als wäre das Dasein ein Fehltritt, dessen Folgen allmählich und immer
mehr offenbar würden?
Am richtigsten werden wir das Leben fassen als einen desengaño, eine
Enttäuschung: darauf ist, sichtbarlich genug, alles abgesehn.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Was ist der größte Genuß, der dem Menschen möglich? --- "Die
intuitive Erkenntnis der Wahrheit." - Die Richtigkeit der Antwort
leidet nicht den mindesten Zweifel.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Was mir die Echtheit und daher die Unvergänglichkeit meiner Philosopheme
verbürgt, ist, daß ich sie gar nicht gemacht habe; sondern sie haben
sich selbst gemacht. Sie sind in mir entstanden ganz ohne mein Zuthun,
in Momenten, wo alles Wollen in mir gleichsam tief eingeschlafen war,
und der Intellekt nun völlig herrenlos und dadurch müßig thätig war,
die Anschauung der wirklichen Welt auffaßte und sie mit dem Denken parallelisierte,
beide gleichsam spielend aneinander haltend, ohne daß mein Wille irgendwie
der Sache auch nur vorstand, sondern alles sich völlig ohne mein Zuthun,
ganz von selbst machte. Mit dem Wollen ist aber auch alle Individualität
verschwunden und aufgehoben: daher war mein Individuum hier nicht im Spiel,
sondern es war die Anschauung selbst, rein und für sich, d. h. die rein
objektive Anschauung oder die objektive Welt selbst, die sich in den Begriff
rein und für sich absetzte. Beide hatten meinen Kopf zum Tummelplatz
dieser Operation gewählt, weil er dazu tauglich war. Was nicht vom Individuo
ausgegangen, ist auch nicht dem Individuo allein eigen: es gehört der
bloß erkennbaren und bloß erkennenden Welt an, bloß dem Intellekt und
der ist, der Beschaffenheit (nicht dem Grade) nach, in allen Individuen
derselbe; solches muß also einst die Einstimmung aller Individuen erhalten.
---
Nur was in solchen Momenten ganz willensreiner Erkenntnis in mir sich
darstellte, habe ich als bloßer Zuschauer und Zeuge aufgeschrieben und
zu meinem Werke benutzt. Das verbürgt dessen Echtheit und läßt mich
nicht irre werden beim Mangel alles Anteils und aller Anerkennung.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Geht man, bei der Auffassung der Welt, vom Dinge an sich, dem Willen zum
Leben, aus; so findet man als dessen Kern, als dessen größte Konzentration,
den Generationsakt: dieser stellt sich dann dar als das Erste, als der
Ausgangspunkt: er ist das punctum saliens des Welteies und die Hauptsache.
Welch ein Kontrast hingegen, wenn man von der als Erscheinung gegebenen,
empirischen Welt, der Welt als Vorstellung ausgeht! Hier nämlich stellt
jener Akt sich dar als ein ganz Einzelnes und Besonderes, von untergeordneter
Wichtigkeit, ja, als eine verdeckte und versteckte Nebensache, die sich
nur einschleicht, eine paradoxe Anomalie, die häufigen Stoff zum Lachen
gibt. Es könnte uns jedoch auch bedünken, der Teufel habe nur sein Spiel
dabei verstecken wollen: denn der Beischlaf ist sein Handgeld und die
Welt sein Reich. Hat man denn nicht bemerkt, wie illico post coitum cachinnus
auditur Diaboli? welches ernstlich gesprochen, darauf beruht, daß die
Geschlechtsbegierde, zumal wenn, durch Fixieren auf ein bestimmtes Weib,
zur Verliebtheit konzentriert, die Quintessenz der ganzen Prellerei dieser
nobeln Welt ist; da sie so unaussprechlich, unendlich und überschwänglich
viel verspricht und dann so erbärmlich wenig hält. ---
Der Anteil des Weibes an der Zeugung ist, in gewissem Sinne, schuldloser,
als der des Mannes; sofern nämlich dieser dem zu Erzeugenden den Willen
gibt, welcher die erste Sünde und daher die Quelle alles Bösen und Uebels
ist; das Weib hingegen die Erkenntnis, welche den Weg zur Erlösung eröffnet.
Der Generationsakt ist der Weltknoten, indem er besagt: "Der Wille
zum Leben hat sich aufs neue bejaht." In diesem Sinne wehklagt eine
stehende brahmanische Floskel "Wehe, wehe! der Lingam ist in der
Yoni." --- Die Konzeption und Schwangerschaft hingegen besagt: "Dem
Willen ist auch wieder das Licht der Erkenntnis beigegeben;" - bei
welchem nämlich er seinen Weg wieder hinausfinden kann, und also die
Möglichkeit der Erlösung aufs neue eingetreten ist.
Hieraus erklärt sich die beachtenswerte Erscheinung, daß, während jedes
Weib, wenn beim Generationsakte überrascht, vor Scham vergehn möchte,
sie hingegen ihre Schwangerschaft, ohne eine Spur von Scham, ja, mit einer
Art Stolz, zur Schau trägt; da doch sonst überall ein unfehlbar sicheres
Zeichen als gleichbedeutend mit der bezeichneten Sache selbst genommen
wird, daher denn auch jedes andere Zeichen des vollzogenen Coitus das
Weib im höchsten Grade beschämt; nur allein die Schwangerschaft nicht.
Dies ist daraus zu erklären, daß, laut Obigem, die Schwangerschaft,
in gewissem Sinne, eine Tilgung der Schuld, welche der Coitus kontrahiert,
mit sich bringt, oder wenigstens in Aussicht stellt. Daher trägt der
Coitus alle Scham und Schande der Sache; hingegen die ihm so nahe verschwisterte
Schwangerschaft bleibt rein und unschuldig, ja, wird gewissermaßen ehrwürdig.
Der Coitus ist hauptsächlich die Sache des Mannes; die Schwangerschaft
ganz allein des Weibes. Vom Vater erhält das Kind den Willen, den Charakter;
von der Mutter den Intellekt. Dieser ist das erlösende Prinzip; der Wille
das bindende. Das Anzeichen des steten Daseins des Willens zum Leben in
der Zeit, trotz aller Steigerung der Beleuchtung durch den Intellekt,
ist der Coitus: das Anzeichen des diesem Willen aufs neue zugesellten,
die Möglichkeit der Erlösung offen haltenden Lichtes der Erkenntnis,
und zwar im höchsten Grade der Klarheit, ist die erneuerte Menschwerdung
des Willens zum Leben. Das Zeichen dieser ist die Schwangerschaft, welche
daher frank und frei, ja, stolz einhergeht, während der Coitus sich verkriecht,
wie ein Verbrecher.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
,,,,
Wenn wir irgend ein Naturwesen, z. B. ein Tier, in seinem Dasein, Leben
und Wirken anschauen und betrachten; so steht es, trotz allem, was Zoologie
und Zootomie darüber lehren, als ein unergründliches Geheimnis vor uns.
Aber sollte denn die Natur, aus bloßer Verstocktheit, ewig vor unsrer
Frage verstummen? Ist sie nicht, wie alles Große, offen, mitteilend und
sogar naiv? Kann daher ihre Antwort je aus einem andern Grunde fehlen,
als weil die Frage verfehlt war, schief war, von falschen Voraussetzungen
ausging, oder gar einen Widerspruch herbergte? Denn, läßt es sich wohl
denken, daß es einen Zusammenhang von Gründen und Folgen da geben könne,
wo er ewig und wesentlich unentdeckt bleiben muß? - Gewiß, das alles
nicht. Sondern das Unergründliche ist es darum, weil wir nach Gründen
und Folgen forschen auf einem Gebiete, dem diese Form fremd ist, und wir
also der Kette der Gründe und Folgen auf einer ganz falschen Fährte
nachgehn. Wir suchen nämlich das innere Wesen der Natur, welches aus
jeder Erscheinung uns entgegentritt, am Leitfaden des Satzes vom Grunde
zu erreichen; - während doch dieser die bloße Form ist, mit der unser
Intellekt die Erscheinung, d. i. die Oberfläche der Dinge, auffaßt:
wir aber wollen damit über die Erscheinung hinaus. Denn innerhalb dieser
ist er brauchbar und ausreichend. Da läßt z. B. das Dasein eines gegebenen
Tieres sich erklären, - aus seiner Zeugung. Diese nämlich ist im Grunde
nicht geheimnisvoller, als der Erfolg jeder andern, sogar der einfachsten
Wirkung aus ihrer Ursache; indem auch bei einem solchen die Erklärung
zuletzt auf das Unbegreifliche stößt. Daß, bei der Zeugung, ein paar
Mittelglieder des Zusammenhangs mehr uns fehlen, ändert nichts Wesentliches:
denn, auch wenn wir sie hätten, ständen wir doch am Unbegreiflichen.
Alles, weil die Erscheinung Erscheinung bleibt und nicht zum Dinge an
sich wird. Das innere Wesen der Dinge ist dem Satz vom Grunde fremd. Es
ist das Ding an sich, und das ist lauterer Wille. Der ist, weil er will,
und will, weil er ist. Er ist in jedem Wesen das schlechthin Reale.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Die handgreifliche Thatsache der fossilen Muscheln, welche schon dem Eleaten
Xenophanes bekannt war, und von ihm, im allgemeinen, auch richtig ausgelegt
wurde, wird von Voltaire bestritten, geleugnet, ja für eine Chimäre
erklärt. (Man sehe Brandis` Comment. Eleaticae. p. 50 und Voltaire. Dict.
phil. art. coquille.) So groß nämlich war sein Widerwille irgend etwas
gelten zu lassen, was zu einer Bestätigung der Mosaischen Berichte, in
diesem Falle der Sintflut, auch nur verdreht werden könnte. Ein warnendes
Beispiel, wie sehr uns der Eifer irre führen kann, wenn wir Partei ergriffen
haben.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Das Leben läßt sich definieren als der Zustand eines Körpers, darin
er, unter beständigem Wechsel der Materie, seine ihm wesentliche (substanzielle)
Form allezeit behält. --- Wollte man mir einwenden, daß auch ein Wasserstrudel,
oder Wasserfall, seine Form, unter stetem Wechsel der Materie, behält;
so wäre zu antworten, daß bei diesen die Form durchaus nicht wesentlich,
sondern, allgemeine Naturgesetze befolgend, durch und durch zufällig
ist, indem sie von äußern Umständen abhängt, durch deren Veränderung
man auch die Form beliebig ändern kann, ohne dadurch das Wesentliche
anzutasten.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Physikalische Wahrheiten können viel äußere Bedeutsamkeit haben; aber
die Innere fehlt ihnen. Diese ist das Vorrecht der intellektuellen und
moralischen Wahrheiten, als welche die höchsten Stufen der Objektivation
des Willens zum Thema haben; während jene die niedrigsten. Z.B. wenn
wir Gewißheit darüber erlangten, daß, wie man jetzt nur mutmaßt, die
Sonne am Aequator Thermoelektrizität, diese den Magnetismus der Erde
und dieser das Polarlicht verursacht; so wären diese Wahrheiten von vieler
äußeren Bedeutsamkeit; an innerer aber arm. Beispiele von dieser letzteren
hingegen liefern nicht nur alle hohen und wahren geistigen Philosopheme,
sondern auch die Katastrophe jedes guten Trauerspiels, ja, auch die Beobachtung
des menschlichen Handelns in den extremen Aeußerungen der Moralität
und Immoralität desselben, also der Bosheit und Güte: denn in allem
diesen tritt das Wesen hervor, dessen Erscheinung die Welt ist, und legt,
auf der höchsten Stufe seiner Objektivation, sein Inneres zu Tage.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Man würde den lebenden tierischen Organismus ansehn können als eine
Maschine ohne primum mobile, eine Reihe von Bewegungen ohne Anfang, eine
Kette von Wirkungen und Ursachen, deren keine die erste wäre; wenn das
Leben seinen Gang ginge, ohne an die Außenwelt anzuknüpfen. Aber dieser
Anknüpfungspunkt ist der Atmungsprozeß; er ist das nächste und wesentlichste
Verbindungsglied mit der Außenwelt und gibt den ersten Anstoß. Daher
muß die Bewegung des Lebens als von ihm ausgehend und er als das erste
Glied der Kausalkette gedacht werden. Demnach tritt als erster Impuls,
also als erste äußere Ursach des Lebens, ein wenig Luft auf, welche,
eindringend und oxydierend, fernere Prozesse einleitet und so das Leben
zur Folge hat. Was nun aber dieser äußern Ursache von innen entgegenkommt,
gibt sich kund als heftiges Verlangen, ja, unaufhaltsamer Drang, zu atmen,
also unmittelbar als Wille. --- Die zweite äußere Ursach des Lebens
ist die Nahrung. Auch sie wirkt anfangs von außen, als Motiv, doch nicht
so dringend und ohne Aufschub zu gestatten, wie die Luft: erst im Magen
fängt ihre physiologische kausale Wirksamkeit an. - Liebig hat das Budget
der organischen Natur nachgerechnet und die Bilanz ihrer Ausgaben und
Einnahmen gezogen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn man, so im täglichen Umgange, von einem der vielen Leute, die alles
wissen möchten, aber nichts lernen wollen, über die Fortdauer nach dem
Tode befragt wird, ist wohl die passendste, auch zunächst richtigste
Antwort: "Nach deinem Tode wirst du sein, was du vor deiner Geburt
warst." Denn sie impliziert die Verkehrtheit der Forderung, daß
die Art von Existenz, welche einen Anfang hat, ohne Ende sein solle; zudem
aber enthält sie die Andeutung, daß es wohl zweierlei Existenz und,
dementsprechend, zweierlei Nichts geben möge. - Imgleichen jedoch könnte
man antworten: "Was immer du nach deinem Tode sein wirst, - und wäre
es nichts, - wird dir alsdann ebenso natürlich und angemessen sein, wie
es dir jetzt dein individuelles, organisches Dasein ist: also hättest
du höchstens den Augenblick des Uebergangs zu fürchten. Ja, da eine
reifliche Erwägung der Sache das Resultat ergibt, daß einem Dasein,
wie das unsrige, das gänzliche Nichtsein vorzuziehn sein würde; so kann
der Gedanke des Aufhörens unsrer Existenz, oder einer Zeit, da wir nicht
mehr wären, uns vernünftigerweise so wenig betrüben, wie der Gedanke,
daß wir nie geworden wären. Da nun dieses Dasein wesentlich ein persönliches
ist, so ist demnach auch das Ende der Persönlichkeit nicht als ein Verlust
anzusehn."
Dem hingegen, der, auf dem objektiven und empirischen Wege, dem plausibeln
Faden des Materialismus nachgegangen wäre und nun voll Schrecken über
die gänzliche Vernichtung durch den Tod, die ihm da entgegenstarrte,
sich an uns wendet, würden wir vielleicht auf die kürzeste und seiner
empirischen Auffassung entsprechende Weise Beruhigung verschaffen, wenn
wir ihm den Unterschied zwischen der Materie und der temporär sie in
Besitz nehmenden stets metaphysischen Kraft augenfällig nachwiesen, z.
B. am Vogelei, dessen so homogene, gestaltlose Flüssigkeit, sobald nur
die gehörige Temperatur hinzutritt, die so komplizierte und genau bestimmte
Gestalt der Gattung und Art seines Vogels annimmt. Gewissermaßen ist
dies doch eine Art generatio aequivoca: und höchst wahrscheinlich ist
dadurch, daß sie einst in der Urzeit und zur glücklichen Stunde, vom
Typus des Tieres, welchem das Ei angehörte, zu einem höhern übersprang,
die aufsteigende Reihe der Tierformen entstanden. Jedenfalls tritt hier
am augenscheinlichsten ein von der Materie Verschiedenes hervor, zumal
da es, beim geringsten ungünstigen Umstande, ausbleibt. Dadurch wird
fühlbar, daß es, nach vollbrachtem, oder später behindertem Wirken,
auch ebenso unversehrt von ihr weichen kann; welches denn auf eine ganz
anderartige Permanenz hindeutet, als das Beharren der Materie in der Zeit
ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn wir uns ein Wesen denken, welches alles erkennte, verstände und
übersähe; so würde die Frage, ob wir nach dem Tode fortdauern, für
dasselbe wahrscheinlich gar keinen Sinn haben: weil über unser jetziges
zeitliches, individuelles Dasein hinaus Fortdauern und Aufhören keine
Bedeutung mehr hätten und ununterscheidbare Begriffe wären; wonach auf
unser eigentliches und wahres Wesen, oder das in unsrer Erscheinung sich
darstellende Ding an sich, weder der Begriff des Untergangs, noch der
der Fortdauer Anwendung fände, da diese aus der Zeit entlehnt sind, welche
bloß die Form der Erscheinung ist*). — Wir inzwischen können die Unzerstörbarkeit
jenes Kerns unsrer Erscheinung uns nur als eine Fortdauer desselben denken
und zwar eigentlich nach dem Schema der Materie, als welche,
unter allen Veränderungen der Formen, in der Zeit beharrt. — Wird nun
demselben diese Fortdauer abgesprochen; so sehn wir unser zeitliches Ende
an als eine Vernichtung, nach dem Schema der Form, welche verschwindet,
wann ihr die sie tragende Materie entzogen wird. Beides ist jedoch eine
μεταβασις εις αλλο γενος, nämlich ein Uebertragen
der Formen der Erscheinung auf das Ding an sich. Von einer Unzerstörbarkeit
aber, die keine Fortdauer wäre, können wir kaum uns auch nur einen abstrakten
Begriff bilden; weil uns alle Anschauung, ihn zu belegen, mangelt.
In Wahrheit aber ist das beständige Entstehn neuer Wesen und Zunichtewerden
der vorhandenen anzusehn als eine Illusion, hervorgebracht durch den Apparat
zweier geschliffener Gläser (Gehirnfunktionen), durch die allein wir
etwas sehn können; sie heißen Raum und Zeit, und in ihrer Wechseldurchdringung
Kausalität**). Denn alles, was wir unter diesen Bedingungen wahrnehmen,
ist bloße Erscheinung; nicht aber erkennen wir die Dinge, wie sie an
sich selbst, d. h. unabhängig von unserer Wahrnehmung sein mögen. Dies
ist eigentlich der Kern der Kantischen Philosophie; an welche und ihren
Inhalt man nicht zu oft erinnern kann, nach einer Periode, wo feile Charlatanerie,
durch ihren Verdummungsprozeß, die Philosophie aus Deutschland vertrieben
hatte, unter williger Beihilfe der Leute, denen Wahrheit und Geist die
gleichgültigsten Dinge auf der Welt sind, hingegen Gehalt und Honorar
die wichtigsten.
*) Vermöge der Erkenntnisform der Zeit stellt der Mensch (d. i. die Bejahung
des Willens zum Leben auf ihrer höchsten Objektivationsstufe) sich dar
als ein Geschlecht stets von neuem geborener und dann sterbender Menschen.
**) Dasjenige Dasein, welches beim Tode des Individuums unbeteiligt bleibt,
hat nicht Zeit und Raum zur Form: alles für uns Reale erscheint aber
in diesen: daher also stellt der Tod sich uns als Vernichtung dar.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Wenn man, soweit es annäherungsweise möglich ist, die Summe von Not,
Schmerz und Leiden jeder Art sich vorstellt, welche die Sonne in ihrem
Laufe bescheint; so wird man einräumen, daß es viel besser wäre, wenn
sie auf der Erde so wenig, wie auf dem Monde, hätte das Phänomen des
Lebens hervorrufen können, sondern, wie auf diesem, so auch auf jener
die Oberfläche sich noch im kristallinischen Zustande befände. —
Man kann auch unser Leben auffassen als eine unnützerweise störende
Episode in der seligen Ruhe des Nichts. Jedenfalls wird selbst der, dem
es darin erträglicher ergangen, je länger er lebt, desto deutlicher
inne, daß es im ganzen a disappointment, nay, a cheat ist, oder deutsch
zu reden, den Charakter einer großen Mystifikation, nicht zu sagen einer
Prellerei, trägt. Wenn zwei Jugendfreunde, nach der Trennung eines ganzen
Menschenalters, sich als Greise wiedersehn; so ist das vorherrschende
Gefühl, welches ihr eigener Anblick, weil an ihn sich die Erinnerung
früherer Zeit knüpft, gegenseitig erregt, das des gänzlichen Disappointment
über das ganze Leben, als welches ehemals im rosigen Morgenlichte der
Jugend so schön vor ihnen lag, so viel versprach und so wenig gehalten
hat. Dies Gefühl herrscht bei ihrem Wiedersehn so entschieden vor, daß
sie gar nicht einmal nötig erachten, es mit Worten auszudrücken, sondern
es gegenseitig stillschweigend voraussetzend, auf dieser Grundlage weiter
sprechen. —
Wer zwei oder gar drei Generationen des Menschengeschlechts erlebt, dem
wird zu Mute, wie dem Zuschauer der Vorstellungen der Gaukler aller Art
in Buden, während der Messe, wenn er sitzen bleibt und eine solche Vorstellung
zwei oder dreimal hintereinander wiederholen sieht: die Sachen waren nämlich
nur auf eine Vorstellung berechnet, machen daher keine Wirkung mehr, nachdem
die Täuschung und die Neuheit verschwunden ist. ---
Man möchte toll werden, wenn man die überschwenglichen Anstalten betrachtet,
die zahllosen flammenden Fixsterne im unendlichen Raum, die nichts weiter
zu thun haben, als Welten zu beleuchten, die der Schauplatz der Not und
des Jammers sind und im glücklichsten Fall nichts abwerfen, als Langeweile;
— wenigstens nach dem uns bekannten Probestück zu urteilen. —
Sehr zu beneiden ist niemand, sehr zu beklagen unzählige. —
Das Leben ist ein Pensum zum Abarbeiten: in diesem Sinne ist defunctus
ein schöner Ausdruck. —
Man denke sich einmal, daß der Zeugungsakt weder ein Bedürfnis, noch
von Wollust begleitet, sondern eine Sache der reinen vernünftigen Ueberlegung
wäre: könnte wohl dann das Menschengeschlecht noch bestehn? würde nicht
vielmehr jeder so viel Mitleid mit der kommenden Generation gehabt haben,
daß er ihr die Last des Daseins lieber erspart, oder wenigstens es nicht
hätte auf sich nehmen mögen, sie kaltblütig ihr aufzulegen? ---
Die Welt ist eben die Hölle, und die Menschen sind einerseits die gequälten
Seelen und andrerseits die Teufel darin ---
Da werde ich wohl wieder vernehmen müssen, meine Philosophie sei trostlos;
— eben nur weil ich nach der Wahrheit rede, die Leute aber hören wollen,
Gott der Herr habe alles wohlgemacht. Geht in die Kirche und laßt die
Philosophen in Ruhe. Wenigstens verlangt nicht, daß sie ihre Lehren eurer
Abrichtung gemäß einrichten sollen: das thun die Lumpe, die Philosophasten:
bei denen könnt ihr euch Lehren nach Belieben bestellen. Dem obligaten
Optimismus der Philosophieprofessoren das Konzept zu verrücken ist so
leicht, wie angenehm. —
Brahma bringt durch eine Art Sündenfall, oder Verirrung, die Welt hervor,
bleibt aber dafür selbst darin, es abzubüßen, bis er sich daraus erlöst
hat. — Sehr gut! — Im Buddhaismus entsteht sie infolge einer, nach
langer Ruhe eintretenden, unerklärlichen Trübung in der Himmelsklarheit
des, durch Buße erlangten, seligen Zustandes Nirwana, also durch eine
Art Fatalität, die aber doch im Grunde moralisch zu verstehn ist; wiewohl
die Sache sogar im Physischen, durch das unerklärliche Entstehn so eines
Urweltnebelstreifs, aus dem eine Sonne wird, ein genau entsprechendes
Bild und Analogon hat. Danach aber wird sie, infolge moralischer Fehltritte,
auch physisch gradweise schlechter und immer schlechter, bis sie gegenwärtige
traurige Gestalt angenommen hat. — Vortrefflich! — Den Griechen waren
Welt und Götter das Werk einer unergründlichen Notwendigkeit: --- das
ist erträglich, sofern es uns einstweilen zufrieden stellt. — Ormuzd
lebt im Kampfe mit Ahriman: — das läßt sich hören. — Aber so ein
Gott Jehovah, der animi causa und de gaietè de coeur diese Welt der Not
und des Jammers hervorbringt und dann noch gar sich selber Beifall klatscht,
mit παντα καλα λιαν, — das ist nicht zu ertragen. Sehn
wir also in dieser Hinsicht die Judenreligion den niedrigsten Rang unter
den Glaubenslehren zivilisierter Völker einnehmen, so stimmt dies ganz
zu dem, daß sie auch die einzige ist, die durchaus keine Unsterblichkeitslehre,
noch irgend eine Spur davon hat. (S. den 8. Band dieser Gesamtausgabe
S. 134 ff.)
Wenn auch die Leibnizische Demonstration, daß unter den möglichen Welten
diese immer noch die beste sei, richtig wäre; so gäbe sie doch noch
keine Theodicee. Denn der Schöpfer hat ja nicht bloß die Welt, sondern
auch die Möglichkeit selbst geschaffen: er hätte demnach diese darauf
einrichten sollen, daß sie eine bessere Welt zuließe.
Ueberhaupt aber schreiet gegen eine solche Ansicht der Welt als des gelungenen
Werkes eines allweisen, allgütigen und dabei allmächtigen Wesens, zu
laut einerseits das Elend, dessen sie voll ist, und andrerseits die augenfällige
Unvollkommenheit und selbst burleske Verzerrung der vollendetesten ihrer
Erscheinungen, der menschlichen. Hier liegt eine nicht aufzulösende Dissonanz.
Hingegen werden eben jene Instanzen zu unsrer Rede stimmen und als Belege
derselben dienen, wenn wir die Welt auffassen als das Werk unserer eigenen
Schuld, mithin als etwas, das besser nicht wäre. Während dieselben,
unter jener ersten Annahme, zu einer bittern Anklage gegen den Schöpfer
werden und zu Sarkasmen Stoff geben, treten sie, unter der andern, als
eine Anklage unsers eigenen Wesens und Willens auf, geeignet uns zu demütigen.
Denn sie leiten uns zu der Einsicht hin, daß wir, wie die Kinder liederlicher
Väter, schon verschuldet auf die Welt gekommen sind und daß nur, weil
wir fortwährend diese Schuld abzuverdienen haben, unser Dasein so elend
ausfällt und den Tod zum Finale hat. Nichts ist gewisser, als daß, allgemein
ausgesprochen, die schwere Sünde der Welt es ist, welche das viele und
große Leiden der Welt herbeiführt; wobei hier nicht der physisch empirische,
sondern der metaphysische Zusammenhang gemeint ist. Dieser Ansicht gemäß
ist es allein die Geschichte vom Sündenfall, die mich mit dem Alten Testament
aussöhnt: sogar ist sie in meinen Augen die einzige metaphysische, wenn
auch im Gewande der Allegorie auftretende Wahrheit in demselben. Denn
nichts anderm sieht unser Dasein so völlig ähnlich, wie der Folge eines
Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. Ich kann mich nicht entbrechen,
dem denkenden Leser eine populäre, aber überaus innige Betrachtung über
diesen Gegenstand von Claudius zu empfehlen, welche den wesentlich pessimistischen
Geist des Christentums an den Tag legt: sie steht, unter dem Titel „Verflucht
sei der Acker um deinetwillen“, im 4. Teile des Wandsbecker Boten.
Um allezeit einen sichern Kompaß, zur Orientierung im Leben, bei der
Hand zu haben, und um dasselbe, ohne je irre zu werden, stets im richtigen
Lichte zu erblicken, ist nichts tauglicher, als daß man sich angewöhne,
diese Welt zu betrachten als einen Ort der Buße, also gleichsam als eine
Strafanstalt, a penal colony, — ein έργαστηριον, wie schon
die ältesten Philosophen sie nannten (Clem. Alex. Strom. l. lIl, e. 3,
p. 399) und unter den christlichen Vätern Origenes es mit lobenswerter
Kühnheit aussprach (Augustin. De civit. Dei, l. XI, e. 23); — welche
Ansicht derselben auch ihre theoretische und objektive Rechtfertigung
findet, nicht bloß in meiner Philosophie, sondern in der Weisheit aller
Zeiten, nämlich im Brahmanismus, im Buddhaismus *), beim Empedokles und
Pythagoras; wie denn auch Cicero (Fragmenta de philosophia; vol. 12. p.
316 ed. Bip.) anführt, daß von alten Weisen und bei der Einweihung in
die Mysterien gelehrt wurde, nos ob aliqua scelera suscepta in vita superiore,
poenarum luendarum causa natos esse. Am stärksten drückt es Vanini aus,
den es leichter war zu verbrennen, als zu widerlegen, indem er sagt: Tot,
tantisque homo repletus miseriis, ut si christianae religioni non repugnaret,
dicerc auderem: si daemones dantur, ipsi, in hominum corpora transmigrantes,
sceleris poenas luunt. (De admirandis naturae arcanis, dial. L, p. 353.)
Aber selbst im echten und wohlverstandenen Christentum wird unser Dasein
aufgefaßt als die Folge einer Schuld, eines Fehltritts. Hat man jene
Gewohnheit angenommen; so wird man seine Erwartungen vom Leben so stellen,
wie sie der Sache angemessen sind, und demnach die Widerwärtigkeiten,
Leiden, Plagen und Not desselben, im großen und im kleinen, nicht mehr
als etwas Regelwidriges und Unerwartetes ansehn, sondern ganz in der Ordnung
finden, wohl wissend, daß hier jeder für sein Dasein gestraft wird,
und zwar jeder auf seine Weise. Zu den Uebeln einer Strafanstalt gehört
denn auch die Gesellschaft, welche man daselbst antrifft. Wie es um diese
hieselbst stehe, wird wer irgendwie einer bessern würdig wäre auch ohne
mein Sagen wissen. Der schönen Seele nun gar, wie auch dem Genie, mag
bisweilen darin zu Mute sein, wie einem edlen Staatsgefangenen, auf der
Galeere, unter gemeinen Verbrechern; daher sie, wie dieser, suchen werden,
sich zu isolieren. Ueberhaupt jedoch wird die besagte Auffassung uns befähigen,
die sogenannten Unvollkommenheiten, d. h. die moralisch und intellektuell
und dem entsprechend auch physiognomisch nichtswürdige Beschaffenheit
der meisten Menschen, ohne Befremden, geschweige mit Entrüstung, zu betrachten:
denn wir werden stets im Sinne behalten, wo wir sind, folglich jeden ansehn
zunächst als ein Wesen, welches nur infolge seiner Sündhaftigkeit existiert,
dessen Leben die Abbüßung der Schuld seiner Geburt ist. Diese macht
eben das aus, was das Christentum die sündige Natur des Menschen nennt:
sie also ist die Grundlage der Wesen, welchen man in dieser Welt als seinesgleichen
begegnet; wozu noch kommt, daß sie, infolge der Beschaffenheit dieser
Welt, sich meistenteils, mehr oder weniger, in einem Zustande des Leidens
und der Unzufriedenheit befinden, der nicht geeignet ist, sie teilnehmender
und liebreicher zu machen, und endlich noch, daß ihr Intellekt, in den
allermeisten Fällen, ein solcher ist, wie er zum Dienste seines Willens
knapp ausreicht. Danach also haben wir unsere Ansprüche auf die Gesellschaft
in dieser Welt zu regeln. Wer diesen Gesichtspunkt festhält, könnte
den Trieb zur Geselligkeit eine verderbliche Neigung nennen.
In der That ist die Ueberzeugung, daß die Welt, also auch der Mensch,
etwas ist, das eigentlich nicht sein sollte, geeignet, uns mit Nachsicht
gegeneinander zu erfüllen: denn was kann man von Wesen unter solchem
Prädikament erwarten? — Ja, von diesem Gesichtspunkt aus könnte man
auf den Gedanken kommen, daß die eigentlich passende Anrede zwischen
Mensch und Mensch, statt Monsieur, Sir, u.s.w., sein möchte „Leidensgefährte,
Soci malorum, compagnon de misères, my fellow-sufferer“. So seltsam
dies klingen mag; so entspricht es doch der Sache, wirft auf den Andern
das richtigste Licht und erinnert an das Nötigste, an die Toleranz, Geduld,
Schonung und Nächstenliebe, deren jeder bedarf und die daher auch jeder
schuldig ist.
*) Zur Geduld im Leben und dem gelassenen Ertragen der Uebel und der Menschen
kann nichts tauglicher sein als eine buddhaistische Erinnerung dieser
Art: „Dies ist Sansara: die Welt des Gelüstes und Verlangens, und daher
die Welt der Geburt, der Krankheit, des Alterns und Sterbens: es ist die
Welt, welche nicht sein sollte. Und dies hier ist die Bevölkerung der
Sansara. Was also könnt ihr Besseres erwarten?“ Ich möchte vorschreiben,
daß jeder sich dies täglich viermal mit Bewußtsein der Sache wiederholte.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Ungerechte, oder boshafte Handlungen sind, in Hinsicht auf den, der sie
ausübt, Anzeichen der Stärke seiner Bejahung des Willens zum Leben und
demnach der Ferne, in der von ihm noch das wahre Heil, die Verneinung
desselben, mithin die Erlösung von der Welt liegt, sonach auch der langen
Schule der Erkenntnis und des Leidens, die er noch durchzumachen hat,
bis er dahin gelangt. - In Hinsicht aber auf den, der durch jene Handlung
zu leiden hat, sind sie zwar physisch ein Uebel, hingegen metaphysisch
ein Gut und im Grunde eine Wohlthat, da sie beitragen, ihn seinem wahren
Heile entgegenzuführen.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Wenn, wie ich gesagt habe, jedes Menschenleben, im ganzen überblickt,
die Eigenschaften eines Trauerspiels zeigt und wir sehn, daß das Leben
in der Regel nichts anderes ist als eine Reihe fehlgeschlagener Hoffnungen,
vereitelter Entwürfe und zu spät erkannter Irrtümer, und an ihm der
traurige Vers seine Wahrheit behauptet:
till grief and old age, hand in hand,
Lead him to death and make him understand,
After a course so painful and so long,
That all his life he has been in the wrong
— so stimmt dies ganz und gar mit meiner Weltansicht überein, welche
das Dasein selbst betrachtet als etwas, das besser nicht wäre, als eine
Art Verirrung, von der die Erkenntnis desselben uns zurückbringen soll.
Der Mensch, ό άνϑρωπος, is in the wrong schon im allgemeinen,
sofern er da ist und Mensch ist: folglich ist es ganz dem entsprechend,
daß auch jeder individuelle Mensch, τις άνϑρωπος, sein Leben
überblickend, sich durchgängig in the wrong findet: daß er es im allgemeinen
einsehe, ist seine Erlösung, und dazu muß er damit anfangen, es im einzelnen
Fall, d. i. in seinem individuellen Lebenslauf zu erkennen. Denn quidquid
valet de genere. valet et de specie. ---
Das Leben ist durchaus anzusehn als eine strenge Lektion, die uns erteilt
wird, wenngleich wir, mit unsern auf ganz andere Zwecke angelegten Denkformen,
nicht verstehn können, wie wir haben dazu kommen können, ihrer zu bedürfen.
Demgemäß aber sollen wir auf unsere hingeschiedenen Freunde zurücksehn
mit Befriedigung, erwägend, daß sie ihre Lektion überstanden haben,
und mit dem herzlichen Wunsch, daß sie angeschlagen habe; und vom selben
Gesichtspunkt aus sollen wir unserm eigenen Tode entgegensehn, als einer
erwünschten und erfreulichen Begebenheit; — statt, wie meistens geschieht,
mit Zagen und Grausen. ---
Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Mensch erlangen
kann, ist ein heroischer Lebenslauf. Einen solchen führt der, welcher,
in irgend einer Art und Angelegenheit, für das Allen irgendwie zu gute
Kommende, mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft und am Ende siegt,
dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird. Dann bleibt er, am Schluß,
wie der Prinz im Re corvo des Gozzi, versteinert, aber in edler Stellung
und mit großmütiger Gebärde stehn*). Sein Andenken bleibt und wird
als das eines Heros gefeiert; sein Wille, durch Mühe und Arbeit, schlechten
Erfolg und Undank der Welt, ein ganzes Leben hindurch, mortifiziert, erlischt
in der Nirwana. (Carlyle hat in diesem Sinn geschrieben Hero worship.)
*) On meurt les armes à la main.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
Ein edler Charakter wird nicht leicht über sein eigenes Schicksal klagen;
vielmehr wird von ihm gelten, was Hamlet dem Horatio nachrühmt:
for thou hast been
As one, in suffering all, that suffers nothing.
(Denn du bist, während du alles zu leiden hattest, gewesen wie einer,
dem nichts widerfuhr.)
Und dies ist daraus zu verstehn, daß ein solcher, sein eigenes Wesen
auch in Andern erkennend und daher an ihrem Schicksale teilnehmend, rings
um sich, fast immer, noch härtere Lose als sein eigenes erblickt; weshalb
er zu einer Klage über dieses nicht kommen kann. Hingegen wird ein unedler
Egoist, der alle Realität auf sich selbst beschränkt und die Andern
als bloße Larven und Phantasmen ansieht, am Schicksal dieser keinen Teil
nehmen, sondern seinem eigenen seine ganze Teilnahme zuwenden; wovon denn
große Empfindlichkeit und häufige Klagen die Folge sind.
Eben jenes Sichwiedererkennen in der fremden Erscheinung, aus welchen,
wie ich oft nachgewiesen habe, zunächst Gerechtigkeit und Menschenliebe
hervorgehn, führt endlich zum Aufgeben des Willens; weil die Erscheinungen,
in denen dieser sich darstellt, so entschieden im Zustande des Leidens
sich befinden, daß wer sein Selbst auf sie alle ausdehnt es nicht ferner
wollen kann; - eben wie einer, der alle Lose der Lotterie nimmt, notwendig
großen Verlust erleiden muß. Die Bejahung des Willens setzt Beschränkung
des Selbstbewußtseins auf das eigene Individuum voraus und baut auf die
Möglichkeit eines günstigen Lebenslaufes aus der Hand des Zufalls.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Man hat die Frage aufgeworfen, was zwei Menschen, die in der Wildnis,
jeder ganz einsam, aufgewachsen wären und sich zum erstenmale begegneten,
thun würden: Hobbes, Pufendorf, Rousseau haben sie entgegengesetzt beantwortet.
Pufendorf glaubte, sie würden sich liebevoll entgegenkommen; Hobbes hingegen,
feindlich; Rousseau, sich schweigend vorübergehn. Alle drei haben recht
und unrecht: gerade da würde sich die unermeßliche Verschiedenheit angeborener
moralischer Disposition der Individuen in so hellem Lichte zeigen, daß
hier gleichsam der Maßstab und Gradmesser derselben wäre. Denn Menschen
gibt es, in denen der Anblick des Menschen sogleich ein feindliches Gefühl
aufregt, indem ihr Innerstes den Ausspruch thut: "Nicht-Ich"
--- Und andere gibt es, bei welchen jener Anblick sogleich freundliche
Teilnahme erregt; ihr Inneres sagt: "Ich noch einmal!" - Dazwischen
liegen unzählige Grade. - Aber daß wir in diesem Hauptpunkt so grundverschieden
sind, ist ein großes Problem, ja ein Mysterium. Ueber diese Apriorität
des moralischen Charakters gibt zu mannigfaltigen Betrachtungen Stoff
des Dänen Bastholm Buch: "Historische Nachrichten zur Kenntnis des
Menschen im rohen Zustande." Ihm selbst fällt auf, daß Geisteskultur
und moralische Güte der Nationen sich als ganz unabhängig voneinander
erweisen, indem die eine oft ohne die andere sich vorfindet. Wir werden
dies daraus erklären, daß die moralische Güte keineswegs aus der Reflexion
entspringt, deren Ausbildung von der Geisteskultur abhängt; sondern geradezu
aus dem Willen selbst, dessen Beschaffenheit angeboren ist und der an
sich selbst keiner Verbesserung durch Bildung fähig ist. Bastholm schildert
nun die meisten Nationen als sehr lasterhaft und schlecht: hingegen hat
er von einzelnen wilden Völkern die vortrefflichsten allgemeinen Charakterzüge
mitzuteilen: so von den Orotchysen, den Bewohnern der Insel Sawu, den
Tungusen und den Pelew-Insulanern. Da versucht er, das Problem zu lösen,
woher es komme, daß einzelne Völkerschaften so ausgezeichnet gut sind,
unter lauter bösen Nachbarn. Mir scheint, es könne daraus erklärt werden,
daß, da die moralischen Eigenschaften vom Vater erblich sind, in obigen
Fällen eine solche isolierte Völkerschaft aus einer Familie entstanden,
mithin demselben Ahnherrn, der gerade ein guter Mann war, entsprossen
ist und sich unvermischt erhalten hat. Haben doch auch, bei mancherlei
unangenehmen Anlassen, wie Staatsschulden-Repudiationen, Raubzügen u.
s. w., die Engländer den Nordamerikanern ins Gedächtnis gerufen, daß
sie von einer englischen Verbrecherkolonie abstammen; --- wiewohl dies
nur von einem geringen Teil derselben gelten kann.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Im Reiche der Wirklichkeit, so schön, glücklich und anmutig sie auch
ausgefallen sein mag, bewegen wir uns doch stets nur unter dem Einfluß
der Schwere, welche unaufhörlich zu überwinden ist: hingegen sind wir,
im Reiche der Gedanken, unkörperliche Geister, ohne Schwere und ohne
Not. Daher kommt kein Glück auf Erden dem gleich, welches ein schöner
und fruchtbarer Geist, zur glücklichen Stunde, in sich selbst findet.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Der Mythos von der Seelenwanderung ist so sehr der gehaltreichste, bedeutendeste,
der philosophischen Wahrheit am nächsten stehende, von allen Mythen,
die je ersonnen worden, daß ich ihn für das non plus ultra der mythischen
Darstellung halte. Daher auch haben ihn Pythagoras und Platon verehrt
und angewandt: und das Volk, bei welchem er als Volksglaube allgemein
herrscht und auf das Leben entschiedenen Einfluß hat, ist eben deshalb
als das mündigste anzusehn, wie es auch das älteste ist.
Arthur Schopenhauer 1788 - 1860
Hinweisung auf die Ethik.
Die Bestätigungen der übrigen Teile meiner Lehre bleiben, aus im Eingang
angeführten Gründen, von meiner heutigen Aufgabe ausgeschlossen. Jedoch
sei mir am Schluß eine ganz allgemeine Hinweisung auf die Ethik vergönnt.
Von jeher haben alle Völker erkannt, daß die Welt, außer ihrer physischen
Bedeutung, auch noch eine moralische hat. Doch ist es überall nur zu
einem undeutlichen Bewußtsein der Sache gekommen, welches, seinen Ausdruck
suchend, sich in mancherlei Bilder und Mythen kleidete. Dies sind die
Religionen. Die Philosophen ihrerseits sind allezeit bemüht gewesen,
ein klares Verständnis der Sache zu erlangen, und ihre sämtlichen Systeme,
mit Ausnahme der streng materialistischen, stimmen, bei aller ihrer sonstigen
Verschiedenheit, darin überein, daß das Wichtigste, ja allein Wesentliche
des ganzen Daseins, das, worauf alles ankommt, die eigentliche Bedeutung,
der Wendepunkt, die Pointe (sit venia verbo) desselben, in der Moralität
des menschlichen Handelns liege. Aber über den Sinn hievon, über die
Art und Weise, über die Möglichkeit der Sache, sind sie sämtlich wieder
höchst uneinig und haben einen Abgrund von Dunkelheit vor sich. Da ergibt
sich, daß Moral=Predigen leicht, Moral=Begründen schwer ist. Eben weil
jener Punkt durch das Gewissen festgestellt ist, wird er zum Probierstein
der Systeme; indem von der Metaphysik mit Recht verlangt wird, daß sie
die Stütze der Ethik sei: und nun entsteht das schwere Problem, aller
Erfahrung zuwider, die physische Ordnung der Dinge als von einer moralischen
abhängig nachzuweisen, einen Zusammenhang aufzufinden zwischen der Kraft,
die, nach ewigen Naturgesetzen wirksam, der Welt Bestand erteilt, und
der Moralität in der menschlichen Brust. Hier sind daher auch die Besten
gescheitert: Spinoza klebt bisweilen vermittelst Sophismen eine Tugendlehre
an seinen fatalistischen Pantheismus, noch öfter aber läßt er die Moral
gar arg im Stich. Kant läßt, nachdem die theoretische Vernunft am Ende
ist, seinen, aus bloßen Begriffen herausgeklaubten*) kategorischen Imperativ
als Deus ex machina auftreten mit einem absoluten Soll, dessen Fehler
recht deutlich wurde, als Fichte, der immer Ueberbieten für Uebertreffen
hielt, dasselbe, mit Christian-Wolffischer Breite und Langweiligkeit,
zu einem kompletten System des moralischen Fatalismus ausspann, in seinem
„System der Sittenlehre“, und dann es kürzer darlegte in seinem letzten
Pamphlet 1810. „Die Wissenschaftslehre im allgemeinen Umrisse“.
Von diesem Gesichtspunkt aus hat nun doch wohl unleugbar ein System, welches
die Realität alles Daseins und die Wurzel der gesamten Natur in den Willen
legt und in diesem das Herz der Welt nachweist, wenigstens ein starkes
Präjudiz für sich. Denn es erreicht auf geradem und einfachem Wege,
ja, hält schon, ehe es an die Ethik geht, dasjenige in der Hand, was
die andern erst auf weitaussehenden und stets mißlichen Umwegen zu erreichen
suchen. Auch ist es wahrlich nimmermehr zu erreichen, als mittelst der
Einsicht, daß die in der Natur treibende und wirkende Kraft, welche unserm
Intellekt diese anschauliche Welt darstellt, identisch ist mit dem Willen
in uns. Nur die Metaphysik ist wirklich und unmittelbar die Stütze der
Ethik, welche schon selbst ursprünglich ethisch ist, aus dem Stoffe der
Ethik, dem Willen, konstruiert ist; weshalb ich, mit viel besserem Recht,
meine Metaphysik hätte „Ethik“ betiteln können, als Spinoza, bei
dem dies fast wie Ironie aussieht und sich behaupten ließe, daß sie
den Namen wie lucus a non lucendo führt, da er nur durch Sophismen die
Moral einem System anheften konnte, aus welchem sie konsequent nimmermehr
hervorgehn würde: auch verleugnet er sie meistens geradezu, mit empörender
Dreistigkeit (z. B. Eth. lV, prop. 37, Schol. 2). Ueberhanpt darf ich
kühn behaupten, daß nie ein philosophisches System so ganz aus einem
Stück geschnitten war, wie meines, ohne Fugen und Flickwerk. Es ist,
wie ich in der Vorrede zu demselben gesagt habe, die Entfaltung eines
einzigen Gedankens, wodurch das alte άπλους ό μυϑος της
αληϑειας εφυ sich abermals bestätigt. — Sodann ist hier
noch in Erwägung zu ziehn, daß Freiheit und Verantwortlichkeit, diese
Grundpfeiler aller Ethik, ohne die Voraussetzung der Aseität des Willens
sich wohl mit Worten behaupten, aber schlechterdings nicht denken lassen.
Wer dieses bestreiten will, hat zuvor das Axiom, welches schon die Scholastiker
aufstellten, operari sequitur esse (d. h. aus der Beschaffenheit jedes
Wesens folgt sein Wirken), umzustoßen, oder die Folgerung aus demselben,
unde esse inde operari, als falsch nachzuweisen. Verantwortlichkeit hat
Freiheit, diese aber Ursprünglichkeit zur Bedingung. Denn ich will je
nachdem ich bin: daher muß ich sein je nachdem ich will. Also ist Aseität
des Willens die erste Bedingung einer ernstlich gedachten Ethik, und mit
Recht sagt Spinoza: ea res libera dicetur, quae ex sola suae naturae necessitate
existit, et a se sola ad agendum determinatur (Eth. I, def. 7). Abhängigkeit
dem Sein und Wesen nach, verbunden mit Freiheit dem Thun nach, ist ein
Widerspruch. Wenn Prometheus seine Machwerke wegen ihres Thuns zur Rede
stellen wollte; so würden diese mit vollem Rechte antworten: „Wir konnten
nur handeln, je nachdem wir waren: denn aus der Beschaffenheit fließt
das Wirken. War unser Handeln schlecht, so lag das an unserer Beschaffenheit:
sie ist dein Werk: strafe dich selbst“**). Nicht anders steht es mit
der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod; welche ohne
Aseität desselben nicht ernstlich gedacht werden kann, wie auch schwerlich
ohne fundamentale Sonderung des Willens vom Intellekt. Der letztere Punkt
gehört meiner Philosophie an; den ersteren aber hat schon Aristoteles
(De coelo I, 12) gründlich dargethan, indem er ausführlich zeigt, daß
nur das Unentstandene unvergänglich sein kann, und daß beide Begriffe
einander bedingen: ταυτα αλληλοις αϰολουϑει, ϰαι
το τε αγενητον αφϑαρτον, ϰαι το αφϑαρτον
αγενητον. — — — το γαρ γενητον ϰαι το φϑαρτον
αϰολουϑουσιν αλληλοις. — — ει γενητον
τι, φϑαρτον αναγϰη (haec mutuo se sequuntur, atque ingenerabile
est incorruptibile, et incorruptibile ingenerabile. — — generabile
enim et corruptibile mutuo se sequuntur. — si generalbile est, et corruptibile
esse necesse est). So haben es auch, unter den alten Philosophen, alle
die, welche eine Unsterblichkeit der Seele lehrten, verstanden, und keinem
ist es in den Sinn gekommen, einem irgendwie entstandenen Wesen endlose
Dauer beilegen zu wollen. Von der Verlegenheit, zu der die entgegengesetzte
Annahme führt, zeugt in der Kirche die Kontroverse der Präexistentianer,
Kreatianer und Traducianer.
Ferner ist ein der Ethik verwandter Punkt der Optimismus aller philosophischen
Systeme, der, als obligat, in keinem fehlen darf: denn die Welt will hören,
daß sie löblich und vortrefflich sei, und die Philosophen wollen der
Welt gefallen. Mit mir steht es anders: ich habe gesehn was der Welt gefällt
und werde daher, ihr zu gefallen, keinen Schritt vom Pfade der Wahrheit
abgehn. Also weicht auch in diesem Punkt mein System von den übrigen
ab und steht allein. Aber nachdem jene sämtlich ihre Demonstrationen
vollendet und dazu ihr Lied von der besten Welt gesungen haben; da kommt
zuletzt, hinten im System, als ein später Rächer des Unbilds, wie ein
Geist aus den Gräbern, wie der steinerne Gast zum Don Juan, die Frage
nach dem Ursprung des Uebels, des ungeheueren, namenlosen Uebels, des
entsetzlichen, herzzerreißenden Jammers in der Welt: — und sie verstummen,
oder haben nichts als Worte, leere, tönende Worte, um eine so schwere
Rechnung abzuzahlen. Hingegen wenn schon in der Grundlage eines Systems
das Dasein des Uebels mit dem der Welt verwebt ist, da hat es jenes Gespenst
nicht zu fürchten; wie ein inokuliertes Kind nicht die Pocken. Dies aber
ist der Fall, wenn die Freiheit, statt in das operari, in das esse gelegt
wird und nun aus ihr das Böse, das Uebel und die Welt hervorgeht. —
Uebrigens aber ist es billig, mir, als einem Mann des Ernstes, zu gestatten,
daß ich nur von Dingen rede, die ich wirklich kenne, und nur Worte gebrauche,
mit denen ich einen ganz bestimmten Sinn verknüpfe; da nur ein solcher
sich andern mit Sicherheit mitteilen läßt, und Vauvenargues ganz recht
hat, zu sagen la clartè est la bonne foi des philosophes. Wenn ich also
sage „Wille, Wille zum Leben“; so ist das kein ens rationis, keine
von mir selbst gemachte Hypostase, auch kein Wort von ungewisser, schwankender
Bedeutung: sondern wer mich frägt, was es sei, den weise ich an sein
eigenes Inneres, wo er es vollständig, ja, in kolossaler Größe vorfindet,
als ein wahres ens realissimum. Ich habe demnach nicht die Welt aus dem
Unbekannten erklärt; vielmehr aus dem Bekanntesten, das es gibt, und
welches uns auf eine ganz andere Art bekannt ist, als alles übrige. Was
endlich das Paradoxe betrifft, welches den asketischen Resultaten meiner
Ethik vorgeworfen worden ist, an denen sogar der mich sonst so günstig
beurteilende Jean Paul Anstoß nahm, durch welche auch Herr Rätze (der
nicht wußte, daß gegen mich nur die Sekretierungsmethode die anwendbare
sei) veranlaßt wurde, im Jahr 1820 ein wohlgemeintes Buch gegen mich
zu schreiben, und die seitdem das stehende Thema des Tadels meiner Philosophie
geworden sind; so bitte ich zu erwägen, daß dergleichen nur in diesem
nordwestlichen Winkel des alten Kontinents, ja, selbst hier nur in protestantischen
Landen paradox heißen kann; hingegen im ganzen weiten Asien, überall
wo noch nicht der abscheuliche Islam mit Feuer und Schwert die alten tiefsinnigen
Religionen der Menschheit verdrängt hat, eher den Vorwurf der Trivialität
zu fürchten haben würde***). Ich getröste mich demnach, daß meine
Ethik, in Beziehung auf den Upanischad der heiligen Veden, wie auch auf
die Weltreligion Buddhas, völlig orthodox ist, ja, selbst mit dem alten,
echten Christentum nicht im Widerspruch steht. Gegen alle sonstigen Verketzerungen
aber bin ich gepanzert und habe dreifaches Erz um die Brust.
*) Siehe meine Preisschrift „Ueber die Grundlage der Moral“ § 6.
**) Vergl. Parerga Teil l, Erläuterungen zur Kantischen Philosophie.
***) Wer hierüber in der Kürze und doch vollständig belehrt sein will,
lese die vortreffliche Schrift des verstorbenen Pfarrers Bochinger: La
vie contemplative, ascètique et monastique chez les lndous et chez les
peuples Bouddhistes. Strasb. 1831.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Beiläufig sei hier meine Meinung ausgesprochen, daß dem Menschen
die weiße Hautfarbe nicht natürlich ist, sondern er von Natur schwarze,
oder braune Haut hat, wie unsere Stammväter die Hindu; daß folglich
nie ein weißer Mensch ursprünglich aus dem Schooße der Natur hervorgegangen
ist, und es also keine weiße Rasse giebt, so viel auch von ihr geredet
wird, sondern jeder weiße Mensch ein abgeblichener ist. In den ihm fremden
Norden gedrängt, wo er nur so besteht, wie die exotischen Pflanzen, und,
wie diese, im Winter des Treibhauses bedarf, wurde der Mensch, im Laufe
der Jahrtausende, weiß. Die Zigeuner, ein Indischer, erst seit ungefähr
vier Jahrhunderten eingewanderter Stamm, zeigen den Uebergang von der
Komplexion der Hindu zur unsrigen*). In der Geschlechtsliebe strebt daher
die Natur zum dunkeln Haar und braunen Auge, als zum Urtypus, zurück:
die weiße Hautfarbe aber ist zur zweiten Natur geworden; wiewohl nicht
so, daß die braune der Hindu uns abstieße. [...]
*) Das Ausführlichere hierüber findet man in Parerga, Bd. 2, §. 92
der ersten Auflage. (2. Aufl. S. 167 – 170.)
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Aus dem großen Uebergewicht des Gehirns beim Menschen erklärt
sich, daß er wenigere Instinkte hat, als die Thiere, und daß selbst
diese wenigen leicht irre geleitet werden können. Nämlich der die Auswahl
zur Geschlechtsbefriedigung instinktiv leitende Schönheitssinn wird irre
geführt, wenn er in Hang zur Päderastie ausartet; Dem analog, wie die
Schmeißfliege (Musca vomitoria), statt ihre Eier, ihrem Instinkt gemäß,
in faulendes Fleisch zu legen, sie in die Blüthe des Arum dracunculus
legt, verleitet durch den kadaverosen Geruch dieser Pflanze.
Daß nun aller Geschlechtsliebe ein durchaus auf das zu Erzeugende gerichteter
Instinkt zum Grunde liegt, wird seine volle Gewißheit durch genauere
Zergliederung desselben erhalten, der wir uns deshalb nicht entziehen
können. – Zuvörderst gehört hieher, daß der Mann von Natur
zur Unbeständigkeit in der Liebe, das Weib zur Beständigkeit geneigt
ist. Die Liebe des Mannes sinkt merklich, von dem Augenblick an, wo sie
Befriedigung erhalten hat: fast jedes andere Weib reizt ihn mehr als das,
welches er schon besitzt: er sehnt sich nach Abwechselung. Die Liebe des
Weibes hingegen steigt von eben jenem Augenblick an. Dies ist eine Folge
des Zwecks der Natur, welche auf Erhaltung und daher auf möglichst starke
Vermehrung der Gattung gerichtet ist. Der Mann nämlich kann, bequem,
über hundert Kinder im Jahre zeugen, wenn ihm eben so viele Weiber zu
Gebote stehen; das Weib hingegen könnte, mit noch so vielen Männern,
doch nur ein Kind im Jahr (von Zwillingsgeburten abgesehen) zur Welt bringen.
Daher sieht er sich stets nach andern Weibern um; sie hingegen hängt
fest dem Einen an: denn die Natur treibt sie, instinktmäßig und ohne
Reflexion, den Ernährer und Beschützer der künftigen Brut zu erhalten.
Demzufolge ist die eheliche Treue dem Manne künstlich, dem Weibe natürlich,
und also Ehebruch des Weibes, wie objektiv, wegen der Folgen, so auch
subjektiv, wegen der Naturwidrigkeit, viel unverzeihlicher, als der des
Mannes. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Die ganze hier abgehandelte Metaphysik der Liebe steht mit meiner
Metaphysik überhaupt in genauer Verbindung, und das Licht, welches sie
auf diese zurückwirft, läßt sich in Folgendem resumiren.
Es hat sich ergeben, daß die sorgfältige und durch unzählige Stufen
bis zur leidenschaftlichen Liebe steigende Auswahl bei der Befriedigung
des Geschlechtstriebes auf dem höchst ernsten Antheil beruht, welchen
der Mensch an der speciellen persönlichen Beschaffenheit des kommenden
Geschlechtes nimmt. Dieser überaus merkwürdige Antheil nun bestätigt
zwei in den vorhergegangenen Kapiteln dargethane Wahrheiten: 1) Die
Unzerstörbarkeit des Wesens an sich des Menschen, als welches in jenem
kommenden Geschlechte fortlebt. Denn jener so lebhafte und eifrige, nicht
aus Reflexion und Vorsatz, sondern aus dem innersten Zuge und Triebe unsers
Wesens entspringende Antheil könnte nicht so unvertilgbar vorhanden seyn
und so große Macht über den Menschen ausüben, wenn dieser absolut vergänglich
wäre und ein von ihm wirklich und durchaus verschiedenes Geschlecht bloß
der Zeit nach auf ihn folgte. 2) Daß sein Wesen an sich mehr in
der Gattung als im Individuo liegt. Denn jenes Interesse an der speciellen
Beschaffenheit der Gattung, welches die Wurzel aller Liebeshändel, von
der flüchtigsten Neigung bis zur ernstlichsten Leidenschaft ausmacht,
ist Jedem eigentlich die höchste Angelegenheit, nämlich die, deren Gelingen
oder Mißlingen ihn am empfindlichsten berührt; daher sie vorzugsweise
die Herzensangelegenheit genannt wird: auch wird diesem Interesse, wann
es sich stark und entschieden ausgesprochen hat, jedes bloß die eigene
Person betreffende nachgesetzt und nöthigenfalls aufgeopfert. Dadurch
also bezeugt der Mensch, daß ihm die Gattung näher liegt, als das Individuum,
und er unmittelbarer in Jener, als in Diesem lebt. – Warum demnach
hängt der Verliebte mit gänzlicher Hingebung an den Augen seiner Auserkorenen
und ist bereit, ihr jedes Opfer zu bringen? – Weil sein unsterblicher
Theil es ist, der nach ihr verlangt; nach allem Sonstigen immer nur der
sterbliche. – Jenes lebhafte oder gar inbrünstige, auf ein bestimmtes
Weib gerichtete Verlangen ist sonach ein unmittelbares Unterpfand der
Unzerstörbarkeit des Kerns unsers Wesens und seines Fortbestandes in
der Gattung. Diesen Fortbestand nun aber für etwas Geringfügiges und
Ungenügendes zu halten, ist ein Irrthum, der daraus entspringt, daß
man unter dem Fortleben der Gattung sich nichts weiter denkt, als das
künftige Daseyn uns ähnlicher, jedoch in keinem Betracht mit uns identischer
Wesen, und dies wieder, weil man, von der nach Außen gerichteten Erkenntniß
ausgehend, nur die äußere Gestalt der Gattung, wie wir diese anschaulich
auffassen, und nicht ihr inneres Wesen in Betracht zieht. Dieses innere
Wesen aber gerade ist es, was unserem eigenen Bewußtseyn, als dessen
Kern, zum Grunde liegt, daher sogar unmittelbarer, als dieses selbst ist
und, als Ding an sich, frei vom principio individuationis, eigentlich
das Selbe und Identische ist in allen Individuen, sie mögen neben, oder
nach einander daseyn. Dieses nun ist der Wille zum Leben, also gerade
Das, was Leben und Fortdauer so dringend verlangt. Dies eben bleibt demnach
vom Tode verschont und unangefochten. Aber auch: es kann es zu keinem
bessern Zustande bringen, als sein gegenwärtiger ist: mithin ist ihm,
mit dem Leben, das beständige Leiden und Sterben der Individuen gewiß.
Von diesem es zu befreien, ist der Verneinung des Willens zum Leben vorbehalten,
als durch welche der individuelle Wille sich vom Stamm der Gattung losreißt
und jenes Daseyn in derselben aufgiebt. Für Das, was er sodann ist, fehlt
es uns an Begriffen, ja, an allen Datis zu solchen. Wir können es nur
bezeichnen als Dasjenige, welches die Freiheit hat, Wille zum Leben zu
seyn, oder nicht. Für den letztern Fall bezeichnet der Buddhaismus es
mit dem Worte Nirwana, dessen Etymologie in der Anmerkung zum Schlusse
des 41. Kapitels gegeben worden. Es ist der Punkt, welcher aller
menschlichen Erkenntniß, eben als solcher, auf immer unzugänglich bleibt. –
Wenn wir nun, vom Standpunkte dieser letzten Betrachtung aus, in das Gewühl
des Lebens hineinschauen, erblicken wir Alle mit der Noth und Plage desselben
beschäftigt, alle Kräfte anstrengend, die endlosen Bedürfnisse zu befriedigen
und das vielgestaltete Leiden abzuwehren, ohne jedoch etwas Anderes dafür
hoffen zu dürfen, als eben die Erhaltung dieses geplagten, individuellen
Daseyns, eine kurze Spanne Zeit hindurch. Dazwischen aber, mitten in dem
Getümmel, sehen wir die Blicke zweier Liebenden sich sehnsüchtig begegnen: –
jedoch warum so heimlich, furchtsam und verstohlen? – Weil diese
Liebenden die Verräther sind, welche heimlich danach trachten, die ganze
Noth und Plackerei zu perpetuiren, die sonst ein baldiges Ende erreichen
würde, welches sie vereiteln wollen, wie ihres Gleichen es früher vereitelt
haben. Diese Betrachtung greift nun schon in das folgende Kapitel hinüber.
[...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Auf Seite 620 habe ich der Päderastie beiläufig erwähnt
und sie als einen irre geleiteten Instinkt bezeichnet. Dies schien mir,
als ich die zweite Auflage bearbeitete, genügend. Seitdem hat weiteres
Nachdenken über diese Verirrung mich in derselben ein merkwürdiges Problem,
jedoch auch dessen Lösung entdecken lassen. Diese setzt das vorstehende
Kapitel voraus, wirft aber auch wieder Licht auf dasselbe zurück, gehört
also zur Vervollständigung, wie zum Beleg der dort dargelegten Grundansicht.
An sich selbst betrachtet nämlich stellt die Päderastie sich dar als
eine nicht bloß widernatürliche, sondern auch im höchsten Grade widerwärtige
und Abscheu erregende Monstrosität, eine Handlung, auf welche allein
eine völlig perverse, verschrobene und entartete Menschennatur irgend
ein Mal hätte gerathen können, und die sich höchstens in ganz vereinzelten
Fällen wiederholt hätte. Wenden wir nun aber uns an die Erfahrung; so
finden wir das Gegentheil hievon: wir sehen nämlich dieses Laster, trotz
seiner Abscheulichkeit, zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt,
völlig im Schwange und in häufiger Ausübung. Allbekannt ist, daß dasselbe
bei Griechen und Römern allgemein verbreitet war, und ohne Scheu und
Schaam öffentlich eingestanden und getrieben wurde. Hievon zeugen alle
alten Schriftsteller, mehr als zur Genüge. Zumal sind die Dichter sammt
und sonders voll davon: nicht ein Mal der keusche Virgil ist auszunehmen
( Ecl. 2). Sogar den Dichtern der Urzeit, dem Orpheus (den deshalb
die Mänaden zerrissen) und dem Thamyris, ja, den Göttern selbst, wird
es angedichtet. Ebenfalls reden die Philosophen viel mehr von dieser,
als von der Weiberliebe: besonders scheint Platon fast keine andere zu
kennen, und eben so die Stoiker, welche sie als des Weisen würdig erwähnen
( Stob. ecl. eth., L. II, c. 7). Sogar dem Sokrates rühmt Platon,
im Symposion, es als eine beispiellose Heldenthat nach, daß er den, sich
ihm dazu anbietenden Alkibiades verschmäht habe. In Xenophons Memorabilien
spricht Sokrates von der Päderastie als einer untadelhaften, sogar lobenswerthen
Sache. (Stob. Flor.,
Vol. 1, p. 57.) Eben so in den Memorabilien (Lib. I, cab. 3, §.
8), woselbst Sokrates vor den Gefahren der Liebe warnt, spricht er so
ausschließlich von der Knabenliebe, daß man denken sollte, es gäbe
gar keine Weiber. Auch Aristoteles (Pol. II, 9) spricht von
der Päderastie als etwas Gewöhnlichem, ohne sie zu tadeln, führt an,
daß sie bei den Kelten in öffentlichen Ehren gestanden habe, und bei
den Kretern die Gesetze sie begünstigt hätten, als Mittel gegen Uebervölkerung,
erzählt (c. 10) die Männerliebschaft des Gesetzgebers Philolaos
u. s. w. Cicero sagt sogar: Apud Graecos opprobrio fuit adolescentibus,
si amatores non haberent. Für gelehrte Leser bedarf es hier überhaupt
keiner Belege: sie erinnern sich deren zu Hunderten: denn bei den Alten
ist Alles voll davon. Aber selbst bei den roheren Völkern, namentlich
bei den Galliern, war das Laster sehr im Schwange. Wenden wir uns nach
Asien, so sehen wir alle Länder dieses Welttheils, und zwar von den frühesten
Zeiten an, bis zur gegenwärtigen herab, von dem Laster erfüllt, und
zwar ebenfalls ohne es sonderlich zu verhehlen: Hindu und Chinesen nicht
weniger, als die Islamitischen Völker, deren Dichter wir ebenfalls viel
mehr mit der Knaben-, als mit der Weiberliebe beschäftigt finden; wie
denn z. B. im Gulistan des Sadi das Buch „von der Liebe“ ausschließlich
von jener redet. Auch den Hebräern war dies Laster nicht unbekannt; da
Altes und Neues Testament desselben als strafbar erwähnen. Im Christlichen
Europa endlich hat Religion, Gesetzgebung und öffentliche Meinung ihm
mit aller Macht entgegenarbeiten müssen: im Mittelalter stand überall
Todesstrafe darauf, in Frankreich noch im 16. Jahrhundert der Feuertod,
und in England wurde noch während des ersten Drittels dieses Jahrhunderts
die Todesstrafe dafür unnachläßlich vollzogen; jetzt ist es Deportation
auf Lebenszeit. So gewaltiger Maaßregeln also bedurfte es, um dem Laster
Einhalt zu thun; was denn zwar in bedeutendem Maaße gelungen ist, jedoch
keineswegs bis zur Ausrottung desselben; sondern es schleicht, unter dem
Schleier des tiefsten Geheimnisses, allezeit und überall umher, in allen
Ländern und unter allen Ständen, und kommt, oft wo man es am wenigsten
erwartete, plötzlich zu Tage. Auch ist es in den früheren Jahrhunderten,
trotz allen Todesstrafen, nicht anders damit gewesen: dies bezeugen die
Erwähnungen desselben und Anspielungen darauf in den Schriften aus allen
jenen Zeiten. – Wenn wir nun alles Dieses uns vergegenwärtigen
und wohl erwägen; so sehen wir die Päderastie zu allen Zeiten und in
allen Ländern auf eine Weise auftreten, die gar weit entfernt ist von
der, welche wir zuerst, als wir sie bloß an sich selbst betrachteten,
also a priori, vorausgesetzt hatten. Nämlich die gänzliche Allgemeinheit
und beharrliche Unausrottbarkeit der Sache beweist, daß sie irgendwie
aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht; da sie nur aus diesem Grunde
jederzeit und überall unausbleiblich auftreten kann als ein Beleg zu
dem
Naturam expelles furca, tamen usque recurret.
Dieser Folgerung können wir daher uns schlechterdings nicht entziehen,
wenn wir redlich verfahren wollen. Ueber diesen Thatbestand aber hinwegzugehen
und es beim Schelten und Schimpfen auf das Laster bewenden zu lassen,
wäre freilich leicht, ist jedoch nicht meine Art mit den Problemen fertig
zu werden; sondern meinem angeborenen Beruf, überall der Wahrheit nachzuforschen
und den Dingen auf den Grund zu kommen, auch hier getreu, erkenne ich
zunächst das sich darstellende und zu erklärende Phänomen, nebst der
unvermeidlichen Folgerung daraus, an. Daß nun aber etwas so von Grund
aus Naturwidriges, ja, der Natur gerade in ihrem wichtigsten und angelegensten
Zweck Entgegentretendes aus der Natur selbst hervorgehen sollte, ist ein
so unerhörtes Paradoxon, daß dessen Erklärung sich als ein schweres
Problem darstellt, welches ich jedoch jetzt, durch Aufdeckung des ihm
zum Grunde liegenden Naturgeheimnisses lösen werde.
Zum Ausgangspunkt diene mir eine Stelle des Aristoteles in Polit., VII, 16. –
Daselbst setzt er auseinander, erstlich: daß zu junge Leute schlechte,
schwache, mangelhafte und klein bleibende Kinder zeugen; und weiterhin,
daß das Selbe von den Erzeugnissen der zu alten gilt: τα γαρ των
πρεσβυτερων εχγονα, καϑαπερ τα των υεωτερων,
ατελη γιγνεται, και τοις σωμασι, και ταις
διανοιαις, τα δε των γεγηρακοτων ασϑενη
(nam, ut juniorum, ita et grandiorum natu foetus inchoatis atque imperfectis
corporibus mentibusque nascuntur: eorum vero, qui senio confecti sunt,
suboles infirma et imbecilla est.) Was nun dieserhalb Aristoteles als
Regel für den Einzelnen, das stellt Stobäos als Gesetz für die Gemeinschaft
auf, am Schlusse seiner Darlegung der peripatetischen Philosophie ( Ecl.
eth., L. II, c. 7 in fine): προς την ρωμην των
σωματων και τελειοτητα δειv μητε νεωτερων
αγαv, μητε πρεσβυτεϱων τους γαμους ποιεισϑαι,
ατελη γαρ γιγvεσϑαι, κατ' αμφοτεϱας τας
ἡλικιας, και τελειως ασϑενη τα εκγονα
(oportet, corporum roboris et perfectionis causa, nec juniores justo,
nec seniores matrimonio jungi, quia circa utramque aetatem proles fieret
imbecillis et imperfecta). Aristoteles schreibt daher vor, daß, wer 54 Jahr
alt ist, keine Kinder mehr in die Welt setzen soll; wiewohl er den Beischlaf
noch immer, seiner Gesundheit, oder sonst einer Ursache halber, ausüben
mag. Wie Dies zu bewerkstelligen sei, sagt er nicht: seine Meinung geht
aber offenbar dahin, daß die in solchem Alter erzeugten Kinder durch
Abortus wegzuschaffen sind; da er diesen, wenige Zeilen vorher, anempfohlen
hat. – Die Natur nun ihrerseits kann die der Vorschrift des Aristoteles
zum Grunde liegende Thatsache nicht leugnen, aber auch nicht aufheben.
Denn, ihrem Grundsatz natura non facit saltus zufolge, konnte sie die
Saamenabsonderung des Mannes nicht plötzlich einstellen; sondern auch
hier, wie bei jedem Absterben, mußte eine allmälige Deterioration vorhergehen.
Die Zeugung während dieser nun aber würde schwache, stumpfe, sieche,
elende und kurzlebende Menschen in die Welt setzen. Ja, sie thut es nur
zu oft: die in späterm Alter erzeugten Kinder sterben meistens früh
weg, erreichen wenigstens nie das hohe Alter, sind, mehr oder weniger,
hinfällig, kränklich, schwach, und die von ihnen Erzeugten sind von
ähnlicher Beschaffenheit. Was hier von der Zeugung im deklinirenden Alter
gesagt ist, gilt eben so von der im unreifen. Nun aber liegt der Natur
nichts so sehr am Herzen, wie die Erhaltung der Species und ihres ächten
Typus; wozu wohlbeschaffene, tüchtige, kräftige Individuen das Mittel
sind: nur solche will sie. Ja, sie betrachtet und behandelt (wie im Kapitel 41
gezeigt worden) im Grunde die Individuen nur als Mittel; als Zweck bloß
die Species. Demnach sehen wir hier die Natur, in Folge ihrer eigenen
Gesetze und Zwecke, auf einen mißlichen Punkt gerathen und wirklich in
der Bedrängniß. Auf gewaltsame und von fremder Willkür abhängige Auskunftsmittel,
wie das von Aristoteles angedeutete, konnte sie, ihrem Wesen zufolge,
unmöglich rechnen, und eben so wenig darauf, daß die Menschen, durch
Erfahrung belehrt, die Nachtheile zu früher und zu später Zeugung erkennen
und demgemäß ihre Gelüste zügeln würden, in Folge vernünftiger,
kalter Ueberlegung. Auf Beides also konnte, in einer so wichtigen Sache,
die Natur es nicht ankommen lassen. Jetzt blieb ihr nichts Anderes übrig,
als von zwei Uebeln das kleinere zu wählen. Zu diesem Zweck nun aber
mußte sie ihr beliebtes Werkzeug, den Instinkt, welcher, wie in vorstehendem
Kapitel gezeigt, das so wichtige Geschäft der Zeugung überall leitet
und dabei so seltsame Illusionen schafft, auch hier in ihr Interesse ziehen;
welches nun aber hier nur dadurch geschehen konnte, daß sie ihn irre
leitete (lui donna le change). Die Natur kennt nämlich nur das Physische,
nicht das Moralische: sogar ist zwischen ihr und der Moral entschiedener
Antagonismus. Erhaltung des Individui, besonders aber der Species, in
möglichster Vollkommenheit, ist ihr alleiniger Zweck. Zwar ist nun auch
physisch die Päderastie den dazu verführten Jünglingen nachtheilig;
jedoch nicht in so hohem Grade, daß es nicht von zweien Uebeln das kleinere
wäre, welches sie demnach wählt, um dem sehr viel größern, der Depravation
der Species, schon von Weitem auszuweichen und so das bleibende und zunehmende
Unglück zu verhüten.
Dieser Vorsicht der Natur zufolge stellt, ungefähr in dem von Aristoteles
angegebenen Alter, in der Regel eine päderastische Neigung sich leise
und allmälig ein, wird immer deutlicher und entschiedener, in dem Maaße,
wie die Fähigkeit, starke und gesunde Kinder zu zeugen, abnimmt. So veranstaltet
es die Natur. Wohl zu merken jedoch, daß von diesem eintretenden Hange
bis zum Laster selbst noch ein sehr weiter Weg ist. Zwar wenn, wie im
alten Griechenland und Rom, oder zu allen Zeiten in Asien, ihm kein Damm
entgegengesetzt ist, kann er, vom Beispiel ermuthigt, leicht zum Laster
führen, welches dann, in Folge hievon, große Verbreitung erhält. In
Europa hingegen stehen demselben so überaus mächtige Motive der Religion,
der Moral, der Gesetze und der Ehre entgegen, daß fast Jeder schon vor
dem bloßen Gedanken zurückbebt, und wir demgemäß annehmen dürfen,
daß unter etwan drei Hundert, welche jenen Hang spüren, höchstens Einer
so schwach und hirnlos seyn wird, ihm nachzugeben; um so gewisser, als
dieser Hang erst in dem Alter eintritt, wo das Blut abgekühlt und der
Geschlechtstrieb überhaupt gesunken ist, und er andererseits an der gereiften
Vernunft, an der durch Erfahrung erlangten Umsicht und vielfach geübten
Festigkeit so starke Gegner findet, daß nur eine von Haus aus schlechte
Natur ihm unterliegen wird.
Inzwischen wird der Zweck, den die Natur dabei hat, dadurch erreicht,
daß jene Neigung Gleichgültigkeit gegen die Weiber mit sich führt,
welche mehr und mehr zunimmt, zur Abneigung wird und endlich bis zum Widerwillen
anwächst. Hierin erreicht die Natur ihren eigentlichen Zweck um so sicherer,
als, je mehr im Manne die Zeugungskraft abnimmt, desto entschiedener ihre
widernatürliche Richtung wird. – Diesem entsprechend finden wir
die Päderastie durchgängig als ein Laster alter Männer. Nur solche
sind es, welche dann und wann, zum öffentlichen Skandal, darauf betroffen
werden. Dem eigentlich männlichen Alter ist sie fremd, ja, unbegreiflich.
Wenn ein Mal eine Ausnahme hievon vorkommt; so glaube ich, daß es nur
in Folge einer zufälligen und vorzeitigen Depravation der Zeugungskraft
seyn kann, welche nur schlechte Zeugungen liefern könnte, denen vorzubeugen,
die Natur sie ablenkt. Daher auch richten die in großen Städten leider
nicht seltenen Kinäden ihre Winke und Anträge stets an ältere Herren,
niemals an die im Alter der Kraft stehenden, oder gar an junge Leute.
Auch bei den Griechen, wo Beispiel und Gewohnheit hin und wieder eine
Ausnahme von dieser Regel herbeigeführt haben mag, finden wir von den
Schriftstellern, zumal den Philosophen, namentlich Platon und Aristoteles,
in der Regel, den Liebhaber ausdrücklich als ältlich dargestellt. Insbesondere
ist in dieser Hinsicht eine Stelle des Plutarch bemerkenswerth im Liber
amatorius, c. 5: Ὁ παιδικος ερως, οψε γεγονως,
και παρ ὡϱαν τῳ βιῳ, νοϑος και σκοτιος,
εξελαυνει τον γνησιον ερωτα και πρεσβυτερον.
(Puerorum amor, qui, quum
tarde in vita et intempestive, quasi spurius et occultus, exstitisset,
germanum et natu majorem amorem expellit.) Sogar unter den Göttern
finden wir nur die ältlichen, den Zeus und den Herakles, mit männlichen
Geliebten versehen, nicht den Mars, Apollo, Bachus, Merkur. – Inzwischen
kann im Orient der in Folge der Polygamie entstehende Mangel an Weibern
hin und wieder gezwungene Ausnahmen zu dieser Regel veranlassen: eben
so in noch neuen und daher weiberlosen Kolonien, wie Kalifornien u. s. w. –
Dem entsprechend nun ferner, daß das unreife Sperma, eben so wohl wie
das durch Alter depravirte, nur schwache, schlechte und unglückliche
Zeugungen liefern kann, ist, wie im Alter, so auch in der Jugend eine
erotische Neigung solcher Art zwischen Jünglingen oft vorhanden, führt
aber wohl nur höchst selten zum wirklichen Laster, indem ihr, außer
den oben genannten Motiven, die Unschuld, Reinheit, Gewissenhaftigkeit
und Verschämtheit des jugendlichen Alters entgegensteht.
Aus dieser Darstellung ergiebt sich, daß, während das in Betracht genommene
Laster den Zwecken der Natur, und zwar im Allerwichtigsten und ihr Angelegensten,
gerade entgegenzuarbeiten scheint, es in Wahrheit eben diesen Zwecken,
wiewohl nur mittelbar, dienen muß, als Abwendungsmittel größerer Uebel.
Es ist nämlich ein Phänomen der absterbenden und dann wieder der unreifen
Zeugungskraft, welche der Species Gefahr drohen: und wiewohl sie alle
Beide aus moralischen Gründen pausiren sollten; so war hierauf doch nicht
zu rechnen; da überhaupt die Natur das eigentlich Moralische bei ihrem
Treiben nicht in Anschlag bringt. Demnach griff die, in Folge ihrer eigenen
Gesetze, in die Enge getriebene Natur, mittelst Verkehrung des Instinkts,
zu einem Nothbehelf, einem Stratagem, ja, man möchte sagen, sie bauete
sich eine Eselsbrücke, um, wie oben dargelegt, von zweien Uebeln dem
größern zu entgehen. Sie hat nämlich den wichtigen Zweck im Auge, unglücklichen
Zeugungen vorzubeugen, welche allmälig die ganze Species depraviren könnten,
und da ist sie, wie wir gesehen haben, nicht skrupulös in der Wahl der
Mittel. Der Geist, in welchem sie hier verfährt, ist der selbe, in welchem
sie, wie oben, Kapitel 27, angeführt, die Wespen antreibt, ihre
Jungen zu erstechen: denn in beiden Fällen greift sie zum Schlimmen,
um Schlimmerem zu entgehen: sie führt den Geschlechtstrieb irre, um seine
verderblichsten Folgen zu vereiteln.
Meine Absicht bei dieser Darstellung ist zunächst die Lösung des oben
dargelegten auffallenden Problems gewesen; sodann aber auch die Bestätigung
meiner, im vorstehenden Kapitel ausgeführten Lehre, daß bei aller Geschlechtsliebe
der Instinkt die Zügel führt und Illusionen schafft, weil der Natur
das Interesse der Gattung allen andern vorgeht, und daß Dies sogar bei
der hier in Rede stehenden, widerwärtigen Verirrung und Ausartung des
Geschlechtstriebes gültig bleibt; indem auch hier, als letzter Grund,
die Zwecke der Gattung sich ergeben, wiewohl sie, in diesem Fall, bloß
negativer Art sind, indem die Natur dabei prophylaktisch verfährt. Diese
Betrachtung wirft daher auf meine gesammte Metaphysik der Geschlechtsliebe
Licht zurück. Ueberhaupt aber ist durch diese Darstellung eine bisher
verborgene Wahrheit zu Tage gebracht, welche bei aller ihrer Seltsamkeit,
doch neues Licht auf das innere Wesen, den Geist und das Treiben der Natur
wirft. Demgemäß hat es sich dabei nicht um moralische Verwarnung gegen
das Laster, sondern um das Verständniß des Wesens der Sache gehandelt.
Uebrigens ist der wahre, letzte, tief metaphysische Grund der Verwerflichkeit
der Päderastie dieser, daß, während der Wille zum Leben sich darin
bejaht, die Folge solcher Bejahung, welche den Weg zur Erlösung offen
hält, also die Erneuerung des Lebens, gänzlich abgeschnitten ist. –
Endlich habe ich auch, durch Darlegung dieser paradoxen Gedanken, den
durch das immer weitere Bekanntwerden meiner von ihnen so sorgfältig
verhehlten Philosophie jetzt sehr deconcertirten Philosophieprofessoren
eine kleine Wohlthat zufließen lassen wollen, indem ich ihnen Gelegenheit
eröffnete zu der Verläumdung, daß ich die Päderastie in Schutz genommen
und anempfohlen hätte.
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Die Wahrheit ist: wir sollen elend seyn, und sind's. Dabei ist die
Hauptquelle der ernstlichsten Uebel, die den Menschen treffen, der Mensch
selbst: homo homini lupus. Wer dies Letztere recht ins Auge faßt, erblickt
die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, daß
Einer der Teufel des Andern seyn muß; wozu denn freilich Einer vor dem
Andern geeignet ist, vor Allen wohl ein Erzteufel, in Gestalt eines Eroberers
auftretend, der einige Hundert Tausend Menschen einander gegenüberstellt
und ihnen zuruft: „Leiden und Sterben ist euere Bestimmung: jetzt schießt
mit Flinten und Kanonen auf einander los!“ und sie thun es. –
Ueberhaupt aber bezeichnen, in der Regel, Ungerechtigkeit, äußerste
Unbilligkeit, Härte, ja Grausamkeit, die Handlungsweise der Menschen
gegen einander: eine entgegengesetzte tritt nur ausnahmsweise ein. Hierauf
beruht die Nothwendigkeit des Staates und der Gesetzgebung und nicht auf
euern Flausen. Aber in allen Fällen, die nicht im Bereich der Gesetze
liegen, zeigt sich sogleich die dem Menschen eigene Rücksichtslosigkeit
gegen seines Gleichen, welche aus seinem gränzenlosen Egoismus, mitunter
auch aus Bosheit entspringt. Wie der Mensch mit dem Menschen verfährt,
zeigt z. B. die Negersklaverei, deren Endzweck Zucker und Kaffee
ist. Aber man braucht nicht so weit zu gehen: im Alter von fünf Jahren
eintreten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und von Dem an erst 10,
dann 12, endlich 14 Stunden täglich darin sitzen und die selbe
mechanische Arbeit verrichten, heißt das Vergnügen, Athem zu holen,
theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Millionen, und viele
andere Millionen haben ein analoges.
Uns Andere inzwischen vermögen geringe Zufälle vollkommen unglücklich
zu machen; vollkommen glücklich, nichts auf der Welt. Was man auch sagen
mag, der glücklichste Augenblick des Glücklichen ist doch der seines
Einschlafens, wie der unglücklichste des Unglücklichen der seines Erwachens. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Daher eben verlangt die Erklärung der Welt aus einem Anaxagorischen
νους, d. h. aus einem von Erkenntniß geleiteten Willen, zu ihrer
Beschönigung, nothwendig den Optimismus, der alsdann, dem laut schreienden
Zeugniß einer ganzen Welt voll Elend zum Trotz, aufgestellt und verfochten
wird. Da wird denn das Leben für ein Geschenk ausgegeben, während am
Tage liegt, daß Jeder, wenn er zum voraus das Geschenk hätte besehen
und prüfen dürfen, sich dafür bedankt haben würde; wie denn auch Lessing
den Verstand seines Sohnes bewunderte, der, weil er durchaus nicht in
die Welt hineingewollt hätte, mit der Geburtszange gewaltsam hineingezogen
werden mußte, kaum aber darin, sich eilig wieder davonmachte. Dagegen
wird dann wohl gesagt, das Leben solle, von einem Ende zum andern, auch
nur eine Lektion seyn, worauf aber Jeder antworten könnte: „so wollte
ich eben deshalb, daß man mich in der Ruhe des allgenugsamen Nichts gelassen
hätte, als wo ich weder Lektionen, noch sonst etwas nöthig hatte.“
Würde nun gar noch hinzugefügt, er solle einst von jeder Stunde seines
Lebens Rechenschaft ablegen; so wäre er vielmehr berechtigt, selbst erst
Rechenschaft zu fordern darüber, daß man ihn, aus jener Ruhe weg, in
eine so mißliche, dunkele, geängstete und peinliche Lage versetzt hat. –
Dahin also führen falsche Grundansichten. Denn das menschliche Daseyn,
weit entfernt den Charakter eines Geschenks zu tragen, hat ganz und gar
den einer kontrahirten Schuld. Die Einforderung derselben erscheint in
Gestalt der, durch jenes Daseyn gesetzten, dringenden Bedürfnisse, quälenden
Wünsche und endlosen Noth. Auf Abzahlung dieser Schuld wird, in der Regel,
die ganze Lebenszeit verwendet: doch sind damit erst die Zinsen getilgt.
Die Kapitalabzahlung geschieht durch den Tod. – Und wann wurde
diese Schuld kontrahirt? – Bei der Zeugung. –[...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Will man den Grad von Schuld, mit dem unser Daseyn selbst behaftet
ist, ermessen; so blicke man auf das Leiden, welches mit demselben verknüpft
ist. Jeder große Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt aus, was
wir verdienen: denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht
verdienten. Daß auch das Christenthum unser Daseyn in diesem Lichte erblickt,
bezeugt eine Stelle aus Luthers Kommentar zu Galat., c. 3, die mir
nur lateinisch vorliegt: Sumus autem nos omnes corporibus et rebus subjecti
Diabolo, et hospites sumus in mundo, cujus ipse princeps et Deus est.
Ideo panis, quem edimus, potus, quem bibimus, vestes, quibus utimur, imo
aër et totum quo vivimus in carne, sub ipsius imperio est. – Man
hat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie:
es liegt jedoch bloß darin, daß ich, statt als Aequivalent der Sünden
eine künftige Hölle zu fabeln, nachwies, daß wo die Schuld liegt, in
der Welt, auch schon etwas Höllenartiges sei: wer aber dieses leugnen
wollte, – kann es leicht ein Mal erfahren.
Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen,
welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher
jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung
eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntniß die Fähigkeit
Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten
Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist, –
dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als
die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität
ist schreiend. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Zuvörderst sei hier erwähnt, daß die Griechen, so weit sie auch
von der Christlichen und Hochasiatischen Weltansicht entfernt waren und
entschieden auf dem Standpunkt der Bejahung des Willens standen, dennoch
von dem Elend des Daseyns tief ergriffen waren. Dies bezeugt schon die
Erfindung des Trauerspiels, welche ihnen angehört. Einen andern Beleg
dazu giebt uns die, nachmals oft erwähnte, zuerst von Herodot (V, 4)
erzählte Sitte der Thrakier, den Neugeborenen mit Wehklagen zu bewillkommen,
und alle Uebel, denen er jetzt entgegengehe, herzuzählen; dagegen den
Todten mit Freude und Scherz zu bestatten, weil er so vielen und großen
Leiden nunmehr entgangen sei; welches in einem schönen, von Plutarch
(De audiend. poët. in fine) uns aufbehaltenen Verse, so lautet:
Τον φυντα ϑρηνειν, εις ὁσ' ερχεται κακα
Τον δ' αυ ϑανοντα και πονων πεπαυμενον
Χαιροντας ευφημουντας εκπεμπειν δομων.
(Lugere genitum, tanta qui intrarit mala:
At morte si quis finiisset miserias,
Hunc laude amicos atque laetita exsequi.)
Nicht historischer Verwandtschaft, sondern moralischer Identität der
Sache ist es beizumessen, daß die Mexikaner das Neugeborene mit den Worten
bewillkommneten: „Mein Kind, du bist zum Dulden geboren: also dulde,
leide und schweig.“ Und dem selben Gefühle folgend hat Swift (wie Walter
Scott in dessen Leben berichtet) schon früh die Gewohnheit angenommen,
seinen Geburtstag nicht als einen Zeitpunkt der Freude, sondern der Betrübniß
zu begehen, und an demselben die Bibelstelle zu lesen, in welcher Hiob
den Tag bejammert und verflucht, an welchem es in seines Vaters Hause
hieß: es sei ein Sohn geboren.
Bekannt und zum Abschreiben zu lang ist die Stelle in der Apologie des
Sokrates, wo Platon diesen weisesten der Sterblichen sagen läßt, daß
der Tod, selbst wenn er uns auf immer das Bewußtseyn raubte, ein wundervoller
Gewinn seyn würde, da ein tiefer, traumloser Schlaf jedem Tage, auch
des beglücktesten Lebens, vorzuziehen sei. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Aber ohne Mythos zu reden: so lange unser Wille der selbe ist, kann
unsere Welt keine andere seyn. Zwar wünschen Alle erlöst zu werden aus
dem Zustande des Leidens und des Todes: sie möchten, wie man sagt, zur
ewigen Seeligkeit gelangen, ins Himmelreich kommen; aber nur nicht auf
eigenen Füßen; sondern hingetragen möchten sie werden, durch den Lauf
der Natur. Allein das ist unmöglich. Daher wird sie zwar uns nie fallen
und zu nichts werden lassen: aber sie kann uns nirgends hinbringen, als
immer nur wieder in die Natur. Wie mißlich es jedoch sei, als ein Theil
der Natur zu existiren, erfährt Jeder an seinem eigenen Leben und Sterben. –
Demnach ist allerdings das Daseyn anzusehen als eine Verirrung, von welcher
zurückzukommen Erlösung ist: auch trägt es durchweg diesen Charakter.
In diesem Sinne wird es daher von den alten Samanäischen Religionen aufgefaßt,
und auch, wiewohl mit einem Umschweif, vom eigentlichen und ursprünglichen
Christenthum: sogar das Judenthum selbst enthält wenigstens im Sündenfall
(dieser seiner redeeming feature) den Keim zu solcher Ansicht. Bloß das
Griechische Heidenthum und der Islam sind ganz optimistisch; daher im
Ersteren die entgegengesetzte Tendenz sich wenigstens im Trauerspiel Luft
machen mußte: im Islam aber, der, wie die neueste, so auch die schlechteste
aller Religionen ist, trat sie als Sufismus
auf, diese sehr schöne Erscheinung, welche durchaus Indischen Geistes
und Ursprungs ist und jetzt schon über tausend Jahre fortbesteht. Als
Zweck unsers Daseyns ist in der That nichts Anderes anzugeben, als die
Erkenntniß, daß wir besser nicht dawären. Dies aber ist die wichtigste
aller Wahrheiten, die daher ausgesprochen werden muß; so sehr sie auch
mit der heutigen Europäischen Denkweise im Kontrast steht: ist sie doch
dagegen im ganzen nicht-islamisirten Asien die anerkannteste Grundwahrheit,
heute so gut, wie vor dreitausend Jahren.
Wenn wir nun den Willen zum Leben im Ganzen und objektiv betrachten; so
haben wir, dem Gesagten gemäß, ihn uns zu denken als in einem Wahn
begriffen, von welchem zurückzukommen, also sein ganzes vorhandenes Streben
zu verneinen, Das ist, was die Religionen als die Selbstverleugnung, abnegatio
sui ipsius, bezeichnen: denn das eigentliche Selbst ist der Wille zum
Leben. Die moralischen Tugenden, also Gerechtigkeit und Menschenliebe,
da sie, wie ich gezeigt habe, wenn lauter, daraus entspringen, daß der
Wille zum Leben, das principium individuationis durchschauend, sich selbst
in allen seinen Erscheinungen wiedererkennt, sind demzufolge zuvörderst
ein Anzeichen, ein Symptom, daß der erscheinende Wille in jenem Wahn
nicht mehr ganz fest befangen ist, sondern die Enttäuschung schon eintritt;
so, daß man gleichnißweise sagen könnte, er schlage bereits mit den
Flügeln, um davon zu fliegen. Umgekehrt, sind Ungerechtigkeit, Bosheit,
Grausamkeit, Anzeichen des Gegentheils, also der tiefsten Befangenheit
in jenem Wahn. Nächstdem aber sind jene moralischen Tugenden ein Beförderungsmittel
der Selbstverleugnung und demnach der Verneinung des Willens zum Leben.
Denn die wahre Rechtschaffenheit, die unverbrüchliche Gerechtigkeit,
diese erste und wichtigste Kardinaltugend, ist eine so schwere Aufgabe,
daß, wer sich unbedingt und aus Herzensgrunde zu ihr bekennt, Opfer zu
bringen hat, die dem Leben bald die Süße, welche das Genügen an ihm
erfordert, benehmen und dadurch den Willen von demselben abwenden, also
zur Resignation leiten. Sind doch eben was die Rechtschaffenheit ehrwürdig
macht die Opfer, welche sie kostet: in Kleinigkeiten wird sie nicht bewundert.
Ihr Wesen besteht eigentlich darin, daß der Gerechte die Lasten und Leiden,
welche das Leben mit sich bringt, nicht, durch List oder Gewalt, auf Andere
wälzt, wie es der Ungerechte thut, sondern selbst trägt, was ihm beschieden
ist; wodurch er die volle Last des dem Menschenleben aufgelegten Uebels
unvermindert zu tragen bekommt. Dadurch wird die Gerechtigkeit ein Beförderungsmittel
der Verneinung des Willens zum Leben, indem Noth und Leiden, diese eigentliche
Bestimmung des Menschenlebens, ihre Folge sind, diese aber zur Resignation
hinleiten. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
[...] Die, welche, mit Spinoza, leugnen, daß es außer dem Staat ein
Recht gebe, verwechseln die Mittel, das Recht geltend zu machen, mit dem
Rechte. Des Schutzes ist das Recht freilich nur im Staat versichert, aber
es selbst ist von diesem unabhängig vorhanden. Denn durch Gewalt kann
es bloß unterdrückt, nie aufgehoben werden. Demgemäß ist der Staat
nichts weiter als eine Schutzanstalt, nothwendig geworden durch die mannigfachen
Angriffe, welchen der Mensch ausgesetzt ist und die er nicht einzeln,
sondern nur im Verein mit Andern abzuwehren vermag. Sonach bezweckt der
Staat:
1) Zuvörderst Schutz nach Außen, welcher nöthig werden kann sowohl
gegen leblose Naturkräfte, oder auch wilde Thiere, als gegen Menschen,
mithin gegen andere Völkerschaften; wiewohl dieser Fall der häufigste
und wichtigste ist: denn der schlimmste Feind des Menschen ist der Mensch:
homo homini lupus. Indem, in Folge dieses Zwecks, die Völker den Grundsatz,
stets nur defensiv, nie aggressiv gegen einander sich verhalten zu wollen,
mit Worten, wenn auch nicht mit der That, aufstellen, erkennen sie das
Völkerrecht. Dieses ist im Grunde nichts Anderes, als das Naturrecht,
auf dem ihm allein gebliebenen Gebiet seiner praktischen Wirksamkeit,
nämlich zwischen Volk und Volk, als wo es allein walten muß, weil sein
stärkerer Sohn, das positive Recht, da es eines Richters und Vollstreckers
bedarf, nicht sich geltend machen kann. Demgemäß besteht dasselbe in
einem gewissen Grad von Moralität im Verkehr der Völker mit einander,
dessen Aufrechthaltung Ehrensache der Menschheit ist. Der Richterstuhl
der Processe auf Grund desselben ist die öffentliche Meinung.
2) Schutz nach Innen, also Schutz der Mitglieder eines Staates gegen einander,
mithin Sicherung des Privatrechts, mittelst Aufrechthaltung eines rechtlichen
Zustandes, welcher darin besteht, daß die koncentrirten Kräfte Aller
jeden Einzelnen schützen, woraus ein Phänomen hervorgeht, als ob Alle
rechtlich, d. h. gerecht wären, also Keiner den Andern verletzen
wollte.
Aber, wie durchgängig in menschlichen Dingen die Beseitigung eines Uebels
einem neuen den Weg zu eröffnen pflegt; so führt die Gewährung jenes
zwiefachen Schutzes das Bedürfniß eines dritten herbei, nämlich:
3) Schutz gegen den Beschützer, d. h. gegen Den, oder Die, welchen
die Gesellschaft die Handhabung des Schutzes übertragen hat, also Sicherstellung
des öffentlichen Rechtes. Diese scheint am vollkommensten dadurch erreichbar,
daß man die Dreieinigkeit der schützenden Macht, also die Legislative,
die Judikative und die Exekutive von einander sondert und trennt, so daß
jede von Andern und unabhängig von den übrigen verwaltet wird. –
Der große Werth, ja die Grundidee des Königthums scheint mir darin zu
liegen, daß, weil Menschen Menschen bleiben, Einer so hoch gestellt,
ihm so viel Macht, Reichthum, Sicherheit und absolute Unverletzlichkeit
gegeben werden muß, daß ihm für sich nichts zu wünschen, zu hoffen
und zu fürchten bleibt; wodurch der ihm, wie Jedem einwohnende Egoismus,
gleichsam durch Neutralisation, vernichtet wird, und er nun, gleich als
wäre er kein Mensch, befähigt ist, Gerechtigkeit zu üben und nicht
mehr sein, sondern allein das öffentliche Wohl im Auge zu haben. Dies
ist der Ursprung des gleichsam übermenschlichen Wesens, welches überall
die Königswürde begleitet und sie so himmelweit von der bloßen Präsidentur
unterscheidet. Daher muß sie auch erblich, nicht wählbar seyn: theils
damit Keiner im König seines Gleichen sehen könne; theils damit dieser
für seine Nachkommen nur dadurch sorgen kann, daß er für das Wohl des
Staates sorgt, als welches mit dem seiner Familie ganz Eines ist.
Wenn man dem Staat, außer dem hier dargelegten Zweck des Schutzes, noch
andere andichtet; so kann dies leicht den wahren in Gefahr setzen. [...]
Arthur Schopenhauer 1788 – 1860
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